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Planet der Raufbolde PDF

87 Pages·1977·1.37 MB·German
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Hans J. Alpers / Ronald M. Hahn Planet der Raufbolde Band 2 aus der Reihe „Raumschiff der Kinder“ ungekürzte Originaledition der nicht mehr aufgelegten Einzelausgabe von 1977 © Ensslin & Laiblin Verlag GmbH & Co. KG Reutlingen 1977. Sämtliche Rechte,   auch   die   der   Verfilmung,   des   Vortrags,   der   Rundfunk­   und Fernsehübertragung, der Verbreitung durch Kassetten und Schallplatten sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Printed in Germany.  ISBN 3­7709­0388­9 „Land“ in Sicht! Harpo Trumpff tauchte auf. Prustend wie ein Walroß durchbrach er den Wasserspiegel des künstlich angelegten Sees und warf mit einer raschen Dre­ hung das klatschnasse Haar aus der Stirn. Dabei entdeckte er eine Bewegung am Rande des Sees. Er sah gerade noch, wie die Gestalt eines Mädchens im farbigen Gewirr des Plastikdschungels verschwand. „He, Babs, warte!“ rief er und watete tropfend ans Ufer. „Warum läufst du denn weg? Komm lieber ins Wasser!“ Doch das achtzehnjährige Mädchen im roten Jeansanzug schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Sie glitt geschickt und lautlos wie ein Indianer zwi­ schen den synthetischen Sträuchern und Büschen dahin. Und dabei so zielbewußt wie auf der Pirsch nach einem Geheimnis. Hatte sie vielleicht etwas gehört, etwas entdeckt, das neu und ungewöhn­ lich war? Aber nein, dachte Harpo, der ein paar Momente lang bei diesem Ge­ danken eine Gänsehaut bekommen hatte. Doch nicht auf der EUKALYPTUS. Schließlich lebten sie in einem Raumschiff und nicht in einem der wenigen Urwälder, die es angeblich noch in irgendwelchen fernen Ecken der Erde gab. Das   Raumschiff   EUKALYPTUS   war   von   den   Besatzungsmitgliedern verlassen worden, nachdem es durch eine rätselhafte Katastrophe zunächst aus dem Erd­Orbit ausgebrochen war und dann in die Tiefen der Galaxis ge­ schleudert wurde. Nach einigen bangen Tagen der Ungewißheit befand es sich inzwischen völlig unter der Kontrolle der Kinder, die eigentlich nur zur Erholung an Bord waren. Unterstützt wurden sie bei den schwierigen Auf­ gaben durch die Grünen – wie sie die grünbepeltzen Roboter nannten – und das Große Gehirn, einen riesigen Computer, der alle Funktionen des Schiffes koordinierte. Und da die Erwachsenen das Schiff fluchtartig aufgegeben hatten, konnte es niemanden mehr an Bord geben, den die Kinder nicht kannten. Babs war immer etwas schwierig, aber sie floh längst nicht mehr, wenn sich Kinder näherten. Was mochte sie wohl veranlaßt haben, bei seinem Auf­ tauchen das Weite zu suchen? Ohne sich abzutrocknen glitt Harpo in seine bereitliegenden Kleider. Er war jetzt bald sechzehn Jahre alt, und beim Anzie­ hen stellte er fest, daß die Hosen wirklich immer enger und kürzer für ihn wurden. Er mußte langsam zu wachsen aufhören, wenn er nicht so groß wie sein Freund Karlie  Müllerchen  werden wollte, der mit seinen fünfzehn Jah­ ren schon weit über zwei Meter maß. Auch die Haare trocknete er nicht erst ab, sondern rannte gleich los. Noch konnte er an den sich bewegenden Blät­ tern erkennen, welchen Weg Babs nahm. Sie gab keinen Laut von sich. Sie sprach sowieso selten, und wenn doch einmal, dann nur wenige Wörter. Aber sie verstand sehr gut, wenn man sie etwas fragte. Nach Luft schnappend eilte Harpo dem Mädchen durch das Dickicht von Deck 41 hinterher. Hierher kamen nur die ganz begeisterten Schwimmer, 2 seitdem die ehemaligen Bewohner des Decks in die Zone null umgezogen waren. „Was ist denn los, Babs?