ARBEITSGEMEINSCHAFT FüR FORSCHUNG DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN GEISTESWISSENSCHAFTEN Si tzung am 24. November 1954 in Düsseldorf ARBEITSGEMEINSCHAFT FüR FORSCHUNG DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN GEISTESWISSENSCHAFTEN HEFT 37 Herbert von Einem Der Mainzer Kopf mit der Binde SPRINGER FACHMEDIEN WIESBADEN GMBH ISBN 978-3-322-98024-3 ISBN 978-3-322-98651-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-98651-1 Copyr.i&ht 1955 by Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen 1955 Vorwort Die nachfolgende Aibhandlung ist am 24. November 1954 in der Sitzung der ArbeitlSgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Abteilung Geisteswissenschaften, ,in Düsseldorf vorgetragen worden. Sie löste eine lebhafte Diskussion aus, an der sich vor allem die Herren Prof. Dr. Josef Kroll, Köln, Prälat Prof. Dr. GeOlig Schreiber, Müns'ter i. W., Prof. Dr. Theodor Klauser, Bonn, und Prof. Dr. earl Arnold Willernsen, Bonn, be teiligt haben. In dieser Diskussion, die die in demV ortrag aufgewiesenenBezre hungen zwischen der quellenmäßig überlieferten Kr.euzfigur des Mainzer Lettners zu Vitruv und die kosmologische Ausdeutung der Kreuzfigur be stätigte und vertiefte, wurde verschiedentlich die Zugehörigkeit des Kopfes mit der Binde zu der Kreuzf~gur in Zweifel gezogen und auf Grund der bislang noch nicht genügend erklärten Binde die Mögl,ichkeit einer anderen DootuIlJg des Kopfes (etwa aIs Daniel?) erwogen. Ein Beweis für die Zu gehörigkeit des Kopfes zu der Kreuzfigur kann in der T'at nicht erbracht werden (um so weniger, als sein Fundort nicht mehr feststellhar ist), aher die Ähnlichkeit mit den Köpfen der Kreuzfiguren in St. Emmeran in Mainz (im Krie.gezel"stött) und in der Ritterkapelle in Haßfurt, ferner die Gleichheit des Maßstabes, des Materials und der Farbspuren bei den 1925/26 gefunde nen Bruchstücken der Mainzer KreuzfiglUr sprechen dafür, daß Otto Schmitts These der Zugehörigkeit zu Recht besteht. Die DeutuIlJg der Binde ist freilich noch nicht überzeugend gelungen. Sie bleibt auch ,in meinem Versuch noch offen. Prof. Dr. Willemsen, der in einem Korreferat die AMehnung der These des Kopfes .als Bildnis Kaiser Friedrichs H. näher begründet hat, hofft in absehbarer Zeit der Ariheitsgemeinschaft ,eine 2lusammenfassende Abhand lung über die Bildnisse Friedrichs H. vorlegen zu können. Ich möchte ihm an dieser Stelle meinen ,aufrichtigen Dank für die Neuaufnahmen des Mainzer Kopfes und der Haßfurter Gewölbefigur sagen. Herbert von Einem. Der Mainzer Kopf mit der Binde Zur Deutung der Gewölbefigur des Westlettners Professor Dr. phi!. H erbert von Einem, Bonn I. Der Kopf mit der Binde im Mainzer Dommuseum harrt immer noch der richtigen Deutung. Zwar ist sein künstlerischer Rang frühzeitig erkannt worden. Daß wir es mit einem Werk des Naumburger Meisters zu tun haben, darf als gesichert gelten. Auch seine Zugehörigkeit zu der aus Quellen überlieferten Gewölbefigur des nur in wenigen Bruchstücken erhaltenen Westlettners des Mainzer Domes ist (wie wir gleich sehen werden) so gut begründet, daß ein Zweifel nicht erlaubt scheint. Aber was diese Gewölbe figur darstellt, und