ebook img

HISTORISCH-POLITISCHE MITTEILUNGEN Archiv für Christlich-Demokratische Politik PDF

457 Pages·2014·1.34 MB·German
by  
Save to my drive
Quick download
Download
Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.

Preview HISTORISCH-POLITISCHE MITTEILUNGEN Archiv für Christlich-Demokratische Politik

HISTORISCH-POLITISCHE MITTEILUNGEN Archiv für Christlich-Demokratische Politik Im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. herausgegeben von Günter Buchstab und Hans-Otto Kleinmann 14. Jahrgang 2007 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN II HISTORISCH-POLITISCHE MITTEILUNGEN Archiv für Christlich-Demokratische Politik 14. Jahrgang 2007 Im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. herausgegeben von Dr. Günter Buchstab und Prof. Dr. Hans-Otto Kleinmann Redaktion: Dr. Brigitte Kaff Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik Rathausallee 12 53757 Sankt Augustin bei Bonn Tel 02241 / 246 2210 Fax 02241 / 246 2669 e-mail: [email protected] internet: www.kas.de © 2007 by Böhlau Verlag GmbH & Cie., Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, [email protected] www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth Druck: MVR-Druck GmbH, Brühl ISSN: 0943-691X ISBN: 978-3-412-19906-7 Erscheinungsweise: jährlich Preise: € 19,50 [D]/ € 20,10 [A] Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder direkt beim Böhlau Verlag unter: [email protected], Tel. +49 221 91390-0, Fax +49 221 91390-11 Ein Abonnement verlängert sich automatisch um ein Jahr, wenn die Kündi- gung nicht zum 1. Dezember erfolgt ist. Zuschriften, die Anzeigen und Ver- trieb betreffen, werden an den Verlag erbeten. Inhalt III Inhalt AUFSÄTZE Guido Hitze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1 Das Konzept der „neuen Sicherheit“. Zur Auseinandersetzung um den „Neoliberalismus“ in der Programmatik der Unionsparteien Anselm Doering-Manteuffel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .27 Die Wurzeln des „alten Europa“ im amerikanischen Jahrhundert Ulrich Karpen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .45 Deutschland und Europa: Das Staatsrecht in den Plänen des Kreisauer Kreises Michael Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .67 Jugend zwischen den Diktaturen. Manfred Klein und die christlich-demokratische Jugendopposition in der SBZ Michael Klein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .79 Der westdeutsche Protestantismus und die CDU bis zum Ende der Ära Adenauer Alexander Straßner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .99 Die 68er-Bewegung und der Terrorismus in der Bundesrepublik Carsten Penzlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .121 Rainer Barzel als Kanzlerkandidat im Bundestagswahlkampf 1972 Peter Rütters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .137 Gertrud Wronka – Eine katholische Frauenkarriere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Christopher Beckmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .153 Lambert Lensing (1889–1965) – Zeitungsverleger, Mitgründer der CDU, Landesvorsitzender der CDU Westfalen-Lippe Jörg-Dieter Gauger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .187 Hans-Erich Stier (1902–1979) – Althistoriker, Mitgründer der CDU, Kulturpolitiker IV Inhalt Andreas Grau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .213 Vom Aufsteiger zum Überläufer. Der Fall des CDU-Abgeordneten und DDR-Spions Karlfranz Schmidt-Wittmack DIE ÄRA KOHL IM GESPRÄCH VII. Die transatlantischen Beziehungen in der Ära Kohl Hans-Peter Schwarz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .231 Einführung Andreas Wirsching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .235 Die Beziehungen zu den USA im Kontext der deutschen Außenpolitik 1982–1998 Klaus Larres. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .245 Die USA, die europäische Einigung und die Politik Helmut Kohls Stefan Fröhlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .263 Die USA-Politik aus amerikanischer Perspektive in der Ära Kohl Gisela Müller-Brandeck-Bocquet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .273 Wie halten wir es mit Amerika? Die transatlantischen Beziehungen, die Konstruktion Europas und die deutsch-französische Zusammenarbeit in der Ära Kohl Werner Link, Peter Hermes, Joachim Bitterlich, Bernd Wilz: . . . . . . . .299 Statements MISZELLEN Rudolf Morsey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .313 Der Parlamentarische Rat 1948/49 im Rückblick. Das erste Rhöndorfer Gespräch mit Zeitzeugen und Zeithistorikern 1969 Gerhard Wettig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .341 Die Entlassung der Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion 1955 – Folge der Verhandlungen mit Adenauer? Untersuchung auf der Basis neuer Archivdokumente Inhalt V LITERATURBERICHTE Hans-Otto Kleinmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .353 Die Ära Kohl – Ein Literaturbericht. Erster Teil Markus Lingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .411 Christentum und Demokratie. Katholiken in den USA und Deutschland Neuerscheinungen zur Christlichen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .417 (Auswahlbibliographie) Abstracts – Résumés – Zusammenfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .427 Mitarbeiter dieses Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .451 AUFSÄTZE Das Konzept der „neuen Sicherheit“. Zur Auseinandersetzung um den „Neoliberalismus“ in der Programmatik der Unionsparteien Von Guido Hitze 1. Einführung Im Juni dieses Jahres startete der SPD-Vorsitzende Kurt Beck in einem Beitrag für die FAZ (11. Juni 2007) unter der Überschrift „Das soziale Deutschland“ einen scharfen Angriff auf das neue Grundsatzprogramm der CDU, dessen Entwurf wenige Wochen zuvor in seinen Grundzügen von Generalsekretär Po- falla der Öffentlichkeit vorgestellt worden war. Der Hauptvorwurf Becks an die Adresse des Berliner Koalitionspartners bestand in der Behauptung, die Union propagiere das Leitbild eines stetig „schrumpfenden Staates“; ihr „Ne- oliberalismus“ sei eine „Ideologie ohne Erdung“. Der SPD-Vorsitzende setzte dem angeblich „marktradikalen“ Konzept der CDU die sozialdemokratische Idee des „vorsorgenden Sozialstaats“ entgegen, welche notwendige Reformen mit der „herausragenden Frage der sozialen Sicherheit“ und der „Zukunft der Arbeit unter den Bedingungen der Globalisierung“ verknüpfe und auf diese Weise den Weg in ein modernes, freiheitliches, aber eben auch „soziales“ Deutschland eröffne. Ebenfalls im Juni 2007 fusionierten in Berlin PDS und WASG zur neuen „Linken“. Das Attribut „neu“ erwies sich nach den programmatischen Reden von Lothar Bisky, Gregor Gysi und vor allem Oskar Lafontaine bei näherem Hinsehen allerdings rasch als Etikettenschwindel. Hier feierte der alte, längst tot geglaubte Sozialismus althergebrachter Provenienz mit seinen staatlichen Allmachts- und Entmündigungsphantasien fröhliche Urständ: Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, insbesondere der Energiewirtschaft, antiimperialisti- sche internationale Solidarität, der politische Generalstreik und die Beschwö- rung eines angeblich „sicheren“ Sozialstaates, der zum „Wohlfahrtsstaat“ aus- gebaut werden sollte, bildeten zentrale Schwerpunkte eines Programms, das in der höchst fragwürdigen Parole Lafontaines gipfelte: „Freiheit durch Sozi- alismus!“. Nun ließe sich über beide „linken“ Konzepte, das des „vorsorgenden Sozi- alstaates“ der SPD und das reaktionäre, weil ausschließlich rückwärtsgewandte der Linkspartei, trefflich politisch streiten. Offenbar weiß ein Kurt Beck nichts über Wesen und Genese des Begriffs „Neoliberalismus“, den er pauschal der Union als Etikett anheftet, und sein Bild vom angeblichen „Schrumpfstaat“, 2 Guido Hitze den die CDU anstrebe, ist dermaßen schief, dass es in Anbetracht der histo- rischen wie aktuellen Realität eher wie eine Karikatur anmutet. Oskar Lafon- taine wiederum lässt völlig offen, welche „Freiheit“ da durch welchen „Sozia- lismus“ herbeigeführt werden soll und weshalb der „Sozialstaat“ von einst an- geblich noch heute so „sicher“ ist, dass er sogar noch ausgebaut werden kann. Doch allen Unzulänglichkeiten und Irrtümern zum Trotz