Table Of ContentPurkert/Ilgauds . Georg Cantor
Georg Cantor (3.3. 1845-6.1. 1918) [81]
Biographien
hervorragender N aturwissenschaftler,
Techniker und Mediziner Band 79
Georg Cantor
Doz. Dr. sc. Walter Purkert, Leipzig
Hans Joachim Ilgauds, Leipzig
Mit 16 Abbildungen
LEIPZIC
BSB B. G. TeubnerVerlagsgesellschaft . 1985
Hcrausgegeben von
D. Goetz (Potsdam), 1. Jahn (Berl1n), E. Wachtler (Freiberg),
H. Wulling (Leipzig)
VCf<llltwortlichcr Hcrnnsgcbcr: H. Wulling
Purkcrt. \Xfalter, und Hans Joachim Ilgauds:
Gcorg Cantor. - 1. Auf!. -
Lcipzig: BSB B. G. Tcubner Vcrlagsgescllschaft, 1985. -
135 s.: 16 Abb. -
(Biographicn hcrvorragcndcr Naturwisscnschaftlcr,
Tcchnikcr und j\Iedizincr, Bd. 79)
ISBN -13: 978-3-322-00700-1 c-ISBN-!3 :978-3-322-82225-3
DOl: 10.1007/978-3-322-82225-3
Biogr. hervorrag. Nat.-wiss. Techn. ivIed., Bd. 79
ISSN 0232-3516
'e; BSB B. G. Teubner Vt:rhlgsgescllschaft, Lcip2ig~ 1985
t. Auflago
VLN 294-375/39/85 . LSV 1003
Lektor: Hclla Muller
GlCsamthcrstellung: Elbc-Druckcrei ~'ittcnbcrg 1\'-28-1-628
Bcstdl·Nr. 666 2528
00680
Vorwort
Das Uncndlichc .hat wic kcine andere Fragc yon jchcr so tid
das Gem i.i t der Menschcn bcwegt; (bs Uncndliche hat wie
kaum cine andere Ide e auf den Verstand so anregcnd unci
fruchtbar gewirkt; das Uncncllichc ist aber auch wie kcin
andcrcr Beg r iff so der Auf k 1 'i. run g bediirftig.
Hilbert [104. S. 163]
100 Jahre sind vcrgangcn, seit in den Mathcmatischen Annalen
der scchste und letztc Teil von Cantors fundamentaler Arbeit
,. Dber unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten" erschienen ist.
Damit war die Mengenlehre geboren und mit ihr eine prinzipiell
neue Auffassung des Unendlichen in der Mathematik, verk6rpert
in Cantors Theorie der transfiniten Zahlen. Diese Theorie hat
Hilbert als "die bewundernswerteste Bliite mathcmatischcn Gcistes
und iiberhaupt eine der hochsten Leistungen rein verstandcsma/)i
ger menschlicher Tatigkeit" bezeichnet.
Anfangs unbeachtet oder abgelehnt, zu Ende des vorigen Jahr
hunderts zunehmend anerkannt und verwendet, durch die Ent
deckung der Antinomien erneut erschiittert, ist die Mengenlchre
in ihrer heutigen axiomatisierten Gestalt eines der Fundamente
der Mathematik. Die Tatsache, daB aile mathematischen Bcgriffc
auf mengentheoretische Begriffe zuriickgefiihrt werden k6nnen,
hat einige Autorcn sogar zu der Bchauptung veranlaBt, die gc
samte Mathematik sei letztlich mit der Mengenlehre identisch.
\V cnn uns allerdings eine solche Ansicht als eine ungerechtfertigte
Dberbetonung des Formalen gegcniiber dem Inhaltlichen erscheint,
so ist doch unbestritten, daB die mcngentheoretische Durchdrin
gung der Mathematik neben der Entstehung des strukturellen Den
kens und der Verwendung der axiomatischen Methode ein W csens
zug der modernen Mathematik ist. Das hat in zahlreichen Landern
bis in den Schulunterricht hindn gewirkt.
Ernst Zermelo hat im Vorwort zu den von ihm herausgegebenen
"Gesammeltcn Abhandlungen Cantors" betont, daB es ein seltener
Fall in der Geschichte der Wissenschaften ist, "wenn eine ganze
wissenschaftliche Disziplin von grundlegender Bedeutung der
sch6pferischen Tat eines einzelncn Zu verdanken ist". Ein solcher
Fall ist in Cantors Sch6pfung der Mengenlehre realisiert. Es ist
das Zicl des vorliegenden Bandchens, die Pers6nlichkeit Georg
5
Cantors, seinen von Tragik iiberschatteten Lebensweg, seine wis
senschaftlichen Bestrebungen und seinen beharrlichen Kampf fur
die Durchsetzung seiner Anschauungen auf dem Hintergrund des
wissenschaftlichen Lebens seiner Zeit nachzuzeichnen. In einem
Ausblick solI kurz auf die weitere Entwicklung der Mengenlehre
nach Cantor eingegangen werden.
Cantors Werk ist auth von philosophischer Relevanz. Er selbst
hat gelegentlich zum Ausdruck gebracht, daG er die philosophische
Bedeutung der Mengenlehre haher veranschlagt als die mathe
matische. Aus heutiger Sicht sind Cantors eigene philosophische
Erarterungen der verganglichste Teil seines Werkes. Was die
Mathematik betrifft, so hatte Cantor recht, als er seinem Sohn
Erich auf dessen Frage nach der Bedeutung seiner Arbeiten ant
wortete: "So lange Mathematik wissenschaftlich betrieben wird,
werden meine Lehren von Bedeutung sein."
Der BSB B. G. Teubner Verlagsgesellschaft (Leipzig) hat es un
ternommen, im Rahmen der Serie "Teubner-Archiv" die wichtig
sten mathematischen Abhandlungen Cantors mit Kommentaren
von Prof. Dr. G. Asser (Greifswald) wieder zuganglich zu ma
chen. Dieses Werk wird demnachst erscheinen und sei allen in
teressierten Lesern warms tens empfohlen.
AIle Cantor-Zitate in dem vorliegenden Buch sind aus den Ge
sammelten Abhandlungen entnommen mit Ausnahme derjenigen
Arbeiten Cantors, die in den Ges. Abh. nicht oder nicht vollshindig
enthalten sind. Von uns stammen de Zusatze oder Erlau~erungen
in Zitaten stehen in eckigen Klammern.
Fur U nterstiitzung und wertvolle Hinweise danken wir dem Her
ausgeber dieses Bandes, Prof. Dr. H. WuGing, den Gutachtern
Prof. Dr. G. Eisenreich und Doz. Dr. S. Gottwald sowie D.
Baumgartner (Halle), Dr. W. Berg (Halle), Prof. Dr. K.-R. Bier
mann (Berlin), Prof. Dr. J. W. Dauben (New York), Dr. H. Eng
lisch (Leipzig), Dr. J. Gaiduk (Charkow), Prof. Dr. Grattan
Guinness (London), Dr. U. Helferstein (Zurich), G. Manz (Zu
rich), Dr. P. Muursepp (Tartu), Prof. Dr. K. Schmudgen (Leip
zig), Dr. H. Schwabe (Halle)und Prof. Dr. E. Zeidler (Leipzig).
Nicht zuletzt gilt unser Dank dem Teubner-Verlag fur die ange
nehme Zusammenarbeit.
Leipzig, im Mai 1984 W. Purkert . H. J. I1gauds
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Inhalt
Kindheit und JlIgcnd 8
Studillffi in Zurich, Gottingen lind Berlin 13
Die Mengcnlchre entsteht 19
Cantors Krankheit . Die Bacon-Sh,)kcspcare-Theoric 52
Cantors Persunlichkeit lind seine philosophischen Ansichten 60
"Das Wesen def Mathematik liegt in ihrer Freiheit" 78
Anerkennung der MengC1l1ehre llnd neue Schwierigkeiten 83
Ausblick 106
Dokumcntenanhang 116
Chronologie 120
Literatur 121
Personenregister 131
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Kindheit und Jugend
Georg Cantor wurde am 3. Miirz 1845 in St. Petersburg geboren.
Sein Vater Georg Woldemar Cantor betrieb in der russischen
Hauptstadt seit 1834/35 ein offenbar schr erfolgreiches Makler
geschaft.
Uber die Herkunft und die Ausbildung von Georg Woldemar
Cantor ist sehr wenig Sicheres bckannt. Er stammte aus KlJpenha
gcn und war wahrscheinlich schon in fruher Jugend nach Peters
burg gckommen. In den Schriftstucken, die von ihm iiberlicfert
sind, zeigte er sich als humanistisch hochgebildeter Mann. Danc
ben war Georg Woldemar Cantor ticE rcligi6s und hielt auch
seine Kinder zu christlichem Lebenswandcl an. Seinc ,.Lebem
philosophie" klingt in folgendem Schriftstuck an:
. " in kleinen Miihen miissen wir erprobt werden, die Beschrankung i'a
unser Los. Und wer im Kleinen nicht edel handeln und gliicklich scin bnn.
wie ware er einer hiiheren Wiirde, eines seeligen Genusses unter hiiheren
Geistern wiirdig? Wir sollen Gott nicht suchen auBer lIns und lIns selbst
dariiber vergessen, sondern ... der lIns eingeborenen Idee des Giittlichcn
wiirdig handeln ... [157, S. 6]
1m Gegensatz zu del' etwas geheimnisvollen Herkunft des Vaters
stammte die Mutter Georg Cantors, Marie B6hm, aus einer sehr
bekannten Familie. Ihr Vater Franz Ludwig B6hm war Kapell
meister an der Kaiserlichen Oper in Petersburg. Dessen Bruder
Josef B6hm, aus Ungarn gebiirtig, war seit 1819 Professor fiir
Violine am Konservatorium in Wien. Ais Musiker ist Josef B6hm
nicht nur als Lehrer bedeutender Virtuosen bekannt gewordcn,
sondern auch durch seine Beziehung zu Beethoven, dessen E~Dur
Quartett er 1825 zur ersten erfolgreichen Auffiihrung verhalf.
Auch einige andere B6hms sind aus der Musikgeschichte riihm
lichst bekannt. Marie B6hm hatte viele Eigenschaften der B6hms
geerbt: Musikalihit, Heiterkeit, aber auch Empfindlichkeit, Nai
vi tat und Unausgeglichenheit. Sie war von zarter Statur uad ihr
Leben lang viel von Krankheiten geplagt.
Georg Woldemar Cantor und Marie Bohm heirateten am 21. 4.
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2 Die Eltcrn Georg Cantors [144]
1842 in der Deutschcn Evangelisch-Lutherischcn Kirche in St. Pe
tersburg. Georg Waldemar Cantor war evangelischer Konfession,
Marie Bohm kam aus einer romisch-katholischen Familie. Aile
Spekulationen iiber die Religionszugehorigkeit von Georg Cantor,
insbesondere dag er jiidischer Herkunft gewesen sci, sind nach
neueren Forschungen hinHillig. [81, S. 351]
In dem grofiziigig gefiihrten Haus der Familie Cantor-Buhm
wuchs Georg mit noch drei jiingeren Geschwistern auf: Ludwig,
Sophie und Constantin. Ober die Geschwister Georg Cantors ist
nur wenig bekannt geworden. Von Constantin wurde berichtet,
dag er ein begabter Klavierspieler gewesen sei, von Sophie, dag
sie zeichnerisch sehr talentiert war.
Petersburg war eine prachtige Residenzstadt mit groGartigen kul
turellen Einrichtungen und Bildungsmoglichkeiten. Urn 1850 leb
ten dart iiber 40 000 Deutsche. Ihren Verwandten in Deutschland
mufite der Peters burger Lebensstil sehr eigenwillig vorgekommcn
sein:
... (Petersburg) ist und bleibt 1,lns so fremd, als ob es j enscits des Mond
gebirges lage. und die Berichte davon klingen so fabelhaft, daB man bei
spaterer Anschauung dem ZeugniG der eigenen Augen bum zu traucn wagt.
[115, S. 10]
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Georg Cantor besuchte in Petersburg die Elementarschule. 1m
Jahre 1856 ubersiedelte die Familie Cantor nach Deutschland und
lieG sich in Frankfurt/Main nieder. Georg Cantor erinnerte sich
spater oft mit Wehmut seiner £ruhen Jahre in Ru61and. [81, S. 352]
Der Vater hatte sich wegen eines Lungenleidens von seinen Ge
schaften zuruckgezogen. Die Vermogenslage der Familie war so
gut, daG der Vater spater seiner Familie eine halbe Million Gold
mark hinterlieK
Georg besuchte kurzzeitig Privatschulen in Frankfurt/Main und
das Gymnasium in Wiesbaden. Am Gymnasium hat sich als Ma
thematiker nur ein Konrad Muller nachweisen lassen [181, S. 54],
der vermutlich auch Cantor unterrichtet hat. Georg Cantor ver
spurte fruh den Wunsch, Mathematik zu studieren, aber der Va
ter hielt eine Ingenieurausbildung fur wirtschaftlich sicherer. Der
Sohn besuchte daher seit Ostern 1859 die "Hahere Gewerbeschule
des Grofiherzogthums Hessen" und die damit verbundene Real
schulc zu Darmstadt. Die Realschule absolvierte Georg Cantor
mit vorziiglichen Ergebnissen. 1m Abgangszeugnis vom Septem
ber 1860 hiefi es:
Sein FleiG und Eifer musterhaft; seine Kenntnissc in der Nicdcrctl Mathe
matik ink!. Trigonometrie sind schr gut; Lcistungen lobcnswcrt. [67, S. 192]
3 Hiihcre Gewcrbeschulc Darmstadt [189]
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