Nr. 26 / 20.6.2020 Deutschland € 5,50 BeNeLux € 6,60 Finnland € 8,50 Griechenland € 7,30 Norwegen NOK 89,– Polen (ISSN00387452) ZL 34,– Schweiz sfr 8,10 Slowakei € 7,– Spanien € 7,– Tschechien Kc 200,- Dänemark dkr 59,95 Frankreich € 7,– Italien € 7,50 Österreich € 6,20 Portugal (cont) € 6,90 Slowenien € 6,70 Spanien/Kanaren € 7,20 Ungarn Ft 2750,- Printed in Germany Krieg um den Impfstoff Wer bekommt das rettende Serum zuerst? Beilage Das Kulturmagazin für den Sommer UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws Der neue GLA. Jetzt im Online Store bestellen. Schnell, easy, sicher: www.mercedes-benz.de/deinstore UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws 3 DER SPIEGEL Nr. 26 / 20. 6. 2020 Das Land ist nach dem Lockdown auf dem Weg in die Normalität: Geschäfte öffnen wieder, Biergärten, selbst Saunen und Fitnessstudios. Nur in den Schulen, so die Wahrnehmung ge- nervter Eltern und Kinder, gibt es Fortschritte allenfalls in Trippelschritten. Ein SPIEGEL-Team um Alfred Weinzierl fragte Eltern, Schüler und Lehrer, woran es hakt. Und die Redakteure trafen Pädagogen, die die Dinge selbst in die Hand nehmen. Armin Himmelrath etwa sprach mit dem Leiter einer Schule in Durmersheim nahe Karlsruhe, der Anordnungen aus dem Kul- tusministerium konsequent aus der Perspektive der Schüler interpretiert und umsetzt. Silke Fokken ließ sich von dem Münchner Mathelehrer Robert Plötz mitreißen, der dem Ministerium erklärte, wie professionell gestalteter Onlineunterricht stattfinden könnte – natürlich in einem YouTube-Video. Dass der Unterricht nach den Sommer- ferien wieder so ist wie in Vor-Corona-Zeiten, glauben die Redakteure dennoch nicht. »Trotz vielversprechender Ankündigungen ist absehbar, dass weiterhin vielerorts auf Sicht gefahren wird«, sagt Fokken. Seiten 8, 17 In einem Informantengespräch Anfang des Jahres erhielt das Investigativteam des SPIEGEL den ersten Tipp, sich näher mit dem US-Unternehmen Augustus Intelligence zu beschäftigen. Dem New Yorker Start-up stehe so mancher deutsche Spitzenpolitiker nah, hieß es. Das Team begann, Unternehmensregister und Gerichtsdokumente zu prüfen, die Redakteure sprachen mit Personen aus dem Umkreis der Firma. Im März enthüllte die erste Geschichte, dass der 27-jährige Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor Aktienoptionen von Augustus erhalten hatte. »Wir haben weitergebohrt und sind auf ein ausgeklügeltes Lobbyismussystem gestoßen«, sagt Reporterin Nicola Naber. Diese Enthüllung der vergangenen Woche erschütterte das politische Berlin: Amthor bezeichnete sein Handeln für Augustus danach als »Fehler« und zog sich aus dem Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheid- platz zurück. Politiker forderten ein neues Lobbygesetz, und nun beleuchtet der SPIEGEL Amthors Beziehungen zu einer Kanzlei, die den CDU-Politiker gegen Be- zahlung beschäftigt hat, gleichzeitig stand sie in Verbindung zu dem umstrittenen Start-up-Unternehmen. Seine Worte wägt der junge Politiker derzeit vorsichtig ab – unüblich für den Shootingstar, der sich sonst durchaus gesprächig zeigte. Für ein Por- trät traf SPIEGEL-Autor Marc Hujer den Politiker seit Oktober 2018 mehrmals und begleitete ihn sogar bei Jagdausflügen. »Amthor ist ein politisches Ausnahmetalent; redegewandt, provokant, nahezu furchtlos«, sagt Hujer. Der Politiker habe »eine Selbstsicherheit, die manchmal auch unheimlich war«. Seiten 26, 30 An seine erste Reise, die am Flughafen Tegel begann, kann sich SPIEGEL-Autor Jochen- Martin Gutsch noch gut erinnern: Es ging nach London, im Jahr 1992. Für Gutsch, aufgewach- sen im Ostteil der Stadt, ist der Flughafen Tegel seitdem unzählige Male der Ort für Abflug und Ankunft gewesen. »Ich fand immer: Tegel ist der praktischste, zentralste Großstadtflughafen überhaupt.