berühren sowohl Beck wie Lafontaine einen höchst sensiblen Punkt im gesellschaftlichen Be- wusstsein, der für die Politik allgemein eine zentrale Herausforderung dar- stellt: Die Sehnsucht, besser das Verlangen der Bürger – unabhängig von Her- kunft, Stand und parteipolitischer Präferenz – nach „Sicherheit“ in ebenso un- ruhigen wie unübersichtlichen Zeitläufen. Dieser Herausforderung hat sich auch und vorrangig die Union als stärkste politische Kraft in Deutschland zu stellen. Und hier trifft die Kritik des SPD-Vorsitzenden durchaus eine wunde Stelle: Die CDU mag sich aufrichtig darum bemüht haben, in ihrem neuen Grundsatzprogramm Antworten auf alle möglichen Probleme und Fragen un- serer Zeit zu finden, darunter auch und gerade solche zur Zukunft von Arbeit und Gesellschaft. Aber diese Antworten wirken insgesamt merkwürdig unver- bunden, rein additiv, mitunter geradezu unverbindlich. Daher mangelt es vie- len Bereichen des Grundsatzprogrammentwurfs tatsächlich, um mit Kurt Beck zu sprechen, an der notwendigen „Erdung“. Gefragt ist eine Leitidee, die glei- chermaßen konzeptionell trägt wie auch praxistauglich ist, das heißt in und an den politischen Realitäten für die Bürger nachvollziehbar und überprüfbar wird. Nur dann wird sie auch langfristig überzeugen und Mehrheiten im de- mokratischen Wettbewerb gewinnen können. Dieser Wettbewerb ist längst er- öffnet. Die CDU in Nordrhein-Westfalen hat das nach dem Wahlsieg vom Mai 2005 schnell begriffen. Unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers ist sie, nicht ohne damit erhebliche Irritationen in der Gesamtpartei auszulösen, seit- dem bemüht, Grundüberzeugungen der Christlichen Demokratie in praktische Politik umzusetzen und sie an die Erfordernisse und veränderten Bedingungen des ökonomischen wie gesellschaftlichen Wandels anzupassen, ohne ihre Wur- zeln zu verleugnen oder gar zu kappen. Eine zentrale Komponente des eben beschriebenen Vorhabens stellt das Konzept der „neuen Sicherheit“ dar, auf das im Folgenden näher eingegangen werden soll. 2. Gesellschaft in der Krise „Wertewandel“, „Globalisierung“, „demographische Krise“ sind Begriffe, die eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte beschreiben, an deren Ende ein Er- gebnis steht, das von niemandem ernsthaft bestritten werden kann: der Verlust von „Sicherheit“ in beinahe jeder Beziehung. Die Sicherheit des Einzelnen in seiner jeweiligen Lebenssituation, verstanden als „soziale Sicherheit“, ist da- Das Konzept der „neuen Sicherheit“ 3 von ebenso betroffen wie die Sicherung allgemeiner Lebensverhältnisse, die innere Sicherheit und die Sicherheit vor äußeren Gefahren. Spätestens in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, als die Vertreter der „68er“ ihren „Marsch durch die Institutionen“ abgeschlossen hatten, schien sich das Motto des „anything goes“ unwiderruflich durchgesetzt zu haben. Die alten Werte, Traditionen, Erfahrungen und Glaubenssätze, welche die Gesell- schaft zusammengehalten hatten, verloren mehr und mehr an Gültigkeit und vor allem Akzeptanz. Die Emanzipation des Individuums feierte ihren Tri- umph. Selbstverwirklichung wurde zum Selbstzweck. Das alte Ziel der Auf- klärung, die Selbstbestimmung, wurde ihrer existentiell notwendigen Ergän- zung, der Selbstverantwortung, zunehmend beraubt, die Bindungslosigkeit so lange zum Prinzip erklärt, bis sie in Bindungsunfähigkeit ausartete. Auf diese Weise erfuhr das Individuum vermeintlich eine Stärkung, allerdings auf Kos- ten der Person. Zugleich zeigten sich die Folgen einer „emanzipatorischen Bil- dungspolitik“: Das Bildungsniveau sank allgemein und dramatisch; eine schwache Allgemeinbildung korrespondierte bei vielen Leistungsträgern in Wirtschaft, Politik, Kultur und Medien in wachsendem Maße mit einem the- orielastigen Spezialwissen. Dabei ging zwangsläufig der Blick für das Ganze verloren. Ohne den klassischen Bildungskanon als Basis degenerierte die ge- sellschaftliche Elite allzu oft zur sich im Abstrakten verlierenden Technokra- tenkaste. Nicht die vielfach beschworene „Wissensgesellschaft“ stand am Ende dieser Entwicklung, sondern