wie wir also den so ungemein ausdrucksstarken Kopf deuten sollen, darüber herrscht immer noch Unklarheit. Dennoch muß ein leuchten, daß auch die künstlerische Deutung so lange unvollständig und unbefriedigend bleiben muß, wie die gegenständliche Bedeutung nicht richtig erkannt ist. Die vorliegenden Versuche, hier Klarheit zu schaffen, sind ent weder im ganzen oder doch zum Teil irrig. Wo aber ist die richtige Deutung zu finden? II. Das circa 25 cm hohe Fragment aus hellgrauem Sandstein mit starken Resten von Bemalung (Wangen: Fleischfarbe, Haare: blond, Binde und Lippen: dunkelrot) stellt einen jugendlich männlichen Kopf von kräftiger Bildung (breiter, fast rechteckiger Stirn, weit ausladenden Backenknochen, kräftigem Kinn und straffem Fleisch) dar. Zerstörungen am Hinterkopf, oberer Kopfpartie, linker Seitel und Nase. Die Haare sind nach der für das 13. Jahrhundert charakteristischen, weltlich-feudalen Tracht mit kurzen 1 Hier ist in neuester Zeit eine Locke abgebromen, die auf älteren Photographien nom zu sehen ist. Sie soll nam Aussage der Museumsverwaltung noch vorhanden sein. H. von Einem, Der Mainzer Kopf mit der Binde © Springer Fachmedien Wiesbaden 1955 10 Herbert von Einem Stirnlocken in der Mitte gescheitelt und hängen nach den Seiten, gleich mäßig gekämmt, halblang offen herab. (Die linke Seite ist weggebrochen.) Um den Kopf ist turbanartig eine Binde geschlungen, die in der Mitte nur wenig Haar frei läßt und fast den Eindruck einer Mütze erweckt. Der Aus druck hat durch die tiefliegenden Augen, die über ihnen steil ansteigenden Bögen der Brauen und durch den wie zum Sprechen geöffneten Mund eine Gespanntheit, die aber nicht 'so sehr eine bestimmt fixierbare Mimik wie eine allgemeine Beseeltheit von freilich dunkler und leidvoller Tiefe wider zuspiegeln 'scheint (Abb. 1-7). Der Kopf ist von Otto Schmitt mit einer Figur in Verbindung gebracht worden die der Mainzer Domherr Jacob Christoph Bourdon (seit 1700 2, Domvikar, gest. 1748) 1729 vielleicht noch aus eigener früher Kenntnis des Westlettners im Dom beschrieben hat. In seinen "Epitaphia in Ecclesia Metropolitana Moguntina" lesen wir: "Olim in vestibulo et exitu chori supra in fornice vrsebatur statura humana bracchiis pedibusque in modum crucis extenta et satis antiqua tenens in manu dextra libram et in sinistra duos urceos cum scedula continente: Quattuor hic posita: mixtura, leo, draco, libra, Signant temperiem, vim, ius, prudenter agentem. Habebat insuper sub pede dextro draconem et sub sinistro leonem." Zu 3 deutsch: "Einst befand sich im Lettner und im Ausgang aus dem Chor oben im Gewölbe eine menschliche Figur, die Arme und Beine in Kreuzform aus streckte und sehr alt war. Sie hielt in der rechten Hand eine Waage und in der linken zwei Krüge mit einem Schriftband: Zu viert sind dargestellt: Mischkrug, Löwe, Drache und Waage, Darzustellen Mäßigkeit, Kraft, Recht und kluges Handeln. Außerdem hatte die Figur unter dem rechten Fuß einen Drachen, unter dem linken einen Löwen." - Wie die Figur ausgesehen hat, vermögen zwei Nachbildungen zu zeigen: die erste (leider im letzten Krieg zerstört) im Chor von St. Emmeran III 2 Otto Schmitt, Der Kopf mit der Binde. Oberrheinische Kunst, V, 1932. 