“ fragte Harpo, als er sie eingeholt hatte. Unwillkür­ lich sprach er ganz leise, als er den bewußt geheimnisvollen Blick des Mäd­ chens auffing. Babs war stehengeblieben und legte lauschend den Kopf schief, so daß ihr linkes Ohr fast die Schultern berührte. Jetzt legte sie den Zeigefinger an die Lippen und sah Harpo in die Augen. Sie hatte schöne Augen mit eisblauer Iris, aber irgendwie wirkte ihr Blick geis­ tesabwesend. Harpo hatte noch immer nicht herausgefunden, wie Babs an Bord des Schiffes gelangt war. Ihr Name stand weder auf der Liste der Pati­ enten noch der des medizinisch­pädagogischen Personals oder der Astroga­ toren und Techniker. „Dort!“ sagte sie plötzlich und zeigte auf die grüngestrichene Deckwand, die vor ihnen aufragte. Harpo starrte die Wand an. An verschiedenen Stellen war der Anstrich be­ reits fleckig geworden. Er verstand nicht, was Babs meinte. Wieder tasteten seine Blicke nach der Wand, aber dann streiften sie das Stück Boden davor. Die künstlich aufgeschichtete Erde unmittelbar zu ihren Füßen war einge­ stürzt. Wie es oft im Leben vorkommt, hatte Harpo das Wichtigste, un­ mittelbar vor seiner Nase nicht bemerkt: Der Erdboden vertiefte sich zu einem etwa zwei Meter abfallenden Hohlweg, der genau auf die Schiffswand zuführte. Offenbar hatte es hier einen das ganze Deck durchziehenden unter­ irdischen   Gang   gegeben.   Er   mußte   durch   die   Erschütterungen   beim Verlassen des Erd­Orbits eingestürzt sein und gab nun eine runde Schleusen­ tür frei. Sie war leicht geöffnet und bewegte sich zaghaft in den Angeln, weil der Luftzug der kräftigen Deckventilatoren dagegenhielt. Klick, ging es. Klick, klick, klick. Erschreckt machte Harpo einen Schritt rückwärts. Das war ja beinahe so unheimlich wie in alten Schlössern, in denen Geister spukten. Hatte Babs dieses Klicken knapp an der Hörgrenze des menschlichen Ohres über die weite Entfernung gehört? Dann mußte sie wirklich über ein phänomenal gut funktionierendes Gehör verfügen. „Was ist das?“ fragte er. Zögernd ging er näher, als er keine Antwort erhielt, und spürte instinktiv, daß Babs folgte. Zum ersten Mal sah er mit eigenen Augen, daß es noch andere Ausgänge als die Schächte des Antigravliftes auf den Decks gab. Aber dann fiel ihm die allererste Begegnung mit Babs ein. Auch damals war sie vielleicht durch einen ähnlichen Gang gekommen, als er mit Anca gerade die geheimnisvollen Räume jenseits der Deckwand durch­ suchte. Eine Weile ertrug es ein Junge wie Harpo ganz gut, von Dingen umgeben zu sein, die er nicht immer auf Anhieb verstand. Aber wenn das Kopfzerbrechen allzu große Ausmaße annahm, begann er zu handeln. Aus einem plötzlichen Entschluß heraus sprang er in den Hohlweg hinab und näherte sich vor­ sichtig, aber nicht ängstlich jener Schleusentür. Sie war gerade groß genug, 3 einen Menschen hindurchzulassen. Ein vor der Tür angebrachtes Metall­ schild zog seine Aufmerksamkeit auf sich: 14­C NUR FÜR TECHNISCHES PERSONAL NOTEINSTIEG BEACHTEN SIE DIE SICHERHEITS­ VORKEHRUNGEN! Babs sagte: „Wohin, Harpo?