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Anerkennung oder Abwertung: Über die Verarbeitung sozialer Desintegration PDF

222 Pages·2008·1.05 MB·German
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Barbara Kaletta Anerkennung oder Abwertung Barbara Kaletta Anerkennung oder Abwertung Über die Verarbeitung sozialer Desintegration Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1.Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH,Wiesbaden 2008 Lektorat:Frank Engelhardt / Cori Mackrodt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen,Handelsnamen,Warenbezeichnungen usw.in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15983-6 Danksagung Ich bedanke mich bei allen Personen, die mir bei meiner Arbeit behilflich waren. Das betrifft insbesondere Wilhelm Heitmeyer und Jürgen Mansel, die mir jederzeit mit Tipps, Ratschlägen und Hilfestellungen zur Seite standen Ebenfalls gilt mein Dank Beate Küpper, die mir die ersten Schritte in den Arbeitsprozess sehr erleichtert hat. Darüber hinaus danke ich denjenigen, die mir sehr engagiert durch das Vermitteln von Interviewpartnern und Bereitstellen von Räumlichkeiten, in denen ich die Interviews durchführen konnte, geholfen haben. Ein besonderer Dank gilt meinen Interview- partnern, die so offen über ihre Ansichten gesprochen und mir so bereitwillig über ihr Leben Auskunft gegeben haben. Und schließlich bedanke ich mich bei meinen Kollegen des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung sowie meinen Mitstreitern des DFG-Graduiertenkollegs „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, die mich nicht nur durch fachliche Anmerkun- gen, sondern ebenfalls durch ihre Freundschaft unterstützt haben. Bielefeld, im März 2008 Barbara Kaletta Inhalt Vorwort ................................................................................................................................................ 9 1. Einleitung................................................................................................................................... 11 2. Grundlegende Annahmen zum Konstrukt der Anerkennung ...................................... 21 2.1 Die Theorie Axel Honneths ............................................................................................ 21 2.2 Diskussion der Anerkennungskategorien Honneths .................................................... 26 2.3 Anerkennung als Grundbedürfnis und Modus von Integration ................................. 30 Exkurs: Schattenseiten der Anerkennung .............................................................................. 34 3. Erste theoretische Annäherung an das Forschungsproblem – Anerkennung und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ................................... 37 3.1 Die Theorie der Sozialen Desintegration ....................................................................... 37 3.2 Kritisches Zwischenfazit und weiteres Vorgehen ........................................................ 42 4. Theoretische Erweiterung ..................................................................................................... 45 4.1 Ausarbeitung der Schlüsselbegriffe der Theorie der Sozialen Desintegration .......... 45 4.1.1 Emotionale Anerkennung .................................................................................... 48 4.1.1.1 Anerkennung der personalenIdentität .............................................. 52 4.1.1.2 Nichtanerkennung der personalen Identität ..................................... 56 4.1.1.3 Wahrnehmung von Anerkennung und Nichtanerkennung der personalen Identität ....................................................................... 58 4.1.1.4 Anerkennung der kollektiven Identität .............................................. 62 4.1.1.5 Nichtanerkennung der kollektiven Identität ..................................... 