« Leider vorbei: Ein letzter Sommer noch, dann wird der Flughafen Tegel, auf dem Gutsch nun mit den Architekten Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg zusammentraf, end- gültig geschlossen. Und damit endet auch, so Gutsch, eine Ära des Reisens, in der man, »gerade auch in Anbetracht der aktuellen Corona-Pandemie, noch erstaunlich unbekümmert durch die Welt flog«. Seite 46 Fokken TOBIAS KRUSE / DER SPIEGEL Gerkan, Gutsch, Marg Hausmitteilung Betr.: Titel, Amthor, Flughafen Tegel Das deutsche Nachrichten-Magazin harvardbusinessmanager.de Jetzt App downloaden Das Wissen der Besten Die neue Edition – jetzt im Handel Online bestellen meine-zeitschrift.de oder amazon.de/spiegel Change Management So führen Sie Ihr Unternehmen durch die Transformation Unter anderem mit diesen Themen: AGILITÄT So werden Unternehmen schnell und fl exibel HARVARD-KLASSIKER John Kotters Modell der zwei Systeme SELBSTMANAGEMENT Wie Topmanager Krisen überleben UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws 4 DER SPIEGEL Nr. 26 / 20. 6. 2020 Titel Bildung Die Kultusminister wollen nach den Sommerferien zum normalen Schulbetrieb zurückkehren – doch das wird schwierig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Länder Wie die Politik innerhalb weniger chaotischer Stunden entschied, alle Schulen zu schließen . . . . . . . 17 Deutschland Leitartikel Der Skandal um Wirecard ist eine Blamage für den Standort Deutschland . . . 6 Bundestag kritisiert Israels Annexionspläne / Berliner Gedenkstätte für NS-Opfer im Osten / Schuldenfalle Studium / Die Gegen - darstellung / So gesehen: Reich in Not . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Affären Im Lobbyskandal um Philipp Amthor belasten neue Details den CDU-Politiker . . . . . . . . . . . . . . 26 Der Jungstar der Union und Jäger offenbart im Wald seinen Charakter . . . . . . . . . . . 30 Seuchen Auch Bildung und Wohlstand entscheiden darüber, wer sich ansteckt 34 Koalition Der Fraktions - vorsitzende und potenzielle Kanzler kandidat Rolf Mützenich lobt den Führungsstil von Olaf Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Lockdown Haben Gastro - nomen, die wegen Corona klagen, eine Chance auf Schadens ersatz? . . . . . . . . . . . . 38 Analyse Kaum Stau, weniger Lärm, saubere Luft – der Lockdown war auch Ausblick auf die Verkehrs wende . . . . . . . . . 40 Terrorismus Ein Fahnder entschlüsselte das Codesystem der RAF für ihre unter - irdischen Verstecke . . . . . . . . . 42 Reporter Familienalbum / Wie soll man mit Autofahrern reden? . . . . 44 Eine Meldung und ihre Geschichte Auf Tigerjagd mit der britischen Polizei . . . . . . . 45 Legenden Im November wird der Flughafen Tegel geschlossen – ein letzter Besuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Mein Fall Warum ein mut maßlicher Mörder nicht ver urteilt werden kann . . . . . 51 Wirtschaft Gewerkschafter kritisiert Fleischfabrikant Tönnies / Deutsche wollen weniger Mode kaufen . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Handel Großbritannien und die EU rasen auf einen harten Brexit zu – mit fatalen Folgen für die Konjunktur . . . . . . . . . . 54 Datenschutz Firmen suchen nach Alternativen zur Corona- Warn-App des Bundes . . . . . 56 Kommentar Warum der Staatseinstieg bei Curevac ein Fehler ist . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Umwelt China setzt wieder auf den Klimakiller Kohle- strom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Gerechtigkeit Die Ökonomen Anne Case und Angus Deaton im SPIEGEL-Gespräch über das teure und ineffiziente US-Gesundheitssystem . . . . . 60 E-Mobilität An den Ladesäulen könnte es endlich Wettbewerb geben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Inhalt 74. Jahrgang | Heft 26 | 20. Juni 2020 NICOLAS ASFOURI / AFP Der gnadenlose Kampf um den Impfstoff Ohne Schutzimpfung gibt es keinen Weg zurück in die Normalität. In einer beispiellosen Anstrengung arbeiten Forscher weltweit daran. Doch schon jetzt ist klar: Es wird nicht genug Mit- tel für alle geben. Wer wird zuerst bedient? Seite 90 Im Visier Philipp Amthor ist nicht nur Lobbyist, sondern auch Jäger. Zweimal ließ er sich einst vom SPIEGEL bei der Jagd begleiten. Aber nun gerät auch seine Tätigkeit für eine Kanzlei unter Verdacht, Lobbyzwecken gedient zu haben. Seiten 26, 30 DENNIS WILLIAMSON / DER SPIEGEL UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws 5 Titel-Illustrationen: Iris Kuhlmann für den SPIEGEL; Miriam Migliazzi & Mart Klein für den SPIEGEL Pandemie Der weltweite Kampf um einen Impfstoff, den es noch gar nicht gibt . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Sexualität Die US-Autorin Peggy Orenstein berichtet im SPIEGEL-Gespräch von ihren Erlebnissen bei der Exkursion ins Reich junger Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Medizin Können Wohlklänge kranke Herzen heilen? . . . . 101 Kultur Der Künstler Daniel Knorr / Der Film »Der Geburtstag« / Das Poptrio Khruangbin 102 Kolonialismus Sollten Bismarck-Statuen gestürzt werden? . . . . . . . . . . 104 Der namibische Botschafter Andreas Guibeb zum Erbe der deutschen Kolonial - herrschaft in seinem Land 106 Literatur Der Suhrkamp- Verleger Siegfried Unseld hat Berichte über seine Reisen zu Autoren auf der ganzen Welt geschrieben – ein Buch versammelt die Highlights 108 Pop Sängerin Jessie Ware ist nicht nur mit einem neuen Album erfolgreich, sondern auch mit einem Koch- Podcast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Städte Nach der Pandemie ringen Kulturmetropolen wie Amsterdam oder Barcelona um Konzepte für die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Filmkritik Eine Dokumentation porträtiert moderne Väter, darunter Will Smith und Jimmy Kimmel . . . . . . . 115 XINHUA / ACTION PRESS Angst vor dem »Double Dip« Weil Britenpremier Johnson beim Brexit-Poker mit einem harten EU-Austritt spielt, hat auch Brüssel den Kurs verschärft. Europas Konjunktur droht nach der Corona- Rezession ein weiterer Tiefschlag. Seite 54 Das Geschäft läuft wieder an Libysche Menschenhändler kehren in die Küstenstädte zurück. In diesem Sommer könnten sie wieder viel mehr Flüchtlinge nach Norden schicken. Schon jetzt reagieren die Europäer mit Brutalität. Seite 74 Lasst uns über Porno reden Die US-Autorin Peggy Orenstein hat mehr als hun - dert junge Männer zu ihrer Sexualität, ihren Be- ziehungen und Rollenbildern befragt. Die meisten wollten endlich über Pornografie reden – aber nicht über ihre Gespräche in der Umkleide. Seite 98 SCOTT STRAZZANTE / SF CHRONICLE / POLARIS Start-ups Die Krise der Restaurants lässt Liefer dienste wie Delivery Hero boomen . . . . . 