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Das Lied des Verschwindens PDF

321 Pages·2010·2.41 MB·German
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TOM ARDEN Der Kreis den Orokons 5 Das Lied des Verschwindens 2 1. Das Heiligtum der Flamme Inmitten des Wüstenreichs von Unang Lia erheben sich die felsigen, leuchtend roten Gipfel des Theron-Massivs. Sie ragen schroff in den wolkenlosen Himmel. Unbeweglich thront das gewaltige Gebirge in einem Meer aus Treibsand. Wenn die Sonne hoch am Himmel steht, glühen die zerklüfteten Gipfel wie in einem orangeroten Feuer. Neigt sich der Tag dem Ende zu, verändert sich auch das Glühen. Es wird dunkler, erst purpurrot, dann grün und schließlich blau. Aber immer leuchtet in diesem Farbenspiel ein Strahl, der heller ist, klar und golden, und der wie ein Leuchtfeuer auf der Hochebene brennt. Auf den Reisenden, der es zum ersten Mal sieht, wenn er die trockenen Wüsten durchquert hat, muss dieses Leuchtfeuer fremd- artig und beunruhigend wirken. Ein Ausländer mag vielleicht die Augen zusammenkneifen und mit pochendem Herzen diese Pracht bewundern. Ein Einheimischer aus Unang würde sich jedoch sofort in den Sand werfen und den Namen der Heiligen Stadt rufen. Kal-Theron! Denn nichts anderes ist das goldene Leuchten auf der Hochebe­ ne! Im weit entfernten Sosenica, in Yamarind und Emascus, auf den Inseln von Zoebid und an der Küste Qatanis wird jede Anrufung dieses Namens von einem Segenswunsch begleitet. Jahr für Jahr strömen die Pilger nach Kal-Theron, verlassen ihre kargen Hügel, ihre duftenden Haine, ihre Marktplätze und Paläste und ihre schat­ tigen Gassen. Viele sind krank, andere alt, aber trotzdem machen sie sich unverzagt auf die Reise. So mancher von ihnen wird sterben, aber was macht das schon? Verliert ein Unangese auf dem Weg nach Kal-Theron sein Leben, gewinnt er damit das Versprechen auf ewi­ ge Seligkeit. 3 Als die Sonne heute hinter den Bergen versinkt, vibriert die Hei­ lige Stadt vor Leben. Fackeln blaken, Trommeln werden geschlagen, der Duft von Räucherkerzen erhebt sich mit den Gesängen in den Himmel. Gefeiert wird das Fest des Propheten. Im Großen Kalen­ der von Unang, mit seinem komplizierten Rechenwerk der Um- laufbahnen und Umdrehungen, Sternenbewegungen und Mond­ phasen, sind viele heilige Tage festgelegt. Aber keiner ist so wichtig wie dieser. Fünf Tage lang haben die Gläubigen gefastet und gebe­ tet. Jetzt, am Abend des fünften Tages, drängt sich eine riesige Men­ schenmenge vor einem gewaltigen Gebäude, das sich am Ende eines breiten Boulevards erhebt. Das mit Rubinen, Granaten und Ame- thysten reich verzierte Bauwerk ist das Heiligtum der Flamme, der größte Tempel der Anhänger des Theron. Nur wenigen ist je ver­ gönnt, einen Blick in das Innere des Gebäudes zu werfen. Die Men­ schen, die sich hier ehrfürchtig versammelt haben, wissen nur, dass hier, in diesem gewaltigen, juwelenbesetzten Bauwerk, die Heilige Flamme lodert. Die Erregung der Massen heizt die Nacht noch mehr an. Der Höhepunkt der Feierlichkeiten steht unmittelbar bevor. Schon bald wird Kaled, der Sultan des Vereinigten Unang, die Treppe zum Hei­ ligtum hinaufschreiten und durch die gewaltigen Türen verschwin- den. Drinnen wird er in die Flamme blicken, so sagt man, und Zwie­ sprache mit Therons Geist halten, wie schon seine Vorfahren es ge- tan haben. Dann wird der Moment kommen, auf den alle gewartet haben. Der Sultan wird wieder aus dem Gebäude heraustreten, auf der obersten Stufe der mit Rubinen geschmückten Treppe stehen bleiben und auf die Menschenmenge hinunterblicken. Alle Blicke sind auf ihn gerichtet und alle Ohren gespitzt, begierig, die beruhi­ genden Worte wahrzunehmen, die er aussprechen wird ... muss: Die Flamme brennt. Diese wenigen Worte genügen, wie sie schon immer genügt ha­ ben. Danach erhebt sich Geschrei, werfen sich die Menschen nieder und kreischen laut vor Freude. 