69 4.1.1.6 Wahrnehmung von Anerkennung und Nichtanerkennung der kollektiven Identität ....................................................................... 70 4.1.2 Positionale Anerkennung ..................................................................................... 73 4.1.2.1 Kollektive positionale Anerkennung .................................................. 73 4.1.2.2 Individuelle positionale Anerkennung ............................................... 80 4.1.2.3 Kollektive und individuelle positionale Nichtanerkennung ............ 85 4.1.2.4 Wahrnehmung von kollektiver und individueller positionaler Anerkennung und Nichtanerkennung .......................... 87 4.1.3 Moralische Anerkennung ...................................................................................... 91 4.1.3.1 Moralische Anerkennung als Adressat politischer Entscheidungen .................................................................................... 93 4.1.3.2 Wahrnehmung von moralischer Anerkennung und Nichtanerkennung als Adressat politischer Entscheidungen .......... 95 4.1.3.3 Moralische Anerkennung als politischer Akteur ............................. 101 8 Inhalt 4.1.3.4 Moralische Nichtanerkennung als politischer Akteur .................... 103 4.1.3.5 Wahrnehmung von moralischer Anerkennung und Nichtanerkennung als politischer Akteur ........................................ 104 4.2 Ausarbeitung des Zusammenhangs zwischen Nichtanerkennung, Selbst und GMF .............................................................................................................. 105 4.3 Zusammenfassung der theoretischen Weiterentwicklung ......................................... 113 4.3.1 Zusammenfassung der Ausarbeitung der Anerkennungskategorien ........... 113 4.3.2 Zusammenfassung der Ausarbeitung des Zusammenhangs zwischen Nichtanerkennung, Selbst und GMF ............................................................... 119 5. Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs ........................ 123 5.1 Datenerhebung: Qualitative Interviews ....................................................................... 123 5.2 Interviewauswertung ....................................................................................................... 128 5.2.1 Analyseschritt I: Zusammenfassung der Anerkennungskategorien und Strukturierung der Befragten .......................... 128 5.2.1.1 Personale Identität .................................................................................. 131 5.2.1.2 Kollektive Identität ................................................................................. 136 5.2.1.3 Individuell positional .............................................................................. 137 5.2.1.4 Kollektiv positional ................................................................................ 139 5.2.1.5 Moralisch als Adressat politischer Entscheidungen ........................... 144 5.2.1.6 Moralisch als politischer Akteur ........................................................... 145 5.2.1.7 Gruppierung der Befragten ................................................................... 146 5.2.2 Analyseschritt II: Nichtanerkennung, Missachtung und Abwertung von Fremdgruppen .......................................................................... 148 5.2.2.1 Negative Anerkennungsbilanzen in allen drei Dimensionen – Starke Orientierung an gesellschaftlichen Werten .......................................... 151 5.2.2.2 Negative Anerkennungsbilanzen in allen drei Dimensionen – Starke Ablehnung gesellschaftlicher Werte ...................................................... 163 5.2.2.3 Negative positionale und moralische Anerkennungsbilanzen – Starke Orientierung an gesellschaftlichen Werten ........................................... 