Table Of ContentHISTORISCH-POLITISCHE
MITTEILUNGEN
Archiv für
Christlich-Demokratische Politik
Im Auftrag der
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
herausgegeben von
Günter Buchstab und Hans-Otto Kleinmann
14. Jahrgang
2007
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
II
HISTORISCH-POLITISCHE MITTEILUNGEN
Archiv für Christlich-Demokratische Politik
14. Jahrgang 2007
Im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
herausgegeben von
Dr. Günter Buchstab und Prof. Dr. Hans-Otto Kleinmann
Redaktion: Dr. Brigitte Kaff
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
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Inhalt III
Inhalt
AUFSÄTZE
Guido Hitze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1
Das Konzept der „neuen Sicherheit“. Zur Auseinandersetzung
um den „Neoliberalismus“ in der Programmatik der Unionsparteien
Anselm Doering-Manteuffel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .27
Die Wurzeln des „alten Europa“ im amerikanischen Jahrhundert
Ulrich Karpen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .45
Deutschland und Europa: Das Staatsrecht in den Plänen
des Kreisauer Kreises
Michael Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .67
Jugend zwischen den Diktaturen. Manfred Klein
und die christlich-demokratische Jugendopposition in der SBZ
Michael Klein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .79
Der westdeutsche Protestantismus und die CDU bis zum Ende
der Ära Adenauer
Alexander Straßner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .99
Die 68er-Bewegung und der Terrorismus in der Bundesrepublik
Carsten Penzlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .121
Rainer Barzel als Kanzlerkandidat im Bundestagswahlkampf 1972
Peter Rütters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .137
Gertrud Wronka – Eine katholische Frauenkarriere
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Christopher Beckmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .153
Lambert Lensing (1889–1965) – Zeitungsverleger, Mitgründer
der CDU, Landesvorsitzender der CDU Westfalen-Lippe
Jörg-Dieter Gauger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .187
Hans-Erich Stier (1902–1979) – Althistoriker, Mitgründer
der CDU, Kulturpolitiker
IV Inhalt
Andreas Grau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .213
Vom Aufsteiger zum Überläufer. Der Fall des CDU-Abgeordneten
und DDR-Spions Karlfranz Schmidt-Wittmack
DIE ÄRA KOHL IM GESPRÄCH
VII. Die transatlantischen Beziehungen in der Ära Kohl
Hans-Peter Schwarz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .231
Einführung
Andreas Wirsching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .235
Die Beziehungen zu den USA im Kontext der deutschen Außenpolitik
1982–1998
Klaus Larres. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .245
Die USA, die europäische Einigung und die Politik Helmut Kohls
Stefan Fröhlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .263
Die USA-Politik aus amerikanischer Perspektive in der Ära Kohl
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .273
Wie halten wir es mit Amerika? Die transatlantischen Beziehungen,
die Konstruktion Europas und die deutsch-französische Zusammenarbeit
in der Ära Kohl
Werner Link, Peter Hermes, Joachim Bitterlich, Bernd Wilz: . . . . . . . .299
Statements
MISZELLEN
Rudolf Morsey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .313
Der Parlamentarische Rat 1948/49 im Rückblick. Das erste Rhöndorfer
Gespräch mit Zeitzeugen und Zeithistorikern 1969
Gerhard Wettig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .341
Die Entlassung der Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion 1955 –
Folge der Verhandlungen mit Adenauer? Untersuchung auf der Basis
neuer Archivdokumente
Inhalt V
LITERATURBERICHTE
Hans-Otto Kleinmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .353
Die Ära Kohl – Ein Literaturbericht. Erster Teil
Markus Lingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .411
Christentum und Demokratie. Katholiken in den USA und Deutschland
Neuerscheinungen zur Christlichen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .417
(Auswahlbibliographie)
Abstracts – Résumés – Zusammenfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .427
Mitarbeiter dieses Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .451
AUFSÄTZE
Das Konzept der „neuen Sicherheit“.