3 Manuskript, das in mehreren Abschriften vorhanden war. Ich habe das Exemplar des Mainzer Priesterseminars benutzt. Das Exemplar der Mainzer Stadtbibliothek ist im letzten Kriege verbrannt. Das Exemplar des Mainzer Bischöflichen Ordinariates ist mir leider nicht zugänglich gewesen. - VgI. Franz Falk, Symbolik der vier Kardinaltugen den. Kirchenschmuck, 23, 1868. - Die Kunstdenkmäler der Stadt und des Kreises Mainz, II, Darmstadt 1919, S. 152 f., S. 166 und 169. - VgI. ferner E. Neeb, Zur Geschichte der heutigen Chorbühnen und des ehemaligen Lettners im Westchor des Mainzer Domes. Mainzer Zeitschrift 1915, S. 47. Der Mainzer Kopf mit der Binde 11 Mainz aus der Mitte des 14. Jahrhunderts 4, die zweite im Gewölbe der Portalvorhalle der Ritterkapelle in Haßfurt aus den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts'. In St. Emmeran war die Figur mit einem langen, schma len Tuch bekleidet, das, um die Oberschenkel geschlungen, an den Flanken des Oberkörpers entlang zog, hinter der linken Schulter vorbei und über die rechte Schulter geschlagen war und von da aus wieder entlang der Fhnke zur Rückseite des linken Oberschenkds weiterging. Brust, BalUch und Glied maßen wa.ren nackt. Den Kopf bedeckte eine phrygische Mütze. Das lange Haar fiel bis auf die Schultern herab (Abb. 8). In Haßfurt ist die Figur bis auf einen Lendenschurz aus Pflanzenmotiv·en und eine phrygische Mütze nackt (A:hb.9-14). Bei Ausg.rabungen an läßlich der Wiederherstellung des Mainzer Domes in den Jahr,en 1925/26 sind von der Lettnerftigur einige Bruchstücke zum Vorschein gekommen ein Stück des rechten Armes und 6 : das Bruchstück des linken Knies. Beide Stücke sind mit frühgotischen Ge wölberippen v'erbunden. Das Armfmgment (Unterarm ohne Hand und etwa die Hälfte des Oberarmes) hat eine Länge von ca. 45 cm. Das Material der Bruchstücke ,ist das gleiche wie das des Kopfes: hellgrauer Sandstein, eben falls mit Resten der Bemalung (Abb. 15-17). Nach den Nachbildungen in St. Emmer,an und Haßfurt und den Funden von 1925/26 kann kaum ein Zweifel besvehen, daß der Kopf mit der Binde zu der von Bourdon beschrie benen F~gur gehört hat. Stellt man sich diese Figur in Lebensgröße unter dem nicht sehr hohen Gewölbe der Lettnervorihalle als Schlußstein vor, so muß der Eindruck für den durch den Lettner Hindurchschreitenden von über raschender Groß1artigkeit gewesen sein. 4 Die Kunstdenkmäler der Stadt und des Kreises Mainz, Bd. H. Die kirchlichen Kunst denkmäJer der Stadt Mainz, hearb. von Ernst Neeb, Kart Nothnagel und Fritz Arem. ,oarmstadt 1940, S. 106, Tafel 3Oc. Die Beschreibung :und Deutung von Fritz Arens. - Die Gestalt war aus einem Stülk mit den Rippen aus rotem Sa.ndstein gearbeitet. Da das Gewölbe entspredJend seinem q,ucrrechtelkigen Grundriß die Ja.nge Seite senkrecht z,ur Achse hatte, w,ar auch die Gestalt senkrecht zur Achse angebracht. Wichtig ist d,ie Einord nung der Figur m das Programm der Schlußsteine: im Chor selbst Chr.istus, ,im Chorvorjoch die Kreuzf,i!?lW', im ersten Mitte:lschiffjoch die vier EvangeJisten, ·im zweiten Mitte:lschiffjoch ein segnender LBischof, vieIJcidtt der hl. Emmeran, vgl. Arens, S. 106 f. Arens deutet die Kremfi~r als Christrus.symbol. 