64 Ausland Gefährliche Eskalation im Konflikt zwischen Nord- und Südkorea / Frauenmorde in Südafrika . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Geopolitik China bringt durch seine aggressive Außenpolitik weite Teile der Welt gegen sich auf – steht ein neuer Kalter Krieg bevor? . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Libyen Nach Erdoğans Militärintervention droht eine neue Fluchtbewegung nach Europa . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Polemik Der frühere US-Sicher- heitsberater John Bolton beschreibt Donald Trump in sei- nem neuen Buch als dummen Ignoranten – Zeit für weitere unbequeme Wahrheiten . . . . 76 Schweden Die Zweifel am Corona-Sonderweg wachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Italien Stararchitekt Renzo Piano über den Neustart seines Heimat landes . . . . . . . . 80 Sport Was die Pandemie den deut- schen Sport kostet / Gut zu wissen: Warum profitiert Kaisers lautern im Konkurs von Corona? . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Fußball Wie der DFB den Sportvermarkter Infront begünstigte und damit auf Millionen verzichtete . . . . . . . 84 Zuschauer So sollen die Fans zurück ins Fußball - stadion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Wissen Wie Käfer helfen, die Kühlung von Häusern zu verbessern / Analyse: die vergessene Tuberkulose-Tragödie / Suche nach Leben in Höhlen auf dem Mars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 SPIEGEL-TV-Programm . . . . . . 111 Impressum, Leserservice . . . 116 Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 122 UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws 6 Die Zwei-Milliarden-Bombe Leitartikel Das Drama um Wirecard hat die Deutschen ihrer wichtigsten Tech-Hoffnung beraubt und könnte sie nun endgültig von Aktien entfremden. W as wäre das für eine Chance gewesen: endlich mal ein deutscher Global Player, der nicht aus der Automobilbranche oder dem Maschinen- bau stammt. Einer, der Deutschland in einer Zukunftsbranche auf Weltniveau präsentiert, mitten im Herzen des digitalen Kapitalismus. Was hätte Wirecard für Deutschland sein können… Nun steht der Name nicht mehr für die Hoffnungen auf den Standort Deutschland. Er steht für eine Blamage. Das Drama um den Dax-Konzern ist eine Katastrophe für den Ruf der deutschen Finanzbranche und die kümmerliche deutsche Börsenkultur. Geschieht kein Wunder, könnte sich der Kon- zern als größte Luftnummer der hiesigen Börsengeschichte entpuppen und für Deutschlands Finanzaufsicht, seine Wirtschafts- prüfer und auch einen Teil der Medien noch extrem peinlich wer- den. Manches erinnert nun an den Energieversorger Enron in den USA, der auf einem Lügen gebilde basierte, was niemand so richtig sehen wollte. Der Schaden, den Wirecard der Aktienkultur zufügt, ist bereits jetzt immens, auch wenn einstweilen die Unschulds- vermutung gilt und Wirecard alle Vorwürfe zurückweist. Wirecard ist keine Marke, die Verbrauchern viel sagt. Aber im Alltag der meisten ist das Unterneh- men im Hintergrund ständig dabei. Es wickelt die Zahlungen zwischen Einzelhändlern