“ Ihre Stimme klang wie die eines Mädchens von höchstens elf Jahren. Und doch schien sie nicht ängstlicher zu sein als bei ganz harmlosen Gelegenheiten, wenn sie leicht zusammenzuckte, weil sich jemand schnell bewegte oder laut redete. „Bloß mal nachsehen“, gab Harpo über die Schulter zurück. Er wußte zwar nicht, welche „Sicherheitsvorkehrungen“ zu beachten waren, aber er hatte nicht die Absicht, wieder hinaufzuklettern, ohne zuvor einen Blick hinter die Tür geworfen zu haben. Er schnalzte anerkennend mit der Zunge. „Da hast du vielleicht eine ganz tolle Entdeckung gemacht, Babsie. Komm doch, dann schauen wir gemein­ sam nach, was hinter der Tür steckt.“ Babs schüttelte den Kopf. Lieber nicht, hieß das. Offenbar hatte sie keine Lust, sich auf ungewisse Abenteuer einzulassen. Harpo zuckte mit den Schultern und tastete sich vorwärts. Dann glitt er durch die Schleusentür, die sich spielend mit einem Finger öffnen ließ. Da­ hinter lag ein winziger Raum. Harpo entdeckte sofort eine weitere Tür auf der gegenüberliegenden Wand. So ähnlich sah auch die Luftschleuse vor der Zentrale aus. Es gab unbekannte und verwirrende Knöpfe, mit deren Hilfe die Tür elektronisch zu öffnen war, aber Harpo versuchte es ganz einfach an dem Handrad, das wohl für Notfälle vorgesehen war. Zuvor hatte er sich davon überzeugt, daß die beiden Zeiger der Luftdruckmesser deckungsgleich waren. Er mußte also keine Angst haben, daß sich auf der anderen Seite das lebens­ feindliche Vakuum des Weltalls befand. Einen Moment lang rieselte ihm trotzdem ein kalter Schauer über den Rücken. Es könnte ja sein, daß die Instrumente nicht mehr korrekt anzeigten, oder daß ... Entschlossen drehte er weiter, bis sich die Metalltür knarrend auf­ sperren ließ. Licht flackerte im gleichen Moment auf und übergoß ihn so unerwartet, daß er die Augen mit den Händen bedecken mußte, und mühsam zwischen den Fingern hervorlugte. Er atmete schwer, sein Brustkasten hob sich wie nach einem anstrengenden Hundertmeterlauf. Schließlich hatten sich seine Augen auf das Licht eingestellt und meldeten ihm die ersten Bilder. Er befand sich in einem so großen Saal, wie er ihn nie­ mals zwischen den Decks und der Schiffsaußenhaut vermutet hätte. Später erfuhr er, daß der Raum 140 Quadratmeter umfaßte und „Hangar“ genannt 4 wurde. Seine Metallwände wirkten kalt und steril, weil es niemand für nötig gehalten hatte, ein paar Farbtupfer zu verschwenden. „Hangar“ war ein Wort, das er in diesem Moment noch nicht kannte, aber als er die drei Objekte vor sich in den hydraulischen Docks liegen sah, begriff er sofort, daß dies so etwas wie eine Garage für kleine Raumfahrzeuge war. Unwillkürlich stieß er einen spitzen Jubelschrei aus. Kein Zweifel! Das waren Gleitboote, die langgezogenen, schnittigen Auto­ mobilen glichen, aber eine Kuppel aus durchsichtigem Glas oder Kunststoff als Fahrerkabinen hatten. Kurze Stummelflügel zeigten, daß sie für Flüge in­ nerhalb der Atmosphäre geeignet waren. Harpo selbst hatte solche Boote schon   im   Fernsehen   bewundert.   Von   Thunderclap   Genius   wußte   er außerdem, daß diese Miniatur­Raumschiffe beinahe narrensicher bedient werden konnten, da sie mit dem Steuersystem des Großen Gehirns ver­ bunden waren und kein geschultes Bedienungspersonal erforderten. Nur für den Fall, daß auch der Zentralcomputer des Raumschiffes ausfiel, war eine Handsteuerung   vorgesehen.   