4 Aber noch ist es nicht so weit. Noch lauert die Ekstase nur, bebt al­ les vor fiebriger Erwartung. Sultan des Mondes! Sultan der Sterne!, tönt der dumpfe Singsang der Massen. Unter zahllosen Turbanen rinnt der Schweiß, Schleier wehen sacht über die Gesichter der Frau- en und bewegen sich unter ihren aufgewühlten Atemzügen. Dann die ersten Seufzer, die Rufe! Die Zeit ist gekommen! Hör­ ner schmettern an den Toren des großen Gebäudes am anderen Ende des Boulevards, das man den Palast des Wisperns nennt. Die Menge wogt aufgeregt hin und her, als der prächtig gewandete Sultan vor sein ergebenes Volk tritt. Ihm voraus schreitet seine Leibwache, die wie ihr Herr in den ma­ jestätischen Farben des Feuers gekleidet ist. Einige Wächter tragen Speere, andere Krummsäbel, wieder andere führen Löwen mit sich, die an ihren Ketten zerren. Dazwischen schlagen herrliche Eunu- chen die Trommeln, trillern auf Flöten, wirbeln umher und tanzen, gehüllt in Gewänder aus Seide und Damast. Kräftige Sklaven tragen die reich verzierten Sänften, überladen mit Troddeln, Kissen und schwankenden Lampen. Der Monarch scheint über den Boulevard zu schweben. Er sitzt in der Haltung des Segnenden auf seinen Kis- sen: im Lotussitz, mit gesenktem Kopf und hoch erhobenen Armen. Sultan! Sultan!, ertönen die Rufe aus zahllosen Kehlen, einige stöh­ nen, wehklagen, strecken ihm die Hände entgegen, andere klatschen und wiegen sich, stimmen spontan die Hymne an, die sie alle ken- nen und die die Größe ihres Führers besingt: - Sultan der Sterne! Sultan des Mondes! - Können wir hoffen, dich zu fangen, wenn du bald vorüberkommst ? - Einfaltspinsel, herunter mit euch von den Sparren! - Ihr werdet vielleicht in Triumphwagen den Himmel kreuzen. - Doch niemals den Sultan von Mond und Sternen fangen! 5 Zunächst haben alle nur Augen für den Sultan. Ihm folgen schwan­ kend zwei weitere Sänften. Obschon beide längst nicht so prächtig sind wie die erste, werden sie schon bald Ziel der hingebungsvollen Erregung der Menschen. Denn in ihnen sitzen diejenigen, die das Heiligtum betreten werden. Die Begleiter des Sultans sind zwei wunderschöne Jungen, die ihre Hände gefaltet haben und sie zum Gebet gen Himmel strecken. Der eine ist groß und schlank und mit Kränzen aus Lotusblüten und Jasmin geschmückt. Es ist Prinz Dare, der einzige Sohn des Sultans. Er stattet der Flamme seinen ersten Besuch ab. Die jungen Männer betrachten ihn neiderfüllt, Mädchen fallen in Ohnmacht. Der Prinz steht an der Schwelle zum Mann, und bald wird die Zeit kommen, da er seine erste Braut erwählen und seinen angestammten Platz im Geschlecht des Propheten einnehmen wird. Der Junge in der Sänfte hinter ihm trägt eine schlichte Robe. Die­ ses junge Mitglied der Akademie der Imams ist nur als der Novize der Flamme bekannt. Noch vor einem Tag trug er einen anderen Na­ men, doch schon jetzt ist dieser Name selbst für ihn verloren, ver- zehrt vom Feuer des Vergessens. Bei jeder Sonnenwende wird ein Junge aus der Akademie für die Flamme auserwählt. Der Novize symbolisiert das Band zwischen dem Sultan und der Ordnung der Dinge, und deshalb wird sich heute Nacht in den Augen dieses Jun­ gen der Schein der Flamme spiegeln. Ist das Zwiegespräch beendet, wird der Novize allerdings das Heiligtum nie wieder verlassen. Die Heilige Flamme wird das Letzte sein, was er in seinem Leben sieht. Keinem Unangesen könnte eine größere Ehre zuteil werden. Ehrerbietung schlägt dem Novizen entgegen, Gebete und demütige Verbeugungen begleiten ihn auf seinem Weg. Denn seit dem Au­ genblick seines Auftretens schwebt über diesem unschuldigen Jun­ gen der Schein des Heiligen. Was geht dem Novizen wohl durch den Kopf? Er hockt mit ge­ schlossenen Augen in seiner schwankenden Sänfte, seine Miene ist ausdruckslos und seine Haltung feierlich. Vielleicht hat er sich von 6 allen Gedanken befreit, wie sein spiritueller Meister es ihn lehrte, vielleicht hat sich sein Bewusstsein bereits von ihm gelöst, ohne die Menge oder das Gesicht in der Sänfte vor sich zu bemerken, das ihm zugewendet ist. Es gehört Prinz Dare, der aschfahl vor Furcht den Namen ausstößt, den der Novize nie wieder tragen wird. »Thal!