die bloße „Informationsgesellschaft“, in der eine Flut von Informationen aller Art in Gestalt einer pausenlosen Reizüber- flutung auf den Einzelnen niedergeht, ohne von diesem mangels genügend aus- geprägter Wertmaßstäbe und intellektueller Kompetenz gefiltert, gewichtet und zielgerichtet verarbeitet werden zu können. Die politischen Vorkämpfer eines solchen Gesellschaftsmodells ahnten frei- lich, dass sie ihre Politik nur auf der „Mitte“ der Gesellschaft gründen bzw. aus einer solchen heraus erfolgreich propagieren, gestalten und letztlich legi- timieren konnten. Besagte „Mitte“ war jedoch nicht zu verwechseln mit der einigermaßen statischen „alten Mitte“ der bürgerlichen Gesellschaft: dem ge- werblichen Mittelstand, dem Bildungsbürger, dem Beamten und höheren An- gestellten, dem Facharbeiter, dem Selbständigen. Diese Mitte war seit dem „Kommunistischen Manifest“ das Feindbild der Linken schlechthin, bekämpft als die Klasse der „Bourgeoisie“, die Stütze der bürgerlichen und kapitalisti- schen Gesellschaftsordnung. Jene „alte“ Mitte nun kann man mit sozialen, das heißt materiellen Indikatoren beschreiben und eingrenzen. Sie zeichnet aber ebenso aus, dass sie sich selbst als ausgesprochen bindungsorientiert und wer- tebewusst definiert. Die „neue Mitte“ dagegen, welche die SPD im Bundes- tagswahlkampf 1998 umwarb, war nicht statisch oder traditionsorientiert, son- dern in hohem Maße beweglich, sozusagen der Ausdruck eines temporären Daseinszustandes, eine Art „Durchlaufstation“ auf dem steilen Weg nach oben. 4 Guido Hitze Ihr Maßstab war ein nahezu rein materieller, und verkörpert wurde sie vom flexiblen Aufsteigertyp, der sich in keiner Weise mehr an irgendwen oder ir- gendetwas gebunden sehen wollte. Dieser Aufsteigertyp aber symbolisierte so- zusagen die Inkarnation der Postmoderne, wobei die fortschreitende und sich ständig beschleunigende Globalisierung durch den vor ihr ausgehenden An- passungs- und Veränderungsdruck das ihre dazu beitrug, die „neue Mitte“ stän- dig in Bewegung zu halten, bis eine ihrer scheinbar ehernen Grundlagen, die „new economy“, wie eine große Blase plötzlich platzte und die „neue Mitte“ bis auf weiteres marginalisierte. Interessanterweise bemerkten die Protagonisten eines solcherart postmoder- nen Politikverständnisses sehr schnell, dass die neuen volatilen gesellschaft- lichen Strukturen, die zu schaffen bzw. zu fördern sie entschlossen waren, be- zogen auf das gesellschaftliche Ganze wenig stabilisierend wirkten und sich schon gar nicht als krisenfest erwiesen. Folglich knüpften sie an den sozialis- tischen Kern der Postmoderne an, die Propagierung von Kollektivismus und Staatsidealismus. Dies erscheint zunächst als beinahe ironischer Widerspruch, allerdings nur so lange, wie man das Individualprinzip mit dem Personalitäts- prinzip verwechselt. Denn ein nahezu bedingungsloser Individualismus kann einem Gemeinwesen nun einmal nicht die notwendige Stabilität und Sicherheit verleihen, er untergräbt und gefährdet es vielmehr. Also muss „der Staat“ als Korrektiv auftreten und dort „Ordnung“ schaffen, „Gerechtigkeit“ realisieren, wo sich die bloße Summe der ungebundenen Individuen hierzu nicht in der Lage sieht. Der alte Glaube, der Staat könne alles besser organisieren, regu- lieren, verteilen und ordnen als subsidiäre, nichtstaatliche Organisationen oder gar der einzelne Bürger, ging auf diese Weise eine Verbindung ein mit der scheinbar objektivierbaren Notwendigkeit staatlichen Eingreifens in Lebens- bereiche, die nach besten westeuropäischen Denktraditionen von jeher und aus gutem Grund „vorstaatlich“ zu sein haben, etwa wenn es sich um Angelegen- heiten der persönlichen Lebensgestaltung oder Erziehungsfragen handelt. Eine derart staatsorientierte Politik führt zwangsläufig zu einer Erosion, ja mitunter Perversion der klassischen politischen Grundwerte. „Freiheit“, „Gerechtig- keit“ und „Solidarität“ galten bislang als unumstrittene Eckpfeiler unserer frei- heitlich-demokratischen Grundordnung. Im postmodernen Verständnis wird aber aus der ursprünglich gemeinten „Freiheit der Bürger“ die Freiheit des