5 Die Kunstdenkmäler des Königreichs Bayern. Unterfranken IV, hearb. von Hans Karlinger, München 1912, S. 62, Fig. 35. Die Figur ist ,in der nelke der schmal'en Portal vorhalle angebracht. Sie bedürfte auf ihren Erhaltungszustand hin emer genauen Unter sumung. e Vgl. Werner Noack, Funde vom Westlettner des Mainzer Domes. Zeitschrift für Denkmalpflege, I, 1926/27. Vgl. auch Otto Schmitt, Das Mainzer Dommuseum und die deutsche Bildhauerkunst des 13. Jahrhunderts. Festgabe für G. Lenhart, Mainz 1939. 12 Herbert von Einem Ill. Solange der Kopf allein bekannt war, hat man in ihm einen Propheten (vielleicht zu einer Vision des jungen Daniel gehörig) vermutet Die Ge 7. wölbefigur hat Otto Schmitt dann aber als Symbol der Königssalbung mit der sinnbildlichen Verleihung der Kardinal tugenden angesprochen Er weist 8. darauf hin, daß der deutsche König während der der Salbung vorausgehen den Litanei "in cruee", "in erueem" oder "in erueis modum prostratus", also kreuzförmig mit zur Erde gewandtem Antlitz auf dem Boden liegen mußte, und daß in den Begleitgebeten alle Tugenden auf ihn herab gefleht wurden Den Grund für die Anbringung eines solchen Symboles der Königs 9. salbung am Lettner sieht Schmitt in dem Anspruch auf das Recht der Königs krönung, den der Erbauer des Lettners, Erzbischof Siegfried IH. von Epp stein, erhoben hatte: in der Tat zeigt der Grabstein des 1249 Verstorbenen den Kirchenfürsten, wie er den Gegenkönigen ,des Staufenkaisers F riedriehs H., Heinrich Raspe und Wilhelm von Holland, die Krone aufs Haupt setzt. Schmitts These ist von Erika Doberer in ihrem kürzlich erschienenen Auf satz "Ein Denkmal der Königssalbung" aufgegriffen und bekräftigt wor den Die Verfasserin zieht zur Stütze dieser These den freilich erst 1372 10. (also ca. 140 Jahre nach der Entstehung des Mainzer Lettners) geschriebenen Kommentar des Jean Golein zu dem ebenfalls erst dem 14. Jahrhundert angehörigen Ordo der französischen Königsweihe heran. Schon vorher hatte sich Ferdinand Kutsch die gleiche These zu eigen gemacht und den Kopf als Bildnis des jugendlichen Friedrich H. "um 1212" (dem Datum seiner Krö nung in Mainz) angesprochenll - ein Gedanke, den Gertrud Bäumer ihrer Erzählung "Das königliche Haupt" zugrunde gelegt hat12• Die These, daß die Gewölbefigur des Lettners ein Symbol der Königs salbung sei, ist wenig überzeugend. Selbst wenn man die politischen Er wägungen für gerechtfertigt hält (daß der Mainzer Erzbischof durch das 7 Vgl. Schmitt, Der Kopf, a. a. 0., S. 12. 8 Vgl. Schmitt, Zur Deutung der GewölhefiglUr am ehemaJigen WestlettneT des Mamzer Domes. Festschrift für HeinTich Schrohe, 1934, Tafel 1. 8 Vgl. Georg ~itz, Die Formeln der deutschen Königs- und römismen Kaiserkrönung vom 10.-12. Jahrhundert. Abhandlungen der Kgl. Gesellsmaft der Wissenschaften zu Göttingen, 1873. 10 Erika DobeTeT, Ein Denkmal der Königssalbung. Forsmungen zur Kunstgeschimte und mristlimen Armäologie, II, Baden-Baden 1953, S. 321 H. 11 Ferdinand Kutsch, Der Mainzer Kopf mit der Binde, Mainzer Zeitsmrift 1950, S. 65 H. 1! GertTud Bäumer, Das königliche Hauipt, Tü:bingen und S~uttgart 1951.