« Doch er korrigiert seinen Lapsus sofort. Der gertenschlanke Prinz reißt sich zusammen, drückt wieder die Hände, die sich ihm ehr- fürchtig entgegenstrecken, und presst wie der Novize die Augen fest zusammen. Er hofft, dass der Junge hinter ihm auch sein Bewusstsein so fest verschlossen hat, vor der Erinnerung und vor allem vor dem Begehren. Sie müssen ihre Pflicht erfüllen, das steht außer Frage. Aber wie hart ist das Schicksal, wie bitter ist es, dass von allen Novi- zen ausgerechnet Thal für die Flamme erwählt worden ist! Thal war seit seiner Kindheit der liebste Freund des Prinzen. Aber das war gestern, und heute ist er nicht mehr Thal. Die Zeremonie beginnt. Der Sultan steht auf den rubinroten Stufen, neben sich sein hoch gewachsener Sohn und der Novize. Hinter ih­ nen stehen in respektvollem Abstand Imams, Wachen und Eunu­ chen, aufgereiht nach Rang und Namen. Die Musik und die Gesän­ ge steigern sich in einen beinahe wahnsinnigen Rausch; dann breitet der Monarch die Hände aus, und wie ein Sargtuch legt sich Schwei- gen über die Menge. Die Gläubigen werfen sich auf dem Boulevard nieder und pressen die Stirn auf die Pflastersteine. Über ihnen schwingen die großen Tore nach außen. Jetzt ist es an dem Novizen, vorauszugehen. Jemand drückt ihm ein Weihrauchfass in die Hand. Die Wachen und selbst die Imams weichen zurück und bilden eine Gasse. Die Eunuchen sehen zu und summen eine wortlose Melodie. Thal - denn natürlich ist er noch derselbe Junge - starrt nach vorn und schluckt mühsam. Zitternd betritt er die finstere Höhle. Er ist verwirrt, denn er hatte die orangefarbene, lodernde Glut eines Brennofens erwartet. Wo ist die Flamme? 7 Doch diese Dunkelheit hält nur einen Moment an. Nachdem sich die Tür geschlossen hat, lockt ein orange-rot-goldenes Glühen den Novizen weiter auf seinem letzten Gang. Langsam und ehrfürchtig schreitet er voran, wie sein Lehrer es ihm gesagt hat. Wie eisig die Krallen der Furcht sind, die ihn gepackt hält! Wie seine Entschlossenheit schwankt! Das Weihrauchfass in seiner Hand pendelt ungewollt. Der Rauch treibt ihm Tränen in die Augen. Oder muss er einfach nur weinen? Vor sich sieht er eine gewaltige Fels- wand, doch da, in der äußersten Ecke, findet sich unter einem Bo­ gen ein Durchgang, hinter dem eine Treppe hinabführt. Er stockt. Einen Augenblick würde er am liebsten zum Prinzen zurücklaufen. Doch als er den Kopf unmerklich dreht, sieht der dem Untergang geweihte Novize aus den Augenwinkeln das glitzernde Visier eines Ebahn-Wächters. Der Wachtposten taucht aus dem Dunkel auf wie ein Phantom. Er ist vollkommen in Gold gekleidet und hält eine Sense in der Hand. Thal wendet rasch den Blick ab, doch da bemerkt er noch einen Wächter und dann noch einen. Sie erscheinen wie Geister aus der Finsternis. Er zittert und ringt nach Luft. Also gibt es die Ebahns tatsächlich! Sein ganzes Leben lang hat er von diesem Korps gehört, aber bis jetzt war er sich nicht sicher, ob die Geschichten über sie der Wahrheit entsprechen. Er kannte ihre Legende sehr gut. Es wurden nur die besten jun­ gen Ebahn-Sklaven ausgewählt und in den Kellern unter dem Hei­ ligtum sorgfältig ausgebildet. Die Bestimmung dieser Wächter ist es, niemals den heiligen Ort zu verlassen. Sie verbringen ihr Leben in der Gegenwart der Flamme, aber dennoch sollen diese Ebahns die Flamme niemals sehen. Alle, auf die die Wahl fällt, werden sofort ge- blendet, doch dafür sind ihre anderen Sinne aufs Äußerste geschärft. Der entsetzte Novize schwitzt und bebt und geht unsicheren Schrittes zur Treppe, flankiert von dieser Phalanx