Zur Auseinandersetzung um den „Neoliberalismus“
in der Programmatik der Unionsparteien
Von Guido Hitze
1. Einführung
Im Juni dieses Jahres startete der SPD-Vorsitzende Kurt Beck in einem Beitrag
für die FAZ (11. Juni 2007) unter der Überschrift „Das soziale Deutschland“
einen scharfen Angriff auf das neue Grundsatzprogramm der CDU, dessen
Entwurf wenige Wochen zuvor in seinen Grundzügen von Generalsekretär Po-
falla der Öffentlichkeit vorgestellt worden war. Der Hauptvorwurf Becks an
die Adresse des Berliner Koalitionspartners bestand in der Behauptung, die
Union propagiere das Leitbild eines stetig „schrumpfenden Staates“; ihr „Ne-
oliberalismus“ sei eine „Ideologie ohne Erdung“. Der SPD-Vorsitzende setzte
dem angeblich „marktradikalen“ Konzept der CDU die sozialdemokratische
Idee des „vorsorgenden Sozialstaats“ entgegen, welche notwendige Reformen
mit der „herausragenden Frage der sozialen Sicherheit“ und der „Zukunft der
Arbeit unter den Bedingungen der Globalisierung“ verknüpfe und auf diese
Weise den Weg in ein modernes, freiheitliches, aber eben auch „soziales“
Deutschland eröffne.
Ebenfalls im Juni 2007 fusionierten in Berlin PDS und WASG zur neuen
„Linken“. Das Attribut „neu“ erwies sich nach den programmatischen Reden
von Lothar Bisky, Gregor Gysi und vor allem Oskar Lafontaine bei näherem
Hinsehen allerdings rasch als Etikettenschwindel. Hier feierte der alte, längst
tot geglaubte Sozialismus althergebrachter Provenienz mit seinen staatlichen
Allmachts- und Entmündigungsphantasien fröhliche Urständ: Verstaatlichung
der Schlüsselindustrien, insbesondere der Energiewirtschaft, antiimperialisti-
sche internationale Solidarität, der politische Generalstreik und die Beschwö-
rung eines angeblich „sicheren“ Sozialstaates, der zum „Wohlfahrtsstaat“ aus-
gebaut werden sollte, bildeten zentrale Schwerpunkte eines Programms, das
in der höchst fragwürdigen Parole Lafontaines gipfelte: „Freiheit durch Sozi-
alismus!“.
Nun ließe sich über beide „linken“ Konzepte, das des „vorsorgenden Sozi-
alstaates“ der SPD und das reaktionäre, weil ausschließlich rückwärtsgewandte
der Linkspartei, trefflich politisch streiten. Offenbar weiß ein Kurt Beck nichts
über Wesen und Genese des Begriffs „Neoliberalismus“, den er pauschal der
Union als Etikett anheftet, und sein Bild vom angeblichen „Schrumpfstaat“,
2 Guido Hitze
den die CDU anstrebe, ist dermaßen schief, dass es in Anbetracht der histo-
rischen wie aktuellen Realität eher wie eine Karikatur anmutet. Oskar Lafon-
taine wiederum lässt völlig offen, welche „Freiheit“ da durch welchen „Sozia-
lismus“ herbeigeführt werden soll und weshalb der „Sozialstaat“ von einst an-
geblich noch heute so „sicher“ ist, dass er sogar noch ausgebaut werden kann.
Doch allen Unzulänglichkeiten und Irrtümern zum Trotz berühren sowohl
Beck wie Lafontaine einen höchst sensiblen Punkt im gesellschaftlichen Be-
wusstsein, der für die Politik allgemein eine zentrale Herausforderung dar-
stellt: Die Sehnsucht, besser das Verlangen der Bürger – unabhängig von Her-
kunft, Stand und parteipolitischer Präferenz – nach „Sicherheit“ in ebenso un-
ruhigen wie unübersichtlichen Zeitläufen. Dieser Herausforderung hat sich
auch und vorrangig die Union als stärkste politische Kraft in Deutschland zu
stellen. Und hier trifft die Kritik des SPD-Vorsitzenden durchaus eine wunde
Stelle: Die CDU mag sich aufrichtig darum bemüht haben, in ihrem neuen
Grundsatzprogramm Antworten auf alle möglichen Probleme und Fragen un-
serer Zeit zu finden, darunter auch und gerade solche zur Zukunft von Arbeit
und Gesellschaft. Aber diese Antworten wirken insgesamt merkwürdig unver-
bunden, rein additiv, mitunter geradezu unverbindlich. Daher mangelt es vie-
len Bereichen des Grundsatzprogrammentwurfs tatsächlich, um mit Kurt Beck
zu sprechen, an der notwendigen „Erdung“. Gefragt ist eine Leitidee, die glei-
chermaßen konzeptionell trägt wie auch praxistauglich ist, das heißt in und
an den politischen Realitäten für die Bürger nachvollziehbar und überprüfbar
wird. Nur dann wird sie auch langfristig überzeugen und Mehrheiten im de-
mokratischen Wettbewerb gewinnen können. Dieser Wettbewerb ist längst er-
öffnet. Die CDU in Nordrhein-Westfalen hat das nach dem Wahlsieg vom
Mai 2005 schnell begriffen. Unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers ist sie,
nicht ohne damit erhebliche Irritationen in der Gesamtpartei auszulösen, seit-
dem bemüht, Grundüberzeugungen der Christlichen Demokratie in praktische
Politik umzusetzen und sie an die Erfordernisse und veränderten Bedingungen
des ökonomischen wie gesellschaftlichen Wandels anzupassen, ohne ihre Wur-
zeln zu verleugnen oder gar zu kappen. Eine zentrale Komponente des eben
beschriebenen Vorhabens stellt das Konzept der „neuen Sicherheit“ dar, auf
das im Folgenden näher eingegangen werden soll.