und Endkunden ab, vor allem im Onlinehan- del. Das ist wachstumsträchtig, weil immer mehr Zahlungen über das Internet abgewickelt werden. Wirecard hat das nöti- ge Know-how, hier weltweit konkurrenzfähig zu sein. Doch alle Visionen sind Makulatur, seitdem der Vorstand um Großaktionär Markus Braun am Donnerstag – nach mehrmaliger Verschiebung – noch immer nicht die Geschäfts- zahlen für 2019 präsentieren konnte. Deren Veröffent - lichung hängt seit Monaten in der Luft, weil geklärt werden musste, ob Wirecard Bilanzen frisiert, Deals vortäuscht und Geschäftspartner erfindet, wie Kritiker glauben. Ungeheuer - liche Vorwürfe, die Wirecard auch per Sondergutachten nicht aus der Welt schaffen konnte. Vielmehr offenbarte der Bericht der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG einen Abgrund unseriösen Geschäftsgebarens. Wirecard hatte, noch ehe der Bericht fertiggestellt wurde, heraus - posaunt, das Gutachten werde das Unternehmen entlasten. Der Prüfbericht rüttelte dann endlich Finanzaufsicht und Staatsanwaltschaft wach, es folgte eine Razzia wegen des Verdachts der Marktmanipulation. Die Experten des Wirecard-Wirtschaftsprüfers EY verweigerten ihren Stem- pel, weil Bankguthaben auf Treuhandkonten von mehr als 1,9 Milliar den Euro plötzlich unauffindbar sind; EY hält vom Treuhänder vorgebrachte Belege für möglicherweise ge - fälscht. Ein Betrag, so groß wie ein Viertel der Konzern - bilanz – unfassbar. Werden Kredite in gleicher Höhe fällig gestellt, was Wirecard fürchtet, ist die Existenz bedroht. Ein Zusammenbruch von Wirecard wäre ein Desaster weit über den Konzern und seine 5800 Mitarbeiter hinaus. Ungereimtheiten um die Firma gibt es seit Jahren, ohne dass die Finanzaufsicht, die Bilanz- polizei DRP, die Deutsche Börse oder EY entscheidend ein- geschritten wären. Dass sich Spekulanten, vor allem aber die Londoner »Finan- cial Times« (»FT«) in Wirecard verbissen, sorgte auf deutscher Seite für patriotische Abwehr - reflexe. Anstatt hartnäckig gegen das Management vorzugehen, leitete etwa die BaFin Ermittlun- gen gegen »FT«-Reporter wegen möglicher Marktmanipulation ein; zudem stoppte sie die bei Spekulanten beliebten Wetten auf fallende Kurse – sogenannte Leerverkäufe – zur Freude eines Teils der hiesigen Presse. Zeit- weise schien bei manchem Berichterstatter professionelle Distanz verloren zu gehen im Duell »Frankfurt gegen London«. Die Wirecard-Aktie sackte am Donnerstag um mehr als 60 Prozent ab, Leerverkäufer machten Kasse. Doch nicht sie sind das Problem, sondern unseriöse Geschäftsprakti- ken, mangelhafte Compliance und intransparente Bilanzie- rung, weil erst diese Missstände die Zocker anlocken. Wirecard hätte vergessen machen können, wie schlimm es um die deutsche Finanzbranche bestellt ist, seitdem sich die Deutsche Bank durch Skandale entzaubert hat und die Commerzbank in die Bedeutungslosigkeit geschrumpft ist. Im Leitindex Dax konnte Wirecard die Commerzbank verdrängen. An dieser Erfolgsstory teilhaben zu können wäre eine Chance gewesen, die Deutschen mit der Börse zu versöhnen und mehr Vertrauen in die Aktie als Form der Geldanlage und Altersvorsorge zu gewinnen. Stattdessen könnte die Causa Wirecard das Misstrauen der Deutschen gegenüber dem Kapitalmarkt zementie - ren – zum Schaden der Sparer und der vielen seriösen deut - schen Unternehmen, die sich über die Börse finanzieren. Tim Bartz, Martin Hesse SEBASTIAN ARLT / LAIF Das deutsche Nachrichten-Magazin DER SPIEGEL Nr. 26 / 20. 