Wiking Ehlert (Hrsg.) Sozialverträgliche Technikgestaltung und/oder Technisierung von Sachzwang? Sozialverträgliche Technikgestaltung Materialien und Berichte Band 33 Herausgeber: Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen Die Schriftenreihe "Sozialverträgliche Technikgestaltung" veröffentlicht Ergebnisse, Erfahrungen und Perspektiven des vom Ministerium fur Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nord rhein-Westfalen initiierten Programms "Mensch und Technik - Sozialverträgliche Technikgestal tung". Dieses Programm ist ein Bestandteil der "Initiative Zukunftstechnologien" des Landes, die seit 1984 der Förderung, Erforschung und sozialen Gestaltung von Zukunftstechnologien dient. Der technische Wandel im Feld der Mikroelektronik und der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien hat sich weiter beschleunigt. Die ökonomischen, sozialen und politischen Folgen durchdringen alle Teilbereiche der Gesellschaft. Neben positiven Entwick lungen zeichnen sich Gefahren ab, etwa eine wachsende technologische Arbeitslosigkeit und eine sozialunverträgliche Durchdringung der Gesellschaft mit elektronischen Medien und elek tronischer Inrormationsverarbeitung. Aber es bestehen Chancen, die Entwicklung zu steuern. Dazu bedarf es einer breiten öffentlichen Diskussion auf der Grundlage besserer Kenntnisse über die Problemzusammenhänge und Gestaltungsalternativen. Die Interessen aller vom tech nischen Wandel Betroffenen müssen angemessen berücksichtigt werden, die technische Entwicklung muß dem Sozialstaatspostulat verpflichtet bleiben. Es geht um sozialverträgliche Technikgestaltung. Die vorliegende Reihe "Sozialverträgliche Technikgestaltung. Materialien und Berichte" ist wie die parallel erscheinende Schriftenreihe "Sozialverträgliche Technikgestaltung" ein Angebot des Ministeriums fur Arbeit, Gesundheit und Soziales, Erkenntnisse und Einsichten zur Diskussion zu stellen. Es entspricht der Natur eines Diskussionsrorums, daß die Beiträge die Meinung der Autoren wiedergeben. Sie stimmen nicht unbedingt mit der Auffassung des Herausgebers überein. Wiking Ehlert (Hrsg.) Sozialverträgliche Technikgestaltung und/o der Technisierung von Sachzwang? Westdeutscher Verlag Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Sozialverträgliche Technikgestaltung und/oder Technisierung von Sachzwang? / Wiking Ehlert (Hrsg.). - Opladen: Westdt. Ver!., 1992 (Sozial verträgliche Technikgestaltung: Materialien und Berichte; Bd. Nr. 33) ISBN 978-3-531-12424-7 ISBN 978-3-322-94231-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-94231-9 NE: Ehlert, Wiking [Hrsg.]; Sozial verträgliche Technikgestaltung / Materialien und Berichte Alle Rechte vorbehalten © 1992 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann International. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrover filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Hansen Werbeagentur GmbH, Köln Gedruckt auf säurefreiem Papier ISBN 978-3-531-12424-7 Inhaltsverzeichnis Wiking Ehlert Die Notwendigkeit zu entscheiden reicht weiter als die Möglichkeit zu erkennen (Kant) ............................. 7 György Szill Neue Technologien und alte Technokratiedebatte. Anmerkungen zum Verhältnis von Technisierung, Sachzwang, Ermessensspielraum und Bürgerprotest .............. 29 Hartmut Hirsch-Kreinsen Voraussetzungen mr Arbeitnehmerhandeln bei industriellem Rechnereinsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 53 Ganther Ortmann Organisationsstruktur, Technologie, Mikropolitik. Zur Entwicklung betrieblicher Informationssysteme . . . . . . . . . . . . . .. 67 Ralph Greifenstein/Peter Jansen/Leo Kißler Ein Fall für sich: ~Sachzwang« CNC-Technik .................... 81 ThomasManz Betriebliche Sozialbeziehungen als Beharrungsfaktor in Innovationsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 91 Wiking Ehlert Technisierung der Demokratie, oder: Politisierung der Information .......................................... 105 6 Inhaltsverzeichnis Emst-Peter Schnabel Eigensinn oder Sachzwang? Forschungsfragen zur Anwendungslogik kurativer Technik ........................... 