einschüchternder Wächter. Mittlerweile hat er alles vergessen, was man ihn über sein heiliges Schicksal lehrte, sein Privileg, das Ansehen, das er jetzt bei 8 den Gläubigen genießt. Er würde auf der Stelle selbst die kleinste Gelegenheit zur Flucht ergreifen, aber nirgendwo tut sich ein Aus­ weg auf, bietet sich ein Schlupfloch. Die schweren Schritte der blin- den Wachen hallen laut von den Steinwänden wider. Die Wendel­ treppe führt immer tiefer hinab, weit unterhalb der Boulevardhöhe. In den Epizyklen, die verstrichen sind, seit der Prophet die Flamme fand, haben viele vergessen, dass dieses große, mit Juwelen ge­ schmückte Heiligtum wie ein Grabmal über einer felsigen Höhle in dem Berg errichtet wurde. Das Licht, das den Novizen und seine blinden Begleiter umgibt, ist zunächst nur ein kalter Schein, doch schnell wird es heller und glühender. Ein dumpfes Fauchen dringt in Thals Ohren. Schließlich umrunden sie die letzte Biegung der Treppe. Jetzt schreit Thal auf, und sein Körper schüttelt sich in heftigen Krämpfen. Seine Beine geben nach, und er sinkt zu Boden, während er in die blendende Feuersäule starrt. Sie entspringt tief unten im Boden und schießt aus einem großen Ring aus Felsgestein weit nach oben. Ihre Wildheit ist einschüchternd. Der Prinz schreit auf und läuft auf seinen Freund zu, doch es nützt nichts. Die Ebahns trennen sie und halten sie fest. Gleich werden sie den Novizen in die Flamme stoßen, aber noch nicht, jetzt noch nicht. Das Ritual muss ablaufen wie immer. Zuerst werden die Jungen auf die Knie und dann ausgestreckt auf den Boden gezwungen. Der Sul­ tan wirft sich zwischen ihnen zu Boden, beschämt sich, indem er die Flamme wie ein Liebhaber anstöhnt, dann gar wie ein Sklave. Ver­ zweifelt fleht er den feurigen Gott an, ihn anzunehmen, ihn zu seg- nen, ihm seine Widerwärtigkeit zu vergeben; leidenschaftlich fleht er den Feuergott an, sein unwürdiges Opfer anzunehmen. Die Ebahns zerren den Novizen weiter. »Nein!«, schreit jemand. Es ist ein verzweifelter, dröhnender Ruf. Doch diesmal ist es der Novize, der schreit. Er wehrt sich, kämpft und tritt, während der Prinz wie in Trance zusieht. Jetzt kann er nichts mehr für seinen Freund tun. 9 Im nächsten Moment kann niemand mehr etwas tun. Der Sultan sieht seinen entsetzten Sohn gequält an. Und das don­ nernde Fauchen der Flamme erfüllt die Grotte. Sie dröhnt und heult ohrenbetäubend wie ein Sturm. »Trinkt ein bisschen Nektar. Bitte, Eure Königliche Hoheit.« Mit einem traurigen Lächeln reicht die Sklavin die Medizin, aber der junge Prinz wendet sich immer noch nicht zu ihr um. Seit er in sein Gemach gestürmt ist, scheint nichts seinen Kummer lindern zu können. Er liegt da und schluchzt unaufhörlich in die seidenen Kis­ sen, und seine schmalen Schultern beben unter seinen prächtigen, bestickten Roben. »Geh weg, Lammy! Lass mich einfach allein.« Die alte Sklavin seufzt. Es ist schon weit nach Mitternacht. In den Wandnischen glimmen gedämpft die Konar-Lampen, deren Licht die Tränen in ihren Augen schimmern lässt. Rasch wischt die Amme sie mit ihrer knorrigen Hand weg. Verflucht seien die Gesetze, die sie so beschränken! Noch vor einem Monat hätte sie sich auf ihr jun­ ges Mündel gestürzt, ihn fest in die Arme genommen und gemein- sam mit ihm ihren Tränen freien Lauf gelassen. Doch das ging nicht mehr. Jetzt war Prinz Dare der Unangefochtene Thronfolger, ein Vertrauter der Flamme, und als solcher unantastbar. Er durfte von keiner gewöhnlichen Hand mehr berührt werden. Es war zwar grausam, aber Mutter Madana wagte nicht, dieses grausame Gesetz in Frage zu stellen. Sie hatte jetzt seit über fünfzig Sonnenwenden die königlichen Kinder genährt und gehegt und kannte die Strafe für eine Übertretung nur zu gut. Und obwohl sie mit dem Prinzen allein war, durfte sie kein Risiko eingehen. Der kai­ 10

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