6. 2020 UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws Jetzt die Corona-Warn-App herunterladen und Corona gemeinsam bekämpfen. DIE CORONA-WARN-APP: HILFT INFEKTIONS- KETTEN ZU UNTERBRECHEN. UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws 8 DER SPIEGEL Nr. 26 / 20. 6. 2020 »Wir bleiben im Krisenmodus« Schulöffnung Am Montag begann für die Schüler der Petri-Grundschule in Dortmund wieder der regu läre Unterricht. Abstands- regeln gelten in Nordrhein- Westfalen für Schüler der ersten vier Klassen nicht. UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws INA FASSBENDER / AFP I n der guten alten Zeit, also vor Corona, freute sich Jacob, 11, jeden Morgen darauf, mit seinem Freund zur Haltestelle zu laufen und mit dem Bus zur Schule zu fah- ren. Seit Mitte März steht er zwar zur selben Zeit auf, um kurz nach sieben, macht sich Früh- stück und sitzt spätestens um acht an seinem Schreibtisch – aber sein Gemütszustand schwankt zwischen müde, lustlos und genervt. Jacob, fünfte Klasse, wäre ja bereit für einen spannenden Onlineunterricht. Doch was ihm sein Gymnasium in Essen derzeit anbieten kann, hat keinen offiziellen Anfang und kein Ende, keine Struktur und keinen Stundenplan. Er fülle Arbeitsblätter aus, mache Aufgaben im Buch, sagt Jacob, eine nach der anderen. »Und ich ler- ne dabei nichts.« Seit drei Monaten geht das nun so. Zwar ha- ben die Schulen in Nordrhein-Westfalen wie in fast allen Bundesländern seit Ende April wieder geöffnet, aber anfangs nur für die Abschlussjahr- gänge, dann für andere Stufen in Kleingruppen, tage- oder wochenweise, mal zwei, mal drei Stunden – ein Rumpfprogramm mit Abstands- regeln. Jacob wird bis zu den Sommerferien an exakt drei Tagen für jeweils vier Stunden mit ei- nem Drittel seiner Klassenkameraden zusam- men gewesen sein. Formal sollten vier Fächer unterrichtet wer- den – Deutsch, Mathematik, Englisch, Kunst –, doch die meiste Zeit, erinnert sich Jacob, »haben wir über das Virus, die neuen Regeln und das Händewaschen geredet«. Letztmalig am kom- menden Mittwoch, das wird es dann gewesen sein für Jacobs fünftes Schuljahr. Und danach? Jacob hat seine Lehrerinnen und Lehrer ge- fragt, wann es wieder losgehe mit richtigem Un- terricht, mit allen Schülern derselben Klasse, eben mit Normalität. »Darauf hatte keiner eine Antwort.« Wer hätte gedacht, dass die Schule mal zum Sehnsuchtsort der meisten Schüler wird? Ge- nervt sind viele, Schüler, Lehrer, Eltern, Bildungs- politiker. Bars schenken wieder Cocktails aus, Kinos zeigen Hollywoodfilme, Mallorca emp- fängt die ersten Touristen aus Alemania. Und in deutschen Schulen geht kaum was voran? Gegen diesen Eindruck kämpfen Kultusminis- ter in wöchentlich wachsender Zahl an. Eine Handvoll Bundesländer öffnete jüngst die Grundschulen für alle Kinder – als wollten sie den Rat des Virologen Christian Drosten vom März, der zur Schließung aller Schulen beitrug (siehe Seite 17), ausradieren. So feierte Nord- rhein-Westfalen am Montag »die Wiederauf - nahme eines verantwortungsvollen Normal - betriebs«, als wäre die Mauer gefallen. Das Erwartungsmanagement, das die Kultus- ministerkonferenz (KMK) auf ihrer Sitzung am Donnerstag betrieb, soll vergrätzte Eltern, ge- langweilte Kinder und verunsicherte Lehrer be- ruhigen. Gemeinsam beschloss man die Rück- kehr zum normalen Schulalltag. Nach den Ferien soll alles besser werden, will Baden-Württem- berg »so viel Präsenz unterricht wie möglich« anbieten, verspricht Brandenburg einen »regu- Coronakrise Bildung Eltern sind verzweifelt, Schüler genervt – und Deutschlands Ministerpräsidenten stehen unter Druck, dafür zu sorgen, dass die Schulen wieder normal laufen. Doch ihre Versprechen sind hohl: Auch nach den Sommerferien werden die Kinder vielerorts ins Chaos zurückkehren. 