Diese   Probleme   hatten   sie   nicht.   Wenn Thunderclap sich nicht irrte, gab man die gewünschten Befehle einfach über das Mikrofon an den Computer, der sie in elektrische Impulse umwandelte und daraus einen Leitstrahl modulierte, an dem das Boot sich vorwärtsbe­ wegte. Selbstverständlich geschah das alles ohne einen meßbaren Zeitverlust. Harpo erinnerte sich, daß Lonzo von solchen Beibooten der EUKALYPTUS erzählt hatte. Die Schwierigkeit war nur, daß man bei Lonzo nie so genau wußte, ob er die Wahrheit sagte oder sich eine kleine Lügengeschichte ausge­ dacht hatte. Aber mit Sicherheit besaß er keine Informationen über den Standort der Boote. Nun, die hatte jetzt Harpo. Am liebsten hätte er sich ja gleich in eines der Boote gesetzt. Und warum eigentlich nicht? Von Entdeckerdrang beseelt, um­ kreiste er die schnittigen Flitzer. Durch eine geöffnete Luke enterte er nach kurzem Zaudern schließlich eines der Gleitboote und tauchte unter der Glas­ kuppel wieder auf. Fasziniert ließ er seinen Blick über die bequeme Innenein­ richtung schweifen. In den Polstern hatten sicherlich vier oder fünf Leute Platz, ohne daß sie sich mit den Ellbogen allzusehr ihren Platz erkämpfen mußten. In seinen Fingern kribbelte es vor Aufregung. Er hatte Lust, diese wunder­ baren Dinge zu berühren, war aber intelligent genug, dies zu unterlassen, so­ lange er nicht wußte, welchen Schaden er damit anrichten konnte. Die gepolsterte Sitzbank, kreisrund und direkt an den Wänden des Fahrgastraums befestigt, beherrschte das Bild. In der Mitte erhob sich ein kunststoffverkleideter, meterhoher Monolith, in dessen Oberfläche eine Ta­ statur mit verschiedenfarbigen Schaltern eingelassen war. Dann entdeckte Harpo die Bedienungsanleitung der Schaltung. Sie lag unübersehbar auf einem der Polster. In mehreren Sprachen wurde erklärt, welche Funktionen die einzelnen Schalter hatten. Vorsichtig probierte er sie aus. Zuerst verdunkelte sich die Glaskuppel zu einem undurchdringlichen Schwarz, dann flammte die Bordbeleuchtung in einem beruhigenden Rot 5 auf. Harpo testete Heizung und Klimaanlage und stellte fest, daß alles ein­ wandfrei funktionierte. Schließlich erwischte er den Knopf, der die Ver­ bindung mit der Hauptzentrale der EUKALYPTUS herstellte. „He!“ hörte er Karlie Müllerchen überrascht ausrufen. „Beim feurigen Kometenschweif! Was ist das für ein Leuchtzeichen?“ Karlie hielt im Moment die Funkleitstelle auf Deck null besetzt und sorgte dafür, daß alle Abteilungen zu jeder Zeit miteinander sprechen und Informa­ tionen austauschen konnten. „Na, rat doch mal“, forderte Harpo ihn auf und hatte Mühe, ein helles La­ chen zu unterdrücken. Karlie erkannte seine Stimme sofort. „Harpo? Wo steckst du denn? Ich habe dich auf einem Funkkanal, der bisher völlig tot war!“ Aus seiner Stimme klang grenzenlose Überraschung heraus. Thunderclap Genius, der wohl auch gerade in der Zentrale hockte, schalte­ te sich in das Gespräch ein: „Harpo, wir haben eine ungeheure, gewaltige, sensationelle, noch nie dagewesene, super­duper­tip­toppe Entdeckung ge­ macht! Wir sind nämlich auf dem allerbesten Wege, in wenigen Wochen ...