2. Gesellschaft in der Krise
„Wertewandel“, „Globalisierung“, „demographische Krise“ sind Begriffe, die
eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte beschreiben, an deren Ende ein Er-
gebnis steht, das von niemandem ernsthaft bestritten werden kann: der Verlust
von „Sicherheit“ in beinahe jeder Beziehung. Die Sicherheit des Einzelnen in
seiner jeweiligen Lebenssituation, verstanden als „soziale Sicherheit“, ist da-
Das Konzept der „neuen Sicherheit“ 3
von ebenso betroffen wie die Sicherung allgemeiner Lebensverhältnisse, die
innere Sicherheit und die Sicherheit vor äußeren Gefahren.
Spätestens in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, als die Vertreter der
„68er“ ihren „Marsch durch die Institutionen“ abgeschlossen hatten, schien
sich das Motto des „anything goes“ unwiderruflich durchgesetzt zu haben. Die
alten Werte, Traditionen, Erfahrungen und Glaubenssätze, welche die Gesell-
schaft zusammengehalten hatten, verloren mehr und mehr an Gültigkeit und
vor allem Akzeptanz. Die Emanzipation des Individuums feierte ihren Tri-
umph. Selbstverwirklichung wurde zum Selbstzweck. Das alte Ziel der Auf-
klärung, die Selbstbestimmung, wurde ihrer existentiell notwendigen Ergän-
zung, der Selbstverantwortung, zunehmend beraubt, die Bindungslosigkeit so
lange zum Prinzip erklärt, bis sie in Bindungsunfähigkeit ausartete. Auf diese
Weise erfuhr das Individuum vermeintlich eine Stärkung, allerdings auf Kos-
ten der Person. Zugleich zeigten sich die Folgen einer „emanzipatorischen Bil-
dungspolitik“: Das Bildungsniveau sank allgemein und dramatisch; eine
schwache Allgemeinbildung korrespondierte bei vielen Leistungsträgern in
Wirtschaft, Politik, Kultur und Medien in wachsendem Maße mit einem the-
orielastigen Spezialwissen. Dabei ging zwangsläufig der Blick für das Ganze
verloren. Ohne den klassischen Bildungskanon als Basis degenerierte die ge-
sellschaftliche Elite allzu oft zur sich im Abstrakten verlierenden Technokra-
tenkaste. Nicht die vielfach beschworene „Wissensgesellschaft“ stand am
Ende dieser Entwicklung, sondern die bloße „Informationsgesellschaft“, in der
eine Flut von Informationen aller Art in Gestalt einer pausenlosen Reizüber-
flutung auf den Einzelnen niedergeht, ohne von diesem mangels genügend aus-
geprägter Wertmaßstäbe und intellektueller Kompetenz gefiltert, gewichtet
und zielgerichtet verarbeitet werden zu können.