177 5.2.2.4 Negative positionale und moralische Anerkennungsbilanzen – Keine extreme Orientierung an gesellschaftlichen Werten ............................ 185 5.3 Zusammenfassung der Ergebnisse der qualitativen Interviews ................................ 198 6. Ergebnisdarstellung und Perspektiven für weitere Forschung ................................. 207 Anhang ............................................................................................................................................. 215 Literaturverzeichnis ......................................................................................................................... 221 Vorwort In modernen Gesellschaften ist vor dem Hintergrund des globalen Wandlungsdrucks eine Integrations-Desintegrationsdynamik entstanden, in der sich Zugangs-, Teilnahme- und Zuge- hörigkeitsprobleme mit Anerkennungsverletzungen verbinden und in Ängsten vor und Erfah- rungen von Prekarität, Ausgrenzungen und Verunsicherungen ihren Ausdruck finden. Diese können unter bestimmten Umständen in zerstörerische Handlungs- oder Regressionspotenzia- le für eine humane Gesellschaft und liberale Republik umschlagen. Wenn auch moderne Ge- sellschaften einerseits über beträchtliche Integrationspotenziale verfügen und Existenz-, Parti- zipations- und Zugehörigkeitschancen bieten, so ist doch andererseits die zunehmende Krisen- anfälligkeit der Vergesellschaftungsmuster infolge von Strukturkrisen, Regulierungskrisen und Kohäsionskrisen nicht zu übersehen. Auch wenn heute die äußere Stabilität der Gesellschaft noch nicht in Frage gestellt ist und offene Desintegrationsprozesse bisher selten geblieben sind, so steht doch die innere Qualität der demokratischen Gesellschaft angesichts beachtlicher Normverletzungen, der Rechtfertigung von Ungleichheitsideologien, der Abwertung solidari- scher Orientierungen, fremdenfeindlicher Einstellungen und diskriminierender Verhaltenswei- sen, interethnischen Konflikten und Feindseligkeiten ein ums andere Mal auf den Prüfstand. Um diesen Fragen nachzugehen, ist einerseits der Bielefelder Forschungsverbund „Desintegra- tionsprozesse – Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft aufgelegt worden, der von 2002 bis 2005 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit 17 Teilprojek- ten gefördert worden ist. Andererseits läuft seit 2002 bis voraussichtlich 2011 die von der VolkswagenStiftung geförderte Langzeitstudie zur GruppenbezogenenMenschenfeindlichkeit. Die Arbeit von Barbara Kaletta reiht sich in die skizzierte Grundproblematik ein. Dabei kon- zentriert sich die Autorin auf den Bielefelder Desintegrationsansatz in kritischer und weiterfüh- render Weise. Kritisch in der Weise, dass Barbara Kaletta eine Präzisierung der Anerkennungs- dimensionen vorschlägt. Sodann fokussiert sie ihre Arbeit auf den von der Theorie Sozialer Desintegration postulierten Zusammenhang zwischen dem Erleben von Anerkennungsmän- geln und feindseligen Mentalitäten. Sie übernimmt diese These, um sie weiterführend zu präzi- sieren. Genau diese zwei Aspekte stehen im Mittelpunkt dieses Buches, das als Dissertationsprojekt im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs (GK 884) in Bielefeld begonnen und dann während der Tätigkeit als Forschungsassistentin der internationalen Forschergruppe „Control of Vio- lence“ am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld abgeschlossen wurde. Das Buch bietet sowohl eine Präzisierung in theoretischer Hinsicht als auch empirische Hin- weise dafür, dass die Forschungslinie des Bielefelder Ansatzes zur Theorie Sozialer Desintegra- tion als Erklärungsansatz von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, d.h. der Abwertung und Diskriminierung schwacher Gruppen erfolgversprechend weiterverfolgt werden sollte. Bielefeld, im März 2008 Wilhelm Heitmeyer 1. Einleitung „Die Hölle, das sind die anderen.