Staates, sich das an materiellen wie immateriellen Werten und Rechten anzu- eignen, was er nach eigener Auskunft zur Sicherung seiner Existenz benötigt; aus der „Gerechtigkeit“ wird banale Gleichheit, die Egalisierung bestehender sozialer Unterschiede, die Nivellierung jeglicher Leistungs- und Qualitätsan- reize; die „Solidarität“ der Starken mit den Schwachen schließlich, die eine Gesellschaft im wesentlichen zusammenhält, verkommt zur Solidarität der Schwachen mit den Leidensgenossen, weil die Starken und Leistungskräftigen entweder systematisch und nachhaltig geschwächt werden oder aber sich, Das Konzept der „neuen Sicherheit“ 5 wenn sie einmal ein bestimmtes materielles Niveau erreicht haben, ihrer ge- sellschaftlichen Verpflichtungen zu entziehen wissen. Am Ende steht – ungeachtet aller pseudo-sozialreformerischen Phraseologie – ein zutiefst etatistisches Gemeinwesen mit egalitären Grundstrukturen, einer weiter zunehmenden kulturellen und materiellen Verarmung weiter Bevölke- rungskreise und einer allgemeinen geistig-technischen Immobilität. Ein sol- cher Staat wäre nicht mehr weit entfernt vom berühmten „Leviathan“ des ab- solutistischen politischen Philosophen Thomas Hobbes, der seine Bürger enteignet und die eingezogenen Güter nach eigenem Gusto umverteilt. Ein sol- cher Staat aber ist letztlich auch das Gegenteil eines „starken Staates“, denn seine vermeintliche „Stärke“ beruht vor allem auf einem ständigen Misstrauen gegen die geistige und materielle Unabhängigkeit seiner Bürger, gegen deren Fähigkeit zu Selbstbestimmung in Eigenverantwortung. Aus diesem Grund bleibt die Staatsbürokratie gezwungen, sich immer mehr Kompetenzen anzu- eignen, die wiederum ihre finanziellen wie logistischen Möglichkeiten über- schreiten müssen. Das Staatswesen wird zunehmend unflexibel, ineffizient und schließlich praktisch handlungsunfähig, weil die angehäufte Schuldenlast ir- gendwann keinerlei Spielräume mehr zulässt. Seine „Stärke“ vermag dieser eigentlich „schwache“ Staat nur noch zu demonstrieren, in dem er die indivi- duellen Freiheiten der Bürger noch weiter einschränkt, sie in bestimmte „Sys- teme“ zwingt und damit zwangsweise zusätzlich egalisiert. Es ist eben gerade nicht eine „Schwundform des Liberalismus“, wie Kurt Beck fälschlich in sei- nem Essay behauptet, welche den Bürger in das rein Private abdrängt und zum ausschließlich materiell orientierten, „egoistischen Bourgeois“ degenerieren lässt, sondern der anmaßende, alles an sich ziehende und umverteilende Bü- rokraten-Staat. Deshalb ist und bleibt der „Citoyen“ und nicht der „Bourgeois“ der natürliche Feind des Leviathan! Nun könnte man schlussfolgern, die Alternative zu dem eben skizzierten, zugegeben reichlich pessimistischen Szenario bestünde in einer weitgehenden Selbstbeschränkung des Staates, seinem Rückzug auf einige wenige Kernbe- reiche. In die entstandenen Freiräume könnten und sollten dann die Bürger mit ihrer Leistungsbereitschaft, ihrem ökonomischen und sozialen Engage- ment vorstoßen; ihr profundes Wissen, gepaart mit praktischer Erfahrung und ethisch begründetem Verantwortungsgefühl, einbringen. Der Staat dieser über- aus optimistischen Variante wäre dann ein „schwacher“, ein „liberaler“ Staat, aber zugleich ein reicher, kompetenter Staat, der seine Aufgaben zuverlässig erfüllt und seine wahre Stärke vor allem in der Garantierung äußerer wie in- nerer Sicherheit und Stabilität beweist. Allein, die Wirklichkeit ist differenzierter. So sehr wir uns unzweifelhaft in Richtung der ersten, negativen Option bewegen, ohne dass jene bereits voll- ständig Realität geworden wäre, so sehr fehlen uns die Voraussetzungen für ein wirklich „freiheitliches“ Gesellschaftsmodell. Die ohnehin schmale

Description:
e-mail: [email protected] 11 Vgl. Gilbert TRAUSCH (Hg.), Die Europäische Integration vom Schuman-Plan bis zu den .. Anm. 28); Wilfried LOTH, Die Teilung der Welt. Ge- schichte des Kalten Krieges 1941–1955, München 1980, Kap. 6–8; DERS., Der Weg nach. Europa (wie Anm. 4). 34 Zit. n.
See more

The list of books you might like

Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.