Die politischen Vorkämpfer eines solchen Gesellschaftsmodells ahnten frei-
lich, dass sie ihre Politik nur auf der „Mitte“ der Gesellschaft gründen bzw.
aus einer solchen heraus erfolgreich propagieren, gestalten und letztlich legi-
timieren konnten. Besagte „Mitte“ war jedoch nicht zu verwechseln mit der
einigermaßen statischen „alten Mitte“ der bürgerlichen Gesellschaft: dem ge-
werblichen Mittelstand, dem Bildungsbürger, dem Beamten und höheren An-
gestellten, dem Facharbeiter, dem Selbständigen. Diese Mitte war seit dem
„Kommunistischen Manifest“ das Feindbild der Linken schlechthin, bekämpft
als die Klasse der „Bourgeoisie“, die Stütze der bürgerlichen und kapitalisti-
schen Gesellschaftsordnung. Jene „alte“ Mitte nun kann man mit sozialen, das
heißt materiellen Indikatoren beschreiben und eingrenzen. Sie zeichnet aber
ebenso aus, dass sie sich selbst als ausgesprochen bindungsorientiert und wer-
tebewusst definiert. Die „neue Mitte“ dagegen, welche die SPD im Bundes-
tagswahlkampf 1998 umwarb, war nicht statisch oder traditionsorientiert, son-
dern in hohem Maße beweglich, sozusagen der Ausdruck eines temporären
Daseinszustandes, eine Art „Durchlaufstation“ auf dem steilen Weg nach oben.
4 Guido Hitze
Ihr Maßstab war ein nahezu rein materieller, und verkörpert wurde sie vom
flexiblen Aufsteigertyp, der sich in keiner Weise mehr an irgendwen oder ir-
gendetwas gebunden sehen wollte. Dieser Aufsteigertyp aber symbolisierte so-
zusagen die Inkarnation der Postmoderne, wobei die fortschreitende und sich
ständig beschleunigende Globalisierung durch den vor ihr ausgehenden An-
passungs- und Veränderungsdruck das ihre dazu beitrug, die „neue Mitte“ stän-
dig in Bewegung zu halten, bis eine ihrer scheinbar ehernen Grundlagen, die
„new economy“, wie eine große Blase plötzlich platzte und die „neue Mitte“
bis auf weiteres marginalisierte.
Interessanterweise bemerkten die Protagonisten eines solcherart postmoder-
nen Politikverständnisses sehr schnell, dass die neuen volatilen gesellschaft-
lichen Strukturen, die zu schaffen bzw. zu fördern sie entschlossen waren, be-
zogen auf das gesellschaftliche Ganze wenig stabilisierend wirkten und sich
schon gar nicht als krisenfest erwiesen. Folglich knüpften sie an den sozialis-
tischen Kern der Postmoderne an, die Propagierung von Kollektivismus und
Staatsidealismus. Dies erscheint zunächst als beinahe ironischer Widerspruch,
allerdings nur so lange, wie man das Individualprinzip mit dem Personalitäts-
prinzip verwechselt. Denn ein nahezu bedingungsloser Individualismus kann
einem Gemeinwesen nun einmal nicht die notwendige Stabilität und Sicherheit
verleihen, er untergräbt und gefährdet es vielmehr. Also muss „der Staat“ als
Korrektiv auftreten und dort „Ordnung“ schaffen, „Gerechtigkeit“ realisieren,
wo sich die bloße Summe der ungebundenen Individuen hierzu nicht in der
Lage sieht. Der alte Glaube, der Staat könne alles besser organisieren, regu-
lieren, verteilen und ordnen als subsidiäre, nichtstaatliche Organisationen oder
gar der einzelne Bürger, ging auf diese Weise eine Verbindung ein mit der
scheinbar objektivierbaren Notwendigkeit staatlichen Eingreifens in Lebens-
bereiche, die nach besten westeuropäischen Denktraditionen von jeher und aus
gutem Grund „vorstaatlich“ zu sein haben, etwa wenn es sich um Angelegen-
heiten der persönlichen Lebensgestaltung oder Erziehungsfragen handelt. Eine
derart staatsorientierte Politik führt zwangsläufig zu einer Erosion, ja mitunter
Perversion der klassischen politischen Grundwerte. „Freiheit“, „Gerechtig-
keit“ und „Solidarität“ galten bislang als unumstrittene Eckpfeiler unserer frei-
heitlich-demokratischen Grundordnung. Im postmodernen Verständnis wird
aber aus der ursprünglich gemeinten „Freiheit der Bürger“ die Freiheit des
Staates, sich das an materiellen wie immateriellen Werten und Rechten anzu-
eignen, was er nach eigener Auskunft zur Sicherung seiner Existenz benötigt;
aus der „Gerechtigkeit“ wird banale Gleichheit, die Egalisierung bestehender
sozialer Unterschiede, die Nivellierung jeglicher Leistungs- und Qualitätsan-
reize; die „Solidarität“ der Starken mit den Schwachen schließlich, die eine
Gesellschaft im wesentlichen zusammenhält, verkommt zur Solidarität der
Schwachen mit den Leidensgenossen, weil die Starken und Leistungskräftigen
entweder systematisch und nachhaltig geschwächt werden oder aber sich,
Das Konzept der „neuen Sicherheit“ 5
wenn sie einmal ein bestimmtes materielles Niveau erreicht haben, ihrer ge-
sellschaftlichen Verpflichtungen zu entziehen wissen.