“ „Moment, Moment“, unterbrach Harpo, der sich so schnell die Fäden nicht aus der Hand nehmen lassen wollte. „Was immer ihr an guten Nachrichten habt – ich habe bestimmt noch bessere.“ Und jetzt spuckte er es aus. „Wißt ihr, was ich ... oder besser, was Babsie ... oder vielmehr, was wir zusammen ... Also, hört ihr überhaupt zu, ganz genau zu? Setzt euch alle hin, obwohl es nicht viel helfen wird, denn das haut euch gewiß vom Hocker. Wir – haben – die – Gleitboote!“ „Waaaaaas?“ kam ein vielstimmiges Echo, an dem außer Thunderclap und Karlie wohl auch noch andere beteiligt waren. „Na hör mal“, schimpfte Karlie, „warum sagst du uns das eigentlich erst jetzt?“ Wie ein Sturzbach ergoß sich Harpos Bericht über die Lautsprechersysteme in die Hauptzentrale und ging von dort aus rasend schnell von Mund zu Mund. Er nahm sich natürlich Zeit mit seiner Erzählung und schmückte die Forschungsreportage mit allerlei schaurigen Details aus, die den Zuhörern buchstäblich die Haare zu Berge stehen ließen. „... und als ich die grauslich quietschende Tür am Ende des modrig rie­ chenden Gangs aufstieß und der unheimlich finstere Raum vor mir lag, häm­ merte mein Herz bis zum Halse hinauf, und meine Knie zitterten, und dann sah ich sie vor mir, drei Stück und bestens in Schuß ...“ Ein Seufzer der Erleichterung ging durch die Reihen der Zuhörer. Harpo schwieg, erschöpft von der langen Rede und den vielen Flunkereien. Glück­ lich schwelgte er bereits im voraus in den kommenden Ehrungen, die ihm si­ cherlich zuteil wurden. Aber er wartete vergebens auf Lobeshymnen. Vielmehr drang ein verhal­ tenes Kichern an seine Ohren. Thunderclap knurrte daraufhin jemanden an und sagte rasch: „Im Glanz deiner Entdeckung verblaßt unsere Beobachtung 6 natürlich, Harpolein. Aber du solltest trotzdem eiligst mit Babs hinaufkom­ men und sie dir ansehen!“ Wenn Thunderclap derart untertrieb, dann mußte etwas Besonderes ge­ schehen sein. Harpo stieg flink aus dem Boot, eilte den Weg zurück und ließ sich von Babs aus der Grube ziehen. Er streichelte ihr dankbar die Wange, nahm sie bei der Hand und eilte mit ihr zum Antigravlift. Mit gemischten Ge­ fühlen stellte er fest, daß sein Vollbad umsonst gewesen war, denn er schwitzte wie ein Braten auf dem Grill. In der Zentrale wurden sie von der gesamten Besatzung der EUKALYPTUS erwartet, darunter Lonzo, der Roboter, Thunderclap mit einem erwartungs­ vollen Lächeln und blitzenden Augen, Brim Boriam, der „Arztlehrling“ und Lucky Cicero, der mongoloide Junge mit der Fähigkeit zur Teleportation. „Siehst du den Stern dort hinten?“ fragte Thunderclap pfiffig. Er streckte die Rechte aus und deutete auf einen blaugrünen Punkt, der sich deutlich im Licht der zahllosen Sonnen hinter der Sternenkuppel abzeichnete. Harpo nickte. Was der bloß wollte? „Klar, aber ...“ Die kleine Lori Powitz ki­ cherte. Jetzt wußte Harpo auch, wer das vorhin gewesen war. „Sieh ihn dir ge­ nau an, Harpolein“, platzte sie dazwischen. „Fällt dir nichts auf?“ Fiel ihm etwas auf? Eigentlich nicht. Oder war der Stern vielleicht etwas heller und auffälliger geworden? Schwer zu sagen, fand Harpo. Unsicher kratzte er sich am Kinn und verzog abschätzend das Gesicht. Daniel Düsentrieb würde jetzt sicher eine Tausend­Watt­Birne aufgehen, aber ihm leuchtete nicht einmal eine Kerze. „Mit bloßem Auge“, unterbrach Thunderclap das Schweigen mit gnädigem Tonfall, „kann man es auch gar nicht erkennen, hi, hi!