125 Uwe Schlliger/Karin Bergdoll Gestaltungskonkurrenz zwischen Sozialhilfeverwaltung und deren Klientel und Lösungsversuche bei Einführung neuer Informationstechnologien .............................. 137 H. Jargen Geldmeyer Soziale Gestaltungsbedingungen der öffentlichen Verwaltung bei technischen Modernisierungsmaßnahmen .......... 151 Wiking Ehlert/Dieter Kantel Administrativer Sachzwang gegen technisierte Sozialverwaltung und lokale Politik ........................... 167 Beate BlÜggemann/Rainer Riehle Betrieb als Sozialform: Die Macht der sozialen Regeln oder wider die Gestaltungseuphorie ...................... 185 Literaturverzeichnis ....................................... 201 Über die Autoren ......................................... 211 Wiking Ehlert Die Notwendigkeit zu entscheiden geht weiter als die Möglichkeit zu erkennen (Kant) Einleitung Der Philosoph trifft zielsicher theoretische Überlegungen und praktische Erfahrungen des Arbeitens und Lebens, die bei der Implementierung von Computern in Arbeitsprozesse ungeahnte Aktualität erhalten. Ihnen muß sich der Politiker, Unternehmer, Gewerkschaftler, Techniker und Sozialwis senschaftler stellen, will er eine sozialverträgliche Thchnisierung in Betrieb, Verwaltung und Gesellschaft auf den Weg bringen. Die Notwendigkeit, sich an allen Orten und in jedem Fall für den Compu ter zu entscheiden, ist in den letzten Jahrzehnten zu einern unhinterfragbaren Selbstläufer geworden. Dabei wurde stets davon ausgegangen, daß die Berei che, Thtigkeiten und Prozesse, in die der Computer eingreifen soll, analysiert und in ihrem Funktionieren vollständig begriffen sind. Die Folgen begrenzten Erkennens der Realität und die Rückwirkungen problematischer oder fal scher Voraussetzungen auf die Thchnisierung von Betrieb, Verwaltung und Gesellschaft sind nicht weiter in Augenschein genommen worden. Auf sie konzentriert sich der vorgelegte Sammelband. Sie sind es, so die zentrale These, die die technokratische wie die sozialverträgliche Thchnisierung von Arbeits-und Organisations prozessen behindern oder ganz unmöglich machen können. Folglich muß auch an sie konzeptionell und praktisch angeknüpft werden, soll statt aufgedrängter Akzeptanz der Neuen Thchnologien soziale und gesellschaftsverträgliche Mitgestaltung erreicht werden. 1. Sachzwang - Zwang welcher Sache? Jedermann ist einsichtig, daß der Problem-und Zeitdruck am Arbeitsplatz, im Berufs- und auch im Privatleben so erheblich ist, daß selten abgewartet wer den kann, bis alle Handlungsmöglichkeiten durchdacht sind. Entschieden muß sofort werden; Risiko zu tragen ist unerläßlich. Arbeiten und Leben umfassen immer einen Vorgriff auf das Ungewisse. Nur, was an Handlung am Arbeitsplatz und von dem Akteur zu verantwor ten ist, hängt nicht so sehr von dem ab, was er tun möchte. Die geforderten Qualifikationen, die hierarchische Position und die zu erfüllende Aufgabe schaffen einen festen Rahmen und geben die Grundlage für die Aktionen ab. 8 Wiking Ehlert Was über die Organisation, das Personal und das Programm für die Herstel lung förmlich festgelegt ist, erfährt der Beschäftigte als »Zielvorgabe«, }>Vor schrift«, })das läuft hier so« oder als )}das geht nicht anders« . Sein lebendiges Arbeitsvermögen ist als Arbeitskraft in technisch konzipierten Herstellungs prozessen, als Lückenfüller zwischen festgelegten Arbeiten und als Innova tionskraft zur Verbesserung der Arbeitsergebnisse gefragt. Wirklich persönlich zu verantworten ist davon nur ein kleiner Rest. Handeln heißt immer arbeiten unter Verhältnissen, die die Aktionen begrenzen. Man kann durchaus sagen: Je zukünftiger und grundsätzlicher die Zusam menhänge sind, an die gedacht werden müßte, je ungewisser ist, was von ihnen erkannt, analysiert und begriffen werden kann. Handlung ist folglich nicht nur grundsätzlich konditioniert, sie wird mit der Ausdehnung der Reflexionshori zonte immer problematischer. Dem einzelnen bleibt da nur die Strategie des sich