Am Ende steht – ungeachtet aller pseudo-sozialreformerischen Phraseologie
– ein zutiefst etatistisches Gemeinwesen mit egalitären Grundstrukturen, einer
weiter zunehmenden kulturellen und materiellen Verarmung weiter Bevölke-
rungskreise und einer allgemeinen geistig-technischen Immobilität. Ein sol-
cher Staat wäre nicht mehr weit entfernt vom berühmten „Leviathan“ des ab-
solutistischen politischen Philosophen Thomas Hobbes, der seine Bürger
enteignet und die eingezogenen Güter nach eigenem Gusto umverteilt. Ein sol-
cher Staat aber ist letztlich auch das Gegenteil eines „starken Staates“, denn
seine vermeintliche „Stärke“ beruht vor allem auf einem ständigen Misstrauen
gegen die geistige und materielle Unabhängigkeit seiner Bürger, gegen deren
Fähigkeit zu Selbstbestimmung in Eigenverantwortung. Aus diesem Grund
bleibt die Staatsbürokratie gezwungen, sich immer mehr Kompetenzen anzu-
eignen, die wiederum ihre finanziellen wie logistischen Möglichkeiten über-
schreiten müssen. Das Staatswesen wird zunehmend unflexibel, ineffizient und
schließlich praktisch handlungsunfähig, weil die angehäufte Schuldenlast ir-
gendwann keinerlei Spielräume mehr zulässt. Seine „Stärke“ vermag dieser
eigentlich „schwache“ Staat nur noch zu demonstrieren, in dem er die indivi-
duellen Freiheiten der Bürger noch weiter einschränkt, sie in bestimmte „Sys-
teme“ zwingt und damit zwangsweise zusätzlich egalisiert. Es ist eben gerade
nicht eine „Schwundform des Liberalismus“, wie Kurt Beck fälschlich in sei-
nem Essay behauptet, welche den Bürger in das rein Private abdrängt und zum
ausschließlich materiell orientierten, „egoistischen Bourgeois“ degenerieren
lässt, sondern der anmaßende, alles an sich ziehende und umverteilende Bü-
rokraten-Staat. Deshalb ist und bleibt der „Citoyen“ und nicht der „Bourgeois“
der natürliche Feind des Leviathan!
Nun könnte man schlussfolgern, die Alternative zu dem eben skizzierten,
zugegeben reichlich pessimistischen Szenario bestünde in einer weitgehenden
Selbstbeschränkung des Staates, seinem Rückzug auf einige wenige Kernbe-
reiche. In die entstandenen Freiräume könnten und sollten dann die Bürger
mit ihrer Leistungsbereitschaft, ihrem ökonomischen und sozialen Engage-
ment vorstoßen; ihr profundes Wissen, gepaart mit praktischer Erfahrung und
ethisch begründetem Verantwortungsgefühl, einbringen. Der Staat dieser über-
aus optimistischen Variante wäre dann ein „schwacher“, ein „liberaler“ Staat,
aber zugleich ein reicher, kompetenter Staat, der seine Aufgaben zuverlässig
erfüllt und seine wahre Stärke vor allem in der Garantierung äußerer wie in-
nerer Sicherheit und Stabilität beweist.
Allein, die Wirklichkeit ist differenzierter. So sehr wir uns unzweifelhaft
in Richtung der ersten, negativen Option bewegen, ohne dass jene bereits voll-
ständig Realität geworden wäre, so sehr fehlen uns die Voraussetzungen für
ein wirklich „freiheitliches“ Gesellschaftsmodell. Die ohnehin schmale
Description:e-mail: zentrale-wd@kas.de 11 Vgl. Gilbert TRAUSCH (Hg.), Die Europäische Integration vom Schuman-Plan bis zu den .. Anm. 28); Wilfried LOTH, Die Teilung der Welt. Ge- schichte des Kalten Krieges 1941–1955, München 1980, Kap. 6–8; DERS., Der Weg nach. Europa (wie Anm. 4). 34 Zit. n.