“ Karlie Müllerchen baute seine Riesengestalt vor Harpo auf. Er hatte wie kein Zweiter Wissen über Astronavigation in sich hineingefressen und war schon wie ein Alter Hase in der Lage, Positionsbestimmungen vorzunehmen. Sein Kinn zuckte vor Erregung, und die dünnen Haare seines spärlichen Bartes, der ihm trotz seiner Jugend bereits wuchs, wippten hin und her. „Diese blaugrüne Sonne“, meinte er mit seiner kieksenden Stimme, „der wir den Namen Archimedes gegeben haben, kommt näher. Besser gesagt: Wir nähern uns ihr, jeden Tag, jede Stunde. Und in vier Wochen werden wir sie erreicht haben!“ Peng! Harpos Kinnlade klappte nach unten. Im gleichen Moment setzte ein Jubel ein, der die Hauptzentrale vibrieren ließ. Die anderen kannten die Neu­ igkeit ja längst und hatten sich nur verabredet, nichts zu verraten, um Harpos Verblüffung voll auszukosten. Aber sie hörten die gute Nachricht natürlich gern ein zweites Mal und führten wahre Freudentänze auf. „Big“ Tom kletterte auf Fidels Schultern und tätschelte dem Riesen Karlie den Hinterkopf, während Lonzo an der Spitze einer Gruppe von besonders Übermütigen demonstrierte, wie die legendären australischen Känguruhs früher durch die Lande gehüpft waren. All die Sterne am Himmel waren Sonnen, nur leider unerreichbar fern. Wenn sie sich nun einem dieser Sterne näherten, dann hieß das nichts 7 anderes, als daß wahrscheinlich auch Planeten, die diese Sonne umkreisten, in ihre Reichweite kamen. Und das bedeutete ... „Wir können uns in richtigem Gras wälzen“, krähte der kleine Ollie. „Und frische Luft atmen!“ fügte Micel hinzu. „Und Wasser aus einem Bach schlürfen!“ „Und Regenwürmer baden!“ „Und Berge besteigen!“ „Und in einem Meer baden!“ „Und ... und ... und ...“ Thunderclap Genius wandte sein Gesicht langsam wieder der gläsernen Kuppel zu, die sich über der Hauptzentrale spannte. Harpo sah, wie sich die Lippen des Freundes lautlos bewegten. Er konnte zwar nicht hören, was er in diesem Moment sagte, aber er konnte es sich denken. Wir kommen! Wir kommen! Wir kommen! Planet Nordpol, bitte melden! Die nächsten drei Wochen, in denen die Mannschaft mit ungewohnter Em­ sigkeit Zukunftspläne schmiedete, vergingen wie im Flug. Kein Tag verstrich, ohne daß sich nicht Gruppen zusammenfanden, die sich stundenlang über alle nur denkbaren Einzelheiten einer möglichen Landung die Köpfe heiß und die Stimmbänder lahm redeten. Einige besonders verwegene Be­ satzungsmitglieder der EUKALYPTUS gingen noch weiter, etwa der kleine Ollie. Dessen stille Liebe war es, Listen anzulegen, seitdem er einmal einen Stapel alter Formulare in den Verpflegungskammern gefunden hatte. Und so begann er damit, eingehende Organisationspläne aufzustellen, die im End­ effekt darauf hinausliefen, daß er auflistete, was er alles auf den Planeten mit­ zunehmen gedachte. Seine allererste Liste sah so aus:     1 Lederhose (Eigentum), gut erhalten     2 Bälle (von Lori ausleihen), möglichst bunte     1 Dingsbums zum Spielen (Trompo), sehr lieb     1 Dackel (Moritz), auch sehr lieb Natürlich verwarf er seine Liste jeden Tag aufs neue, um sie dann wenig später in abgewandelter Form erneut zu Papier zu bringen. Für seine Arznei­ en legte er sich weitere Speziallisten an, die laufend ergänzt wurden, weil ihm immer neue Übel einfielen, gegen die man sich wappnen mußte. Fantasia Einstein, ein sensibles, rothaariges und immer nervöses Mädchen von fünfzehn Jahren, das starke Fähigkeiten im technischen Bereich zu entwickeln begann, programmierte das Große Gehirn, jenen Computer, der die EUKALYPTUS steuerte und auch sonst alle Anlagen fehlerlos bediente. Seit dem Eingriff der Weltraumärzte arbeitete es zu 98 Prozent wieder, und mehr konnte im Moment niemand verlangen. 8 Wie es sich herausgestellt hatte, war die Denkmaschine wie die Roboter fä­ hig, mit einer dem Klang des menschlichen Organs täuschend nachgemach­ ten Stimme zu sprechen. Und so kam es, daß die Kinder, wenn sie den Erklärungen lauschten, manchmal meinten, es mit einem unsichtbaren Men­ schen zu tun zu haben. Manche meinten ernsthaft, daß im Innern der riesigen Apparatur ein echter Mensch lebte, der sich hinter den Stahlwänden verbarg. Schuld an solchen Vermutungen trug die Tatsache, daß das Gehirn sich in mancher Beziehung für eine Maschine seltsam menschlich benahm, was vor allen Dingen diejenigen überraschte, die den Roboter Lonzo – der ja auch eine Maschine und kein Mensch war – nicht so gut kennengelernt hatten wie Harpo und seine Freunde. Denn Lonzo handelte auch nicht gerade mit der kühlen Sachlichkeit einer mechanisch­elektronischen Ansammlung von allerlei Drähten, Wicklungen, Transistoren und Blech. Das Große Gehirn hatte die Angewohnheit, den Zuhörern allerlei Informa­ tionen aufzudrängen, die gar nicht gefragt worden waren. Vielleicht fühlte es sich einsam mit seinem umfassenden Wissen und wollte andere daran teil­ haben lassen. Aber es entschuldigte sich immer sehr artig, wenn man den Re­ defluß abbrach. Allmählich hatten sich die EUKALYPTUS­Kinder an das ungewöhnliche Computerwesen gewöhnt und machten sich auf ihre Art lustig darüber. „Wie groß ist unsere derzeitige Entfernung zum System Archimedes, Großes Gehirn?“ fragte Karlie. Erwartungsvoll lauschte die Versammlung. Man hatte es sich auf dem Boden der Zentrale bequem gemacht, weil es nur zwölf Sitzplätze gab. „Die Entfernung zur Umlaufbahn des äußersten Planeten beträgt am kürzesten Punkt absolut exakt 3.222.772,1675423 Kilometer, wobei ich mir erlaubt habe, die letzte Kommastelle aufzurunden“, erwiderte der Computer mit tiefer Stimme. „Wenn man allerdings berücksichtigt, daß dieser Planet alle vierzehn Jahre, drei Monate, zwei Wochen, fünf Tage und ... ahem, ich möchte auch hier aufrunden ... eine Bahnabweichung aufweist, müßte man den vorgenannten Wert um 0,00017 Prozent revidieren, sofern man die Ent­ fernung auf einen Punkt in der Zukunft bezieht, der zwei Jahre und ...“ „So genau wollen wir es gar nicht wissen“, stöhnte Karlie. „Karlie?“ fragte das Gehirn vertraulich. „Ja?“ „Darf ich mir eine Zusatzbemerkung erlauben?“ „Du darfst.“ „Das Schiff wird die erwähnte Kurve in genau sieben Tagen, vier Stunden und 36 Minuten schneiden, falls die Geschwindigkeit nicht geändert wird.“ „Das hat zwar keiner gefragt“, meinte Karlie grinsend, „aber mit dieser In­ formation kann man wenigstens etwas anfangen.“ Das Große Gehirn sagte mit einem wohlgefälligen Unterton: „Ich dachte schon, daß es euch interessieren würde. Darf ich euch noch auf ein Phä­ 9

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