9 UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws andere (etwa berufliche Schulen) Hauptschulen Realschulen Integrierte Gesamtschulen Grundschulen Gymnasien 2,8 Mio. Schüler 3,7 10,9 Mio. Schüle- rinnen und Schüler verteilen sich wie folgt: 2,2 1,0 0,8 0,4 Schuljahr 2018/19, Quelle: Destatis 42945 Schulen gibt es in Deutschland. ROMAN PAWLOWSKI/ DER SPIEGEL Gudrun Wolters-Vogeler Die Grundschulleiterin sagt: »Wie gut der Laden läuft, hängt vom Organisationstalent der Schulleitungen vor Ort ab.« lären Schulbetrieb«, kündigt Berlin die »schnelle Rückkehr zum Regelbetrieb« an. Das klingt gut und ist doch hohl. Denn im Nebensatz vergisst kein Politiker den Zusatz »wenn es das Infektionsgeschehen erlaubt«. Oder »unter Pandemiebedingungen«. Und dass die Pandemie nach den Sommer - ferien vorüber ist, davon geht kein Virologe aus. Hygieneregeln wird es bis auf Weiteres geben. Ein normaler Schulbetrieb, das wissen auch die Bildungspolitiker, ist auf absehbare Zeit eine gro- ße Illusion, ein Potemkinsches Dorf. Umso mehr müssten Kultusminister, Schulbe- hörden und Schulleiter die Zeit bis zum Beginn des neuen Schuljahrs nutzen, um aus den Erfah- rungen der letzten drei Monate zu lernen. Um Lehrer und Schulen fit zu machen für den Coro- na-Modus. Genau daran fehlt es aber. Was auch immer in den vergangenen Tagen von den Län- dern verkündet wurde: Ein bundesweit trag - fähiges Konzept für einen pädagogisch wertvol- len Mix aus Fern- und Präsenzunterricht, ein Plan B, der sicherstellt, dass das Recht auf Bil- dung auch eingelöst wird, wenn irgendwo ein viraler Hotspot hochploppt, war nicht dabei. In anderen Branchen führte die Pandemie zu großen Umbrüchen, zu Innovationen und einem neuen Spirit. Wer hingegen in den vergangenen Corona-Wochen die kleinteiligen und kleingeis- tigen Debatten über Schülerrechte und Lehrer- pflichten verfolgte, sah viel Widerstand und we- nig Fortschritt. Und in den meisten Ländern wird die Fortbildung ruhen, werden Lehrer in die Fe- rien fahren. Gudrun Wolters-Vogeler, 55, die Vorsitzende des Allgemeinen Schulleitungsverbands, sieht die Zukunft nüchtern, es werde im neuen Schul- jahr weitergehen wie bisher: »Die Kultusminis- ter machen kurzfristige Ansagen – und wie gut der Laden läuft, hängt vom Organisationstalent und vom Engagement der Schulleitungen vor Ort ab.« Aus der Stimme der Leiterin einer Ham- burger Grundschule klingt Resignation: »Wir bleiben im Krisenmodus.