“ Mit dieser Aussage lässt Jean Paul Sartre sein Theaterstück ‚Geschlossene Gesellschaft’ enden (Sartre, 1999 S. 59). Geäußert wird die Wahrnehmung durch eine der drei Hauptfiguren, den Journalisten Garcin. Garcin befindet sich gemeinsam mit zwei Frauen – der wohlhabenden und eitlen Estelle und der Postangestellten Ines – in einem geschlossenen Raum. Bereits zu Beginn des Stückes wird deutlich, dass der Schauplatz der Handlung das Jenseits ist, die drei Personen also tot sind. Auch ihnen selbst ist bewusst, dass sie gestorben sind, und nun gehen sie davon aus, dass sie sich aufgrund der Taten, die sie im Leben begangen haben, in der Hölle befinden. Sie stellen sich darauf ein, physisch gefoltert und gequält zu werden, aber nichts dergleichen geschieht. Doch bald wird den dreien klar, dass sie nicht dazu verdammt sind, körperliches Leid zu ertragen, sondern dass es ihnen bestimmt ist, sich wechselseitig auf psychi- scher Ebene zu quälen, sich hierdurch den Tod ‚zur Hölle zu machen’ und somit gegenseitig als Folterknechte der anderen zu agieren. Spannend für die Thematik der vorliegenden Arbeit ist, dass diese gegenseitige Folter durch wechselseitig verweigerte Anerkennung eintritt. Dass es den drei Verstorbenen möglich ist, sich wechselseitig psychisch zu foltern, ergibt sich daraus, dass jede/r sich gerade nach der Anerkennung der Person im Raum sehnt, die keinerlei Interesse daran hat, diese Anerkennung zu gewähren. Während die lesbische Ines sich die Liebe der eitlen Estelle wünscht, strebt diese nach einer Bestätigung ihrer Attraktivität durch Garcin. Dieser wiederum wünscht sich eine Anerkennung auf intellektueller Ebene durch Ines. Keine der Personen ist bereit, die eingefor- derte Anerkennung zu gewähren, und so verletzen und quälen sie sich wechselseitig. Das be- deutet, Jean-Paul Sartre beschreibt in seinem Theaterstück die Hölle als ein Konstrukt, das aus der Verweigerung einer begehrten Anerkennung entsteht. Wenngleich eine solche Höllenana- logie natürlich eine extreme Darstellungsweise ist, so wird hierdurch doch die elementare Wichtigkeit, die die Anerkennung anderer Personen für einen Menschen spielen kann, bzw. die Bedeutung, die eine Verweigerung von Anerkennung besitzt, deutlich. Es zeigt darüber hinaus einerseits, dass nicht für jede Person die Anerkennung einer jeden beliebigen anderen Person erstrebenswert ist – so empfinden die Figuren die Anerkennung der Person, die sich nach der Anerkennung des Betroffenen sehnt, eher als abstoßend – und andererseits, dass Anerkennung sich auf verschiedene Weise ausdrücken kann. Während sich Ines eine affektive, liebende An- erkennung von Estelle wünscht, handelt es sich bei der Anerkennung, die diese sich von Gar- cin erhofft, um eine Form von Bewunderung, wenn sie sich um die Bestätigung ihrer Attrakti- vität bemüht. Demgegenüber strebt Garcin nach einer Beachtung seines Intellekts. Es wird also deutlich, dass unterschiedliche Arten der Anerkennung von unterschiedlichen Personen ein unterschiedliches Ausmaß an Wichtigkeit für verschiedene Menschen besitzen. Welche Arten der Anerkennung mehr oder minder universell und somit für einen Großteil der Ange- hörigen westlicher Gesellschaften erstrebenswert sind und von welchen Personen diese in der Regel erwartet bzw. gewährt werden, ist ein Aspekt, der im Verlauf der vorliegenden Arbeit geklärt werden soll. 12 Einleitung Dass Anerkennung im menschlichen Zusammenleben eine zentrale Bedeutung besitzt, spiegelt sich unter anderem in der Häufigkeit wider, mit der sie im alltäglichen Leben wie auch in Me- dienberichten thematisiert wird. So gilt das Streben nach Belohnung, Erfolg, Lob, Beifall, Ehre, Beliebtheit, Wertschätzung, Popularität, Achtung, Würdigung, Respekt, Lohn, Prestige usw. als Streben nach einer gesellschaftlich nicht nur legitimen, sondern darüber hinaus erwünschten Zielsetzung. In medialen Berichterstattungen wird z.B. die Anerkennung verschiedener Le- bensprofile, die Ehrung sportlicher, künstlerischer oder wissenschaftlicher Leistungen, politi- scher, literarischer oder gemeinnütziger Beiträge usw. thematisiert, um nur einen kleinen mög- lichen Ausschnitt zu nennen. Auch im wissenschaftlichen Feld fand schon früh, z.B. innerhalb philosophischer Werke, eine Auseinandersetzung mit dem Konstrukt statt, die später von weiteren Disziplinen aufge- griffen wurde. Eine Suche nach wissenschaftlicher Literatur zum Thema (soziale) Anerken- nung bietet eine Fülle von Ergebnissen. In Philosophie und Sozialphilosophie setzten sich bereits Johann Gottlieb Fichte (vgl. Fichte, 1980) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (vgl. Hegel, 1976) mit dem Konstrukt auseinander. Hierbei fokussiert Fichte in seinen Ausführun- gen lediglich auf eine reziproke Anerkennung des Status als Rechtsperson, wohingegen Hegels Auseinandersetzungen mit dem Konstrukt nicht auf diese eine Sphäre beschränkt sind. Eine solche umfassendere Betrachtung der Anerkennung ergibt sich aus dem, zu dem von Fichte verschiedenen, Menschenbild Hegels. So sieht Fichte die Menschen als eigennützige, atomisier- te Individuen, die lediglich aus Vernunftgründen zur Herstellung sozialer Ordnung reziprok die eigenen Freiheiten zugunsten der Anderen begrenzen und somit sowohl deren Status als Rechtsperson anerkennen als auch dadurch den eigenen Status als Rechtspersonen sichern. Im Gegensatz dazu begreift Hegel – in Anlehnung an die klassische Politik des Aristoteles – den Menschen als soziales Subjekt, das von seiner Natur her teleologisch auf ein gemeinschaftliches Zusammenleben hinstrebt. Ein solches Hinbewegen auf einen Zustand der „Sittlichkeit“ sieht Hegel durch Kämpfe um Anerkennung realisiert. Gesellschaft wird also nicht wie in der Theorie Fichtes rein vertraglich von außen erzeugt, sondern es findet ein stufenweise erfolgender Wei- terentwicklungsprozess statt, der durch eine Erweiterung von Anerkennungsverhältnissen gekennzeichnet ist. Auf diesem Konzept Hegels aufbauend setzt sich Axel Honneth mit dem Anerkennungskonstrukt auseinander (vgl. Honneth, 2003a; Honneth, 2005). So betrachtet auch Honneth den reziproken Austausch von Anerkennung als Grundlage für die Existenz einer moralischen Gesellschaft. Diese kann nur bestehen, wenn in ihr Anerkennungsverhältnis- se existieren, durch die allen Gesellschaftsmitgliedern die Ausbildung einer intakten Identität ermöglicht wird. Hierzu notwendig ist die Existenz drei unterschiedlicher Arten reziproker Anerkennungsverhältnisse, die Honneth als Liebe – wechselseitige Anerkennung in emotiona- len Nahbeziehungen –, rechtliche Anerkennung – Anerkennung von Gleichwertigkeit durch die Einbindung in Rechtsverhältnisse – und Wertschätzung – Anerkennung individueller Besonder- heiten und Leistungen – bezeichnet. Hierauf wird in Kapitel 2 der vorliegenden Arbeit näher eingegangen. Diese Auffassung Honneths ist Kern einer wissenschaftlichen Kontroverse über Anerkennungspolitik, die er mit Nancy Fraser führt (vgl. N. Fraser, Honneth, A., 2003). Fraser kritisiert an Honneth, dass im Rahmen seines Ansatzes die Wichtigkeit von ökonomischen Aspekten für die Herstellung von Gerechtigkeit vernachlässigt bzw. mangelnde Anerkennung als „Nebenprodukt einer unfairen Verteilung“ (N. Fraser, 2003 S. 51) gedeutet wird. Fraser plädiert entsprechend für eine erweiterte Gerechtigkeitskonzeption, die sowohl ökonomische Umverteilung als auch eine Politik der Anerkennung umfasst. Ihr Anerkennungsbegriff ist hierbei eingeschränkter als der Honneths, da sie sich dagegen ausspricht, die Anerkennung von Besonderheit in eine Anerkennungspolitik einzuschließen, und tritt demgegenüber dafür ein, Einleitung 13 den Begriff auf ‚Anerkennung von Gleichwertigkeit’ zu beschränken. Mit Fragen nach einer Anerkennung von Gleichwertigkeit kultureller Gruppen im Rahmen einer Politik der Aner- kennung setzt sich ebenfalls Charles Taylor auseinander (vgl. Taylor, 1993, 1996). Zentral für Taylor ist die identitätsstiftende Funktion von Anerkennung. Da sich laut Taylor die Identität des Einzelnen auf der Anerkennung der kulturellen Gemeinschaft, der er angehört, gründet, zählt er diese zu den gesellschaftlichen Primärgütern wie materielle Grundversorgung oder Gewährung der Menschenrechte und tritt dafür ein, „daß wir den Kulturen die Möglichkeit einräumen sollen, sich innerhalb vernünftiger Grenzen selbst zu behaupten“ (vgl. Taylor, 1993 S. 59). Weitere Wissenschaftler, die sich innerhalb der philosophischen Disziplin mit dem Aner- kennungsthema beschäftigen, sind Paul Ricoeur, dessen Ausdifferenzierung des Konstrukts primär auf seinen unterschiedlichen sprachlichen Bedeutungen beruhen (vgl. Ricoeur, 2006), Avishai Margalit, der eine ‚negative Anerkennung’, also eine Anerkennung, die sich aus der Abwesenheit psychischer Demütigung ergibt, insbesondere durch staatliche Institutionen the- matisiert (vgl. Margalit, 1997) oder Rainer Forst, der das Anerkennungskonstrukt für seine Gerechtigkeitstheorie nutzbar macht, deren Grundbegriffe er über eine Auseinandersetzung mit der Kontroverse zwischen Liberalismus und Kommunitarismus ableitet (vgl. Forst, 1996). Über die soeben kurz erwähnten Arbeiten hinaus findet sich eine Fülle weiterer philosophi- scher Betrachtungsweisen, die sowohl explizit das Konstrukt der Anerkennung als Gegens- tandsbereich nennen, als auch solche, die sich ausschließlich implizit hiermit befassen, sich aber anerkennungstheoretisch interpretieren lassen. Nicht nur die Philosophie, sondern auch die Psychologie setzt sich mit dem Anerken- nungsthema auseinander. Ein Vergleich dieser größtenteils psychoanalytischen Arbeiten mit einigen der philosophischen Betrachtungsweisen (z.B. durch Hegel, Honneth oder Forst) ver- deutlicht, dass in der psychologischen Disziplin ein weitaus kleinerer Ausschnitt dessen, was der Begriff der Anerkennung fasst, bzw. eine andere inhaltliche Bedeutung, betrachtet wird. So werden innerhalb der psychoanalytischen Auseinandersetzung zumeist ausschließlich emotio- nale oder libidinöse Bindungen als Grundlage gegenseitiger Anerkennung betrachtet. Insbe- sondere ist in diesem Bereich die Arbeit von Jessica Benjamin anzuführen (vgl. Benjamin, 1993). Auch in die Soziologie hat der Anerkennungsbegriff, vor allem durch neuere Arbeiten, Einzug gehalten. Wie Alexander Heck im Rahmen seiner Dissertation verdeutlicht, können zwar ebenfalls klassische soziologische Ansätze wie die von Ferdinand Tönnies oder Emil Durkheim anerkennungstheoretisch interpretiert werden (vgl. Heck, 2003), explizit setzen diese sich jedoch nicht mit der Thematik auseinander. Aktuelle, einerseits im Bereich der Arbeits- und Organisationssoziologie verwurzelte empirische Arbeiten finden sich insbesondere bei Ursula Holtgrewe, Stefan Voswinkel und Gabriele Wagner (Holtgrewe, Voswinkel S., & G., 2000), wobei Wagner sich in ihrer Beschäftigung mit dem Anerkennungsthema nicht aus- schließlich auf eine berufliche Sphäre bezieht, sondern sie darüber hinaus ebenfalls in einen weiteren gesellschaftlichen Kontext einordnet (vgl. G. Wagner, 2001). In den arbeitssoziologi- schen Auseinandersetzungen der genannten Autoren – sowie weiterer Autoren, die im o. a. Sammelband Forschung zum Anerkennungsthema im beruflichen Sektor präsentieren – liegt der Fokus der Arbeit auf einer empirischen Auseinandersetzung mit dem Thema, die auf quali- tativen Methoden basiert. Weitere empirische Forschungsarbeiten sind darüber hinaus in Jugend- soziologie und Pädagogik zu finden, die sich hauptsächlich mit der Frage nach der Bedeutung von nicht erlebter Anerkennung für Gewalthandeln im Jugendalter beschäftigen und auf eine affektive oder emotionale Anerkennung fokussieren.

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