DurchwursteIns (Dahl/Lindblom 1953; LindbIom 1979). Das umso mehr, als sich eine }}boun ded rationality« (Forester 1984) abzeichnet und die Möglichkeiten kollekti ven HandeIns (Ohlson 1968) in der Abfolge organisierter Beiträge einzelner Akteure im Geflecht der Unternehmen und Verwaltungen zu verschwinden scheinen (Argyris 1980). Was seit 30 Jahren die internationale Diskussion kennzeichnet, gilt auch heute noch. Von subjektiv bestimmter Handlung führt kein direkter Weg zu einer generellen und einheitlichen, d.h. einer rationalen Entscheidung (Elster 1987). Die in der Bundesrepublik gemachten Erfahrungen sprechen keine andere Sprache. Das Großraumbüro der Verwaltung sowie spezifische Thchnisie rungsformen waren und sind keinesfalls der Weisheit letzter Schluß (Pirker 1962; 1983). Der Versuch, })aktive Politik« gegen die selektive Perzeption und Negativ-Koordinierung administrativer Prozesse zu stellen (Scharpf 1973), ist nicht geglückt. Politisches Planen wird mehr denn je ideologisch abgelehnt und kann gegen die Strukturen der Administration nicht ankommen (Ehlert 1978; Fenner u.a. 1978). Die Implementierung politischer Programme ist ins Dickicht der Bürokratie geraten (Mayntz 1981; Wollmann 1979). Dll$ Fließband steht in Konkurrenz mit der autonomen Fertigungsinsel; Qualifikationsveränderungen am Arbeitsplatz werden mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Konsequenzen verbunden (Automation und Qualifikation 1980 ff.; Kern/Schumann 1984). Managementtheorien wandeln sich wie die Pariser Mode (Bernoux 1989). Von den Informationssystemen für das Mana gement der 70er Jahre spricht heute niemand mehr (Blume 1984). Vertrautes des Unternehmens scheint sich in Mikropolitik aufzulösen (Crozier/Friedberg 1979). Arbeitspolitik (Naschold/Jürgens 1983) soll den Weg aus der Klemme ökonomischer Verwertungsstrukturen und sozialer Entwicklung zeigen (Kern/Schumann 1984). Ohne rechte Zukunft scheint die Suche nach einem Wiking Ehlert 9 neuen historischen Subjekt (Gorz 1982; Thuraine 1982) oder nach einer neuen alternativen Rationalität (Guggenberger/Offe 1984) auszufallen. Subjektives zeigt sich weiter sperrig gegenüber Kollektivem (und umge kehrt). Statt subjektiver Rationalität, die sich wenigstens im großen und ganzen in Planung und Linearität der Entwicklungen zeigen müßte, herrscht Versuch und Irrtum verschiedener Akteure vor, die letztlich dem 'frend der Modernität und marktförmig hergestellter Rationalität folgen. Das System ist kaum zu schlagen (Lindbiom 1978). Woher der Druck zu Handeln und unter Ungewißheit zu entscheiden kommt, was ihn ausmacht, wie er sich in den Aktionen der Akteure breitmacht und zu welchen gemeinschaftlich hergestellten Ergebnissen er in und jenseits der Organisationen führt, ist damit noch nicht weiter angesprochen. Klar kann allenfalls werden, warum er den Akteuren nicht weiter auffällt. Solange die Akteure von den arbeitsteiligen Grundlagen ihrer Handlun gen und Entscheidungen absehen, mögen sie sich im Reich der Freiheit füh len. Sie werden die Restriktionen ihres Handeins, die ihnen über die Selekti vität ihrer Wahrnehmung, die Sozialität ihrer Position in den Organisationen und die Gesellschaftlichkeit des Arbeitens und Lebens in der Moderne stets mitgegeben sind, nicht weiter registrieren. All das, was ihnen aus der Eingren zung der Sicht auf eine Person und auf die gerade aktuelle Situation an Gesell schaftlichem entgegentritt, grenzen sie als irgendwie fremden und wenigstens teilweise gegen sie gerichteten Zwang aus ihren Überlegungen und Handlungs horizonten aus. Gesellschaftliches ist für den Akteur dysfunktionaler Zwang einer dem Einzelnen unbekannten Sache auf seine subjektive Freiheit zu handeln: Sachzwang. Diese (hauptsächlich) subjektive Perspektive hat die 'frennung aller Ar beits- als Erkenntnis-, Lern- und Gestaltungszusammenhänge zur Folge. Das gehört von Adorno bis Popper zu den grundlegenden Einsichten der Logik der Sozialwissenschaften (Thpitsch 1%8). Was, von der Handlungsseite aus gese hen, »Realität« des Lebens und Arbeitens im Rahmen einer eher abstrakt bleibenden Gesellschaft ist, zeigt sich, von jeder gesellschaftlichen Seite aus, als »Erscheinungsform« struktureller bzw. »gesellschaftlicher Verhältnisse« . Das Subjekt hängt nicht einfach dazwischen; vielmehr ist es ein schlechter Wandler zwischen Handlung und Sozialität. Es nimmt die gesellSChaftliche Seite als Eingrenzung der Interpretationshorizonte und deren Übersetzung zu »Störungen« und die »reale« Seite als Verkettung der Aktionen mit eigentlich »falschem Schein« der Gesellschaft hin. Dieser Mangel an gesellschaftlicher Interpretation wird durch die stillschweigende Annahme überbrückt, nach der die Realität aus gegenüber der Gesellschaft autonomen ~~sozialen Thtsachen« (Dürkheim) bestünde. Es kann sich dabei aber nur um eine »normative Fakti zität« handeln, weil jede Abweichung und jede soziale oder gesellschaftliche Erwägung die Notwendigkeit für den Akteur hervorruft, an den Fakten - und 10 Wiking Ehlert trotz anderer Möglichkeiten, sie zu verstehen - festhalten zu müssen. Die Thilung von Handlung und Sozialität endet also in der hermetischen Abtren nung der Wahrnehmungsmöglichkeiten anderer als handlungsbezogener Phä nomene, und sie wirkt sich zu einer fast unüberwindbaren Kommunikations hürde zwischen Personen, Analysen, Verständnissen und gesellschaftlichen Interpretationen aus: warum soll man Dinge sehen und über sie reden, wenn sie ohnehin nicht existieren. Das vor allem dann, wenn man sieht, das auch falsche Annahmen zu wirklichen Folgen führen (Merton 1957). Die (haupt sächlich) subjektive Perspektive ist selbst Sachzwang. Das Übersehen der bislang skizzierten Hintergründe und Zusammenhän ge ist für die Einführung neuer Thchnologie in Arbeitsprozesse fatal. Was ist, wenn Hardware-Konfigurationen und Software-Pakete von Technikern für Betriebe und Verwaltungen entwickelt werden, die dort praktisch geleistete Arbeit aber gar nicht so recht erkannt und folglich analysiert werden kann? Die Computeranwendungen werden niemals wie vorgesehen funktionieren. Arbeit und Organisation erschöpfen sich bekanntlich weder in ihrer Zu standsbeschreibung durch die Arbeitsanalytiker und Organisationsfachleute, noch im Pflichtenheft des Programmierers (von Boehm 1984 bis Utopia 1985): offensichtlich in keinem offiziell festgesetzten Soll. Die Welt der infor mellen Beziehungen ist von allen Wissenschaften anerkannt. Bekannt ist auch, daß sie sich nicht so einfach und auf keinen Fall so vollständig erfassen läßt, wie die, die förmlich für existent betrachtet wird (Bergner 1981). Genau er, die informellen Thile von Betrieb und Verwaltung liegen tendenziell au ßerhalb der Reichweite genau jener Kriterien, die sonst zur Grundlage jeder Technisierungsüberlegung erklärt werden. Es wird also nicht gegen die Regel der Thchnisierung in einem engeren Sinn verstoßen. Die Instrumente der daran beteiligten Wissenschaften kommen selbstverständlich und mit bester Absicht zum Einsatz. Nicht gedacht wird lediglich an die ferner und »theore tisch« auch noch zu berücksichtigenden Grund-und Rahmenbedingungen der Technikeinführung. Über sie läßt sich vielleicht auf wissenschaftlichen Thgun gen trefflich streiten, aber im Alltag der Technisierung spielen sie keine Rolle. Dort verläßt sich der Thchniker des Computers und des Sozialen nur auf sich und seine Arbeitsinstrumente. Die Illusion, an alles gedacht zu haben, bleibt möglich, weil der Erfolg, das Machbare erreicht zu haben, sich immer einstellt. Und weil dem so ist, muß ein nahezu endloser Prozeß der Optimierung der Programme und der Erneuerung der Computer hingenommen werden, der unsagbar teuer und sozial völlig unverträgliCh ist. Ob die Wechselwirkung zwischen technologischem Eingriff und der Dauerhaftigkeit bestehender Ar beits- und Produktionsstrukturen jemals zu einem glücklichen Abschluß ge führt werden kann, zeigt sich erst zu guter Letzt. Was sich in der Phase der ersten und kurzen Implementierung des Computers als Zwang für den zu technisierenden Arbeitsprozeß zeigt, wird sich in der langwierigen Phase