« Für viele Wochen im März und April fuhr Deutschland auf Sicht, weil man es mit einem unbekannten Virus zu tun hatte. Was die Schulen angeht, hat sich die Strategie seitdem kaum geändert. Egal ob es um die medizini- schen, die organisatorischen, die pädagogischen oder die psychologischen Herausforderungen geht: Die Politiker tasten sich durchs Jahr, elf Millionen Schüler und ihre Eltern müssen mit den Konsequenzen leben. Zu befürchten ist, dass es nach den Sommerferien vielerorts ähn- lich chaotisch weitergeht wie in diesen Tagen. Dass der Blick zurück auch ein Blick in die Zukunft ist. DAS VIRUS: Was ist, wenn einer hustet? Seit dieser Woche sind die Grenzen innerhalb der EU weitgehend wieder offen, rechtzeitig zur Feriensaison. Das wird, so befürchten Epide - miologen, nicht folgenlos bleiben. Wenn Men- schen aus dem Sommerurlaub zurückkehren, könnte die Zahl der Neuinfektionen wieder stei- gen, wie es etwa Hamburg nach den Skiferien im März erlebte. Wie sich ein solcher Anstieg auf den Schul - betrieb selbst in einem vorsichtigen Land aus- wirken kann, zeigte sich kürzlich in Israel. An- fang Mai hatte der Staat den Unterricht unter strengen Auflagen wieder zugelassen. Gut einen Monat später mussten knapp 200 Schulen ge- schlossen werden. Bei mehr als 500 Schülern und Lehrern wurde Sars-CoV-2 nachgewiesen. Mehr als 150 Fälle betrafen ein einziges Gym- nasium in Jerusalem – eine Schule als Hotspot. Vermutlich trug ein Pädagoge das Virus als Su- perspreader weiter: Rund 26000 Schüler und Lehrer befanden sich vergangene Woche in häus- licher Quarantäne. Ähnliche Szenarien spielten sich, in kleinerem Maßstab, auch schon in Deutschland ab. Im Kreis Gütersloh hatten die Schulen gerade wie- der geöffnet, als zahlreiche Corona-Fälle in einer Fabrik des Fleischfabrikanten Tönnies in Rhe- da-Wiedenbrück bekannt wurden. Nachdem am Mittwoch mehr als 650 Neuinfektionen regis- triert worden waren, zogen die Behörden die Reißleine: Sämtliche Schulen, Kitas und Tages- betreuungsangebote wurden dichtgemacht, bis zu den Ferien zum Monatsende ist es rund um Gütersloh wieder so wie während des Lock- downs im März. Viele Tönnies-Mitarbeiter ha- ben schulpflichtige Kinder, mit der radikalen Schließung sollen die Infektionsketten unterbro- chen werden. Zuvor waren es in Münster fünf Schüler und zwei Lehrkräfte, die positiv auf das neuartige Coronavirus getestet wurden – woraufhin die Stadt sämtliche Schüler und Lehrer der Haupt- schule testen ließ. Bis alle Ergebnisse vorlagen, fiel der Unterricht in der Schule für mehrere Tage aus. Und in Wuppertal blieb die Grund- schule Peterstraße genau einen Tag geöffnet, dann wurde bei einem Kind Covid-19 festgestellt. Das Gesundheitsamt schickte alle Schüler bis zum Ferienbeginn in Quarantäne. Wie fragil die neue Normalität selbst in einem Bundesland mit sehr geringen Infektionszahlen sein kann, vermag die sachsen-anhaltinische Hauptstadt Magdeburg seit dieser Woche zu be - zeugen. Elf Schulen befinden sich für 14 Tage in Zwangspause, nachdem Dutzende Corona- Infektionen entdeckt wurden. Die Fälle zeigen, was die Kultusministerinnen und -minister meinen, wenn sie von »Unterricht unter Pandemiebedingungen« sprechen. Solan- ge es keine Impfung gibt, wird es wohl auch kei- ne Normalität geben – das hat Chinas Metro- pole Peking diesen Dienstag erfahren und auf- grund eines neuen Ausbruchs alle Schulen ge- schlossen. Womit ist also zu rechnen? Mit einem Lehr- betrieb im Stop-and-go-Modus? Einer 180-Grad- Wende mit der Bereitschaft, Risiken einzuge- hen? Oder Ferien für immer? Wenn man das, was Schüler und Lehrer gerade erleben, zu Fe - rien umdeutet. Solange es in Deutschland – obwohl von Vi- rologen empfohlen – für Schulen nicht mal eine 10 DER SPIEGEL Nr. 26 / 20. 6. 2020 UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws