Travail de candidature A H LAIN ERMAN „Im Anfang war die Welt poetisch.“ – Zur „Arbeit am Mythos“ in Peter Hacks´ olympischen Komödien „Amphitryon“ und „Omphale“ Wiltz, den 8. Mai 2012 Erklärung Hiermit versichere ich Unterzeichneter, Alain HERMAN, geboren am 16. Januar 1981 in Wiltz (Luxemburg), dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig angefertigt habe, keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt und alle wörtlichen oder sinngemäßen Entlehnungen deutlich als solche kenntlich gemacht habe. Alain Herman Arbeit vorgelegt von HERMAN Alain Candidat-professeur au Lycée du Nord Wiltz Umschlagbild: Römische Münze mit Arion-Bildnis (undatiert). Bildquelle: Gaffiot, Félix: Dictionnaire Latin Français. Paris 1934. S. 162 2 „Im Anfang war die Welt poetisch.“ – Zur „Arbeit am Mythos“ in Peter Hacks´ olympischen Komödien „Amphitryon“ und „Omphale“ Wiltz 2012 3 Resümee Der 1955 aus der BRD in die DDR übergesiedelte Dramatiker und Philologe Peter Hacks (1929-2003) wollte den Ende der 50er Jahre von SED-Kulturfunktionären konzipierten „Bitterfelder Weg“, mit dem die Schaffung einer sozialistischen Literatur und Volkskultur bezweckt wurde, nicht mitgehen. Mit Brechtianischem Emanzipationstheater hatte er sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahrzehnt beschäftigt, da konnte für ihn das zum literarischen Maßstab ausgerufene „Produktionsstück“ nur ein Rückfall hinter das Epische Theater bedeuten. Rein ideologisierte Kunst galt Hacks nämlich als Artikulation einer revolutionären Kampfphase, zur Darstellung gesellschaftlicher Totalität, faustischen Emanzipationsstrebens und einer zu sich selbst gekommenen bzw. noch kommenden Gattung Mensch würde sie sich nicht eignen. Der in Ost und West gespielte Dramatiker proklamierte in seinen Essays die „sozialistische Klassik“, die er literarisch in mythisch gefärbten Komödien zum Ausdruck brachte. Hierbei handelt es sich keineswegs um eine Flucht in den Mythos oder eine platte Ideologisierung des Mythos, sondern vielmehr um eine Ausschöpfung des dialektisch-utopischen Potentials desselben. Der Mythos erweist sich in den Dramen als offenes System, das ein Spiel mit Möglichkeiten erlaubt. In politicis indes blieb der streitbare Marxist Peter Hacks zeitlebens ein Apologet der Politik Walter Ulbrichts und sah mit einer gewissen Süffisanz über gewisse in der DDR herrschende Widersprüche hinweg. In Auseinandersetzung mit den Klassikern der Mythostheorie wird im ersten analytischen Kapitel Hacks´ Mythosbegrifflichkeit herausgearbeitet. Peter Hacks hat auf seine eigene Weise den Mythos als sinnstiftendes und stabilisierendes Logos-Medium in der deutschen Literatur rehabilitiert. Er ist der Ansicht, dass es eine „schöpferische Ursprünglichkeit“ (H. Blumenberg) überhaupt nicht gibt, nicht mal geben muss: „Der dauernde Wert einer Mythe hängt nicht ab von ihrer ursprünglichen Bedeutung.“ Daher liefern die Mythen auch keine expliziten Welterklärungen, sondern werfen in erster Linie die großen Fragen auf. Der Mythos wird bei Hacks nicht als ontologisches Korrektiv (wie z.B. bei Blumenberg), sondern vielmehr als poetisiertes Modell einer durchaus zu verwirklichenden Seinsform aufgefasst. In den Jahrtausendfabeln sieht er teilweise den „Absolutismus der Wirklichkeit“ (H. Blumenberg) von Menschenhand zum „Reich der Freiheit“ (Karl Marx) sublimiert. Vier Kategorien bestimmen seine Mythosästhetik: „Anschaulichkeit“ prägt den Mythos (1); aus ihm kristallisiert sich historisch-materialistisch und ideell eine „Wirklichkeitstreue“ heraus (2); ihm ist „utopisches Potential“ inhärent (3); zwischen Mythos und Poesie besteht eine gewisse Deckungsgleichheit (4). Im textanalytischen Teil, dem „Kernstück“ der Arbeit, werden die olympischen Komödien des Dramatikers, die sich zeitlich in die Hochphase des Hacksschen Schaffens situieren lassen, fokussiert: „Amphitryon“ (1967) und „Omphale“ (1969). Es wird untersucht, wie Peter Hacks die in seinen theoretischen Schriften zur so genannten sozialistischen Klassik evozierte „Artifizierungspoesie“ literarisch materialisiert. Das Metaphern- und Symbolgeflecht konstituiert, ja legitimiert sozusagen Hacks´ theoretisch fundiertes Poetisierungskonzept. Hacks´ „Arbeit am Mythos“ (Hans Blumenberg) findet zuerst und zunächst in den Dramen statt. Im zweiten großen Abschnitt dieses Beitrags zur „Hacksologie“ wurde folglich eruiert, in welchem Maße der Schriftsteller die mythopoetischen Kategorien in seinen Komödien „Amphitryon“ und „Omphale“ dramaturgisch umsetzen konnte; inwieweit die Texte gegenüber der theoretischen Mythosästhetik eine diskursive Eigendynamik entwickeln. Hierbei wurde fünferlei augenscheinlich. Erstens: In beiden Dramen baut Hacks die größtenteils im Dunkeln liegenden mythischen Episoden – Jupiters Liebesnacht mit Alkmene, Herakles´ Transgender-Spiel mit Omphale – zu den Kernszenen aus, um die herum sich die Komödien-Handlungen grosso modo konstituieren. Es handelt sich um hermetische Spiele im Spiel – im „Amphitryon“-Drama werden die metatheatralischen Aspekte besonders offensichtlich –, in denen die Kategorie des utopischen Potentials als „freies Spiel der glücklichen Möglichkeiten“ zur Entfaltung kommt. Zweitens: Der (patriarchalische) Herrschaftsdiskurs wird durch den transzendierenden Liebesdiskurs dekonstruiert, was zu einer emanzipativen Verselbstung und Entgrenzung der Protagonisten führt (Alkmene, Herakles, Omphale). Temporär lösen sie sich von ihrer entfremdeten Umwelt, dem „Reich der Notwendigkeit“, und blicken nach Utopia, dem „Reich der Freiheit“. Drittens: Peter Hacks hat den Anspruch, die „Totalität der Bewegung“ (Georg Lukács) in der Nussschale einer Komödie zu präsentieren, aus diesem Grund müssen die performativen Spiele im Spiel sich als episodisch erweisen. Letztere konkurrieren mit der restlichen Dramenwirklichkeit, so dass stets eine dialektische Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Mensch und Entelechie gewahrt bleibt. Viertens: Durch den performativ- symbolischen Einsatz diverser Theaterrequisiten sowie Dekorationen wie zum Beispiel den Masken und der Nacht-Gardine im Stück „Amphitryon“ oder der Keule und dem Spinnrad im Einakter „Omphale“ gelang Hacks eine Poetisierung bzw. „Artifizierung“ der Dramenhandlung. Des Weiteren haben diese Elemente sowohl in rein dramaturgischer als auch in inhaltlicher Hinsicht vorausweisende und (meta- )kommentierende Funktion. Fünftens: Hacks´ dialektisch-performative Lustspiele sind nicht vollkommen gefeit vor aufklärerischem Erziehungssprechen, was an den Schlussszenen der beiden Theaterstücke nachzuweisen ist. Dieses Faktum wirkt sich zudem etwas befremdend auf die Komik der Dramen aus. 4 Inhalt Seite I. Einleitung 7 I.1 Präliminaria: Mythos und Komödie im „postrevolutionären Zeitalter“ 7 I.2 Fragestellung: Theorie und Praxis, oder: Von den Kategorien der Hacksschen Mythosästhetik und deren Umsetzung in der Komödie 16 II. Hacks´ Mythosverständnis im Rahmen seiner Poesiekonzeption 22 II.1 Mythostheoretischer Diskurs und Marxismus 22 II.2 Hacks´ Mythopoetik, oder: Von Arion, dem „Utopie-Surfer“ 30 II.2.1 Zur Kategorie der „Anschaulichkeit“ 37 II.2.2 Zur Kategorie der „Wirklichkeitstreue“ 42 II.2.2.1 Hacks´ Mythosarchäologie: Matriarchat vs. Patriarchat 42 II.2.2.2 Der Mythos als „großes Denken“ 52 II.2.3 Zu den Kategorien „Einbildungskraft“ und „utopisches Potential“ 58 II.2.4 Zur Deckungsgleichheit von Mythos und Poesie bei Hacks 65 III. Textanalyse: Die dialektisch-performative „Arbeit am Mythos“ in Hacks´ olympischen Komödien 71 III.2 „Amphitryon“ 71 71 III.2.1 Traditionsbeziehungen 85 III.2.2 Das Drama 85 III.2.2.1 Form 89 III.2.2.2 Personenkonstellation 89 III.2.2.3 Inhalt und Glossen III.2.3 Mythisch-antike Symbolik als Mittel der Poetisierung und „Artifizierung“: Masken- und 103 Nachtspiel III.2.3.1 Maskensemiotik im Kontext der Unwirklichkeitskategorie 103 5 III.2.3.2 Nachtsemiotik – Mythische Allegorie und performatives Theaterrequisit 106 III.2.4 Zum utopischen Potential der Komödie: Die emanzipierte Liebe als Rollen- und Diskurstranszendierung 113 III.2.5 Die Spannung zwischen Wirklichkeit und Ideal bzw. Menschen und Entelechien im Kontext des Komödienhaften 129 III.3 „Omphale“ 138 III.3.1 Traditionsbeziehungen 138 III.3.2 Das Drama 141 III.3.2.1 Form und Personenkonstellation 141 III.3.2.2 Inhalt und Glossen 143 III.3.2 Die Kategorie des utopischen Potentials als performatives Spiel im Spiel: Entgrenzung der Geschlechterliebe und -beziehungen 150 IV. Schluss – Der Vor-Schein-Charakter des Mythos und die „Totalität der Bewegung“ in der 159 Komödien-Nussschale Bibliographie 164 6 * *** I. Einleitung „Kommunist kann einer nur dann werden, wenn er sein Gedächtnis um alle die Schätze bereichert, die von der Menschheit gehoben worden sind.“1 (W. I. Lenin, Die Aufgabe der Jugendverbände) „Unsere Schriftsteller müssen wieder ins Große gehen. Die Konflikte ausschließlich in den Schoß der Familie und in die Parteizelle eines einzigen Betriebes zu verlegen, heißt nur, ein spätbürgerliches Schema, das des naturalistischen Stückes, nachahmen.“2 (Bertolt Brecht) I.1 Präliminaria: Mythos und Komödie im „postrevolutionären Zeitalter“ Peter Hacks und der Mythos, bei diesem Thema handelt es sich zweifellos um ein weites Feld, und es sei vorweg erwähnt: Die ab und zu durchbrechende Weitschweifigkeit trägt diesem Sachverhalt Rechnung. Der 1928 im schlesischen Breslau geborene, von 1945 bis 1955 in Dachau und München lebende sowie studierende Dramatiker, den es mit der Ehefrau im Sommer des Jahres 1955 aus politischer Überzeugung in den sozialistischen Teil Deutschlands, nämlich nach Ostberlin zog, befasste sich seit seiner zu Beginn der 1960er Jahre selbst proklamierten Hinwendung zur Deutschen Klassik in verstärktem Maße mit der Hermeneutik antiker Mythen, vornehmlich jenen aus dem griechischen, semitischen und persischen Raum. Ein unorigineller Epigone Brechts, für den einige seiner Kritiker ihn zu Beginn seiner Karriere hielten,3 ist Peter Hacks nie gewesen. Dies stellen bereits seine ersten dramatischen Werke unter Beweis, die gewiss noch unter * Sogleich einige knappe Erläuterungen zu den verschiedenen Zitierweisen und Literatur- bzw. Quellennachweisen sowie zu den benutzten Textausgaben. Jegliche literarischen und philosophischen Primärtexte werden zwischen Anführungszeichen geführt und in Kursivschrift wiedergegeben. Abkürzungen – das Sigleverzeichnis findet sich im bibliographischen Teil – wurden nur für die öfters zitierte Primärliteratur erstellt. Damit man aber aufgrund einer anderen Textedition nicht im Dunkeln tappt, werden bei Quellenzitaten zumeist die betreffenden Schriften, Essays, Erzählungen, Dramen etc. genannt, was die Überprüfung wenigstens etwas erleichtert. Die beiden im Mittelpunkt stehenden Dramen von Peter Hacks („Amphitryon“ und „Omphale“) werden nach den alten, seit geraumer Zeit nicht mehr aufgelegten Taschenbuch-Ausgaben des Aufbau-Verlags zitiert (AD I). Die Essays von Hacks werden entweder nach der ersten Auflage der „Maßgaben der Kunst“ (MK I) oder nach der neuen, vollständigen Edition seiner Aufsätze (MK II), die 2010 im Suhrkamp-Verlag erschien, zitiert. Hacks hatte mit seinen Werken nach dem Ende des ostdeutschen Sozialismus im Eulenspiegel-Verlag eine definitive Heimat gefunden. Die 2003 in jenem Editionshaus publizierte Gesamtausgabe letzter Hand wurde in dieser Arbeit nicht herangezogen. 1 LW 31, S. 277 2 Brecht zitiert nach Heine, Roland: Mythenrezeption in den Dramen von Peter Hacks, Heiner Müller und Hartmut Lange. Zum Versuch der Grundlegung einer „sozialistischen Klassik“. In: Colloquia Germanica 14, 1981. S. 240 3 Wolfgang Schivelbusch, einer der ersten westdeutschen Germanisten, der sich näher mit dem Oeuvre des Peter Hacks befasst hat, will in den frühen theoretischen Schriften des DDR-Schriftstellers eine „Brecht-Paraphrase“ ausmachen (vgl. Ders.,: Sozialistisches Drama nach Brecht. Drei Modelle: Peter Hacks – Heiner Müller – Hartmut Lange. Darmstadt / Neuwied 1974. S. 61). Die Theaterkritikerin Marianne Kesting ist sogar der Ansicht, dass Peter Hacks Brechts Schaffen nicht gerecht werde, den Meister nicht weiterdenke bzw. ausbaue und in einer schlecht gemachten Imitation verharre (vgl. Schleyer, Winfried: Die Stücke von Peter Hacks. Tendenzen, Themen, Theorien. Stuttgart 1976. S. 10 f.). 7 dem Einfluss des Epischen Theaters standen, jedoch durch die recht ungewöhnliche Stoffwahl sowie durch die besondere, nicht sogleich durchschaubare Handhabung desselben auffielen und sich vom Gros der Dramen diverser Berliner-Ensemble- Schüler abhoben. Neben DDR-spezifischen Problematiken hinsichtlich des Aufbaus eines sozialistischen Systems, die ihren literarischen Niederschlag in den beiden gargantuesk-vitalen, konstruktiv-kritischen Produktions- resp. Zeitstücken „Die Sorgen und die Macht“ (1959) und „Moritz Tassow“ (1961) fanden und die bei den Kulturfunktionären der machthabenden SED ob ihrer substantiellen Direktheit sowie ihrer sprachlichen Doppelbödigkeit nach den Berliner Premieren durchfielen,4 beschäftigte sich Peter Hacks bereits in frühen Jahren mit historischen Stoffen, die von geschichtlichen Epochenumbrüchen kündigen, so z.B. mit der so genannten Entdeckung des amerikanischen Kontinents durch den Genueser Kapitän Columbus („Eröffnung des indischen Zeitalters“, 1955, später neu aufgelegt unter dem bedeutungsschwangeren Titel „Columbus, oder: Die Weltidee zu Schiffe“). Bei Hacks offenbart sich also sehr früh ein Drang nach Fabeln, mit denen sich der dialektische Bewegungsprozess der Geschichte – denn als solcher begriff der marxistische Hegelianer Hacks den Ablauf der Menschheitshistorie –, die widersprüchliche Entwicklung derselben sowie utopische Zukunftsvisionen bei Wahrung eines historisch-materialistischen Realismus darstellen lassen. In dem programmatischen Aufsatz „Versuch über das Theaterstück von morgen“ (1960) verkündete der 32jährige kommunistische Dramatiker zum ersten Mal mit einer gewissen Unmissverständlichkeit, woran ihm auf künstlerischer Ebene in einer stabilen sozialistischen Gesellschaft gelegen sei: an einem „Streben nach Größe“ (MK II, S. 23), an einer dialektischen „Einheit von Quantität und Qualität in der Kunst“ (MK II, S. 24), an großen „Handlungen, große[n] Charaktere[n]“ sowie an „Materialismus und Größe“ (MK II, S. 27). Ohne Zweifel, das sind hochfahrende, von Optimismus strotzende Forderungen an den neuen sozialistischen Künstler in einem Staate, der DDR, der sich 1960 noch in einer widerspruchsvollen Aufbauphase befand und der politisch wie ökonomisch weiterhin von der Sowjetunion an der Kandare gehalten wurde. Hacks wusste um die Widersprüche, zweifelte aber nicht an deren glücklichem Ausgang: „Heute ist man entschlossen, keine unbedeutenden Vorgänge zu behandeln, sondern bedeutende, und die so, daß sie als bedeutende erscheinen. Größe ist die Kategorie, in der die Historie sich abspielt. Die Geschichte ist lang und breit. Seit der Revolution aber und dem Sozialismus weiß man, daß die Umfänglichkeit des 4 Die Komödie „Die Sorgen und die Macht“, die in einer dritten (!) Fassung am Ostberliner Deutschen Theater uraufgeführt worden war, wurde vom obersten Kulturverantwortlichen der DDR, dem im Rücken des jeweiligen Kulturministers stets als graue Eminenz waltenden Kurt Hager scharf attackiert. Das ZK-Mitglied beanstandete die karikierte Darstellung der „Rolle der Partei als der führenden und lenkenden Kraft“ der Gesellschaft sowie die politische Tendenz des Stückes. Hager kritisierte 1963 auf dem VI. Parteitag der SED noch einmal die Werke von Günter Kunert und Peter Hacks, indem er behauptete, die beiden hätten sich zu weit von Brecht sowie dem Sozialistischen Realismus entfernt. Überdies befürchtete er ein „Einschmuggeln der bürgerlichen Ideologie, in welcher Form sie auch auftreten möge.“ [vgl. hierzu Schleyer, Die Stücke von Peter Hacks (a. a. O.). S. 9 und 11]. Auf wenig Verständnis bei den Kulturfunktionären stießen zudem Hacks´ libertäre und freizügige Wendungen, welche auf dem XI. Plenum des Zentralkomitees der SED als „rüpelhaft[e] Obszönität“ abgetan wurden (vgl. o.V.: Richtung und Wahrheit. In: Der Spiegel, 20. Februar 1967, Nr. 9. S. 133-134.). Für die typisch Hackssche Frivolität war man in den anti-utopistischen oberen Etagen der Partei noch nicht bereit, Hacks wunderte es damals am wenigsten. Im „Moritz Tassow“ hat der Protagonist in der Tat seine eigenen Vorstellungen vom Kommunismus, die er gegenüber der Bauerntochter Jette unverhohlen verlautbart: „Klar will ich auf dir liegen, Honighintern. / In einem Ort wohnen heißt alle Weiber / Vögeln und mit den Männern allen saufen. Andres versteh ich gar nicht unter Wohnen.“ (AD I, S. 163) 8 historischen Prozesses die Umfänglichkeit einer guten und sich vervollkommnenden Sache ist. Die Quantität schlägt um in die Qualität; die Quantität wird Würde verliehen durch die Qualität. Die Achtung der neuen deutschen Stückeschreiber vor der Größe verändert ihr literarhistorisches Bild: sie sehen weiter zurück als die wenigen Jahrzehnte bürgerlicher Dekadenz. Auf einem hohen ideologischen Stand, haben sie die Gipfel Aischylos, Aristophanes, Shakespeare, Lope, Goethe und Büchner vor Augen und halten nicht die Hügel Ibsen und Hauptmann für das eigentliche Gebirge. (…) - >das bürgerliche Drama arbeitet mit Mäusen, das sozialistische mit Elefanten.<“ (MK II, S. 23) Diese Metapher des Dichters Guy de Chambure hat sich Hacks selbst auf die Fahne geschrieben. Der poeta doctus – Hacks hatte beim Neuphilologen Hans Heinrich Borcherdt an der Münchener Ludwig- Maximilians-Universität über das Biedermeier-Theater promoviert –5 wollte den 1959 von SED-Kulturfunktionären konzipierten „Bitterfelder Weg“, mit dem die Schaffung einer sozialistischen Literatur sowie Volkskultur bezweckt wurde, nicht mitgehen. Mit Brechtianischem Emanzipationstheater, das er um bestimmte Einzelaspekte zu bereichern wusste, hatte er sich seit mehreren Jahren detailliert auseinandergesetzt. Deshalb konnte für ihn das zum literarischen Maßstab ausgerufene Produktionsstück nur ein Rückfall hinter das Epische Theater bedeuten. Die Beschreibung des Arbeiter- Alltags unter „realsozialistischen“ Bedingungen sei nichts anderes als „Neonaturalismus“, betrieben von „Eisenbahnschienenschwellenbeschreibern“, von „schreibenden Sperlingen“, die von „Straßenrand- und Dachrinnenproblemen bewegt“ werden würden (vgl. MK II, S. 25 ff.). Hacks drastische Pointe lautete: Der vom „Bitterfelder Weg“ – die ominöse Bezeichnung der kulturpolitischen Ausrichtung wird im Essay von 1960 allerdings unterschlagen – hervorgerufene Rückfall in einen ideologisch verbrämten Naturalismus bedeute letztlich den Tod der Kunst. Der junge Hacks argumentierte damit keineswegs gegen den SED-Staat – diesem blieb er Zeit seines Bestehens treu (obgleich man von politischer Seite wenig Verständnis für die komplexe Ästhetik des „Staatsdichters“ besaß) –6, im Gegenteil, er befand, dass in einer „postrevolutionären“, klassenlosen Gesellschaft, in der aufgrund sozialistischer Produktionsweise die ökonomischen Antagonismen beseitigt seien, klassische Kunst geboten sei, um die Möglichkeiten des „Reiches der Freiheit“ (Karl Marx) auszuloten und um dem Publikum eine Vorstellung von der ethischen 5 Vgl. Hacks, Peter: Das Theaterstück des Biedermeier (1815-1840). München 1951. Hacks schien einiges auf seinen Doktortitel zu halten, fungierte er doch stets im offiziellen Briefkopf des Schriftstellers. 6 In politicis blieb Peter Hacks zeitlebens – nach 1989 sogar in verstärktem Maße – ein Apologet Walter Ulbrichts und ein Anhänger des so genannten „Neuen Ökonomischen Systems der Leitung und Planung“ (NÖSLP), welches durch die Abkehr von einer rein zentralistischen Planwirtschaft und einer größeren Mitbestimmung der Werktätigen innerhalb der Betriebe geprägt war. Hierin sah Hacks in puncto Produktivität den Umschlag von der Quantität in die Qualität (vgl. Schütze, Peter: Peter Hacks. Ein Beitrag zur Ästhetik des Dramas. Antike und Mythenaneignung. Kronberg / Taunus. 1976. S. 10 f. und S. 78 ff.; sowie Koziolek, Helmut: Hatte das Neue Ökonomische System eine Chance? In: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 10, 1996. S. 129-153.). Den von Moskau erzwungenen Rücktritt Ulbrichts im Jahre 1971, den vom Generalsekretär der KPdSU Leonid Breschnew unterstützten Machtantritt Erich Honeckers, die Rückkehr zur reinen Planwirtschaft und die damit einhergehende Erstarrung des sowjetischen bzw. sozialistischen Systems unter Breschnew wertete er enttäuscht als schleichenden Niedergang des osteuropäischen Realsozialismus. Gorbatschow apostrophierte er als Revisionisten und Agenten des Imperialismus, zeigte sich dann doch ein wenig überrascht über den blitzartigen Zusammenbruch des Systems im Jahre 1989 [vgl. diesbezüglich den Briefwechsel mit seinem langjährigen Freund André Müller sen.: „Nur daß wir ein bißchen klärer sind.“ – Der Briefwechsel 1989 und 1990. Berlin 2002; sowie die Schilderungen von Urbahn de Jauregui, Heidi: „Konterrevolution – von außen und oben“. Peter Hacks und die Wende. In: Junge Welt (23.12.2006), S. 10.]. 9 sowie ästhetischen Höherentwicklung bzw. Individualisierung des Menschen zu geben. Mit sperriger ideologisierter Kunst könne dies nicht bewerkstelligt werden, diese sei nämlich Ausdruck der revolutionären Kampfphase, eigne sich indes nicht zur Darstellung gesellschaftlicher Totalität, faustischen Emanzipationsstrebens und einer zu sich selbst gekommenen bzw. noch kommenden Gattung Mensch. So der Tonus im ästhetischen „Programm“ von 1960. Versuchte sich Peter Hacks zunächst noch an Adaptationen, wobei in Sonderheit die von den Theaterkritikern gerühmte Reprise der altgriechischen Aristophanes-Komödie „Der Frieden“ (1962) hervorzuheben ist, so war der Schritt zur Aneignung mythischer Fabeln wegen der künstlerischen Neuorientierung ein folgerichtiger. Mit Mythenstoffen konnte der anvisierte hohe Abstraktionsgrad erreicht werden, die „Arbeit am Mythos“7 (Hans Blumenberg) sollte die erwünschte Wirklichkeitsartifizierung herbeiführen. Damit wären wir bei dem eingangs hervorgehobenen Gemeinplatz vom „weiten Feld“. In den Folgejahren schrieb Peter Hacks eine ganze Reihe von Dramen, die stofflich auf mythischen Narrationen beruhen,8 doch auch essayistisch analysierte er die philosophische Substanz, die Struktur, die literarische Stellung und die Wirkungsmacht des Mythos. Er betrieb, um die Formulierung des Philosophen Blumenberg zu wiederholen, eine tiefgreifende Arbeit am Mythos, die sich schwerlich auf einen Nenner bringen lässt. Die (Rück-)Besinnung auf den Mythos im bewussten Gefolge der Weimarer Klassik wurde jedenfalls von diversen Literaturtheoretikern und Kulturfunktionären mit Argusaugen verfolgt, galt vielen der Mythos doch als vorwissenschaftliche Erkenntnisform,9 mit der sich die gesellschaftliche Wirklichkeit künstlerisch nicht widerspiegeln lasse. Vor allem der junge Hacks, aber auch dessen Antipode Heiner Müller verhalfen dem Mythos zu neuer Geltung. Hacks war überzeugt – um es vorab mit Ernst Bloch auszudrücken – von der ästhetischen „Vor- Schein“-Disposition einer mythologisch gefärbten Dramatik, mit der sich „sozialistische Klassik“ vollbringen lasse. Hans Blumenberg und Peter Hacks haben auf ihre jeweils eigene Weise den Mythos als sinnstiftendes und stabilisierendes Logos-Medium rehabilitiert; ja „rehabilitiert“, war der Terminus „Mythos“ doch in beiden Teilen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der Begriffsvereinnahmung durch den deutschen Faschismus in Verruf geraten.10 Weshalb der Rekurs auf eine in den Geisteswissenschaften zum geflügelten Wort gewordene Wendung Hans Blumenbergs im Titel dieser Abhandlung? So groß die weltanschaulichen Unterschiede zwischen den beiden Denkern sein mögen, so offensichtlich sind allerdings die Überschneidungspunkte zwischen beiden. Sowohl Blumenberg als auch Hacks sind der Ansicht, dass es eine „schöpferische Ursprünglichkeit“ (Blumenberg) beim Mythos überhaupt nicht gibt, nicht einmal geben muss, wie der Dramatiker in seinem Aufsatz „Iphigenie, oder: Über die Wiederverwendung von Mythen“ (1963) betont: „Der dauernde Wert einer Mythe hängt nicht ab von ihrer ursprünglichen Bedeutung.“ (MK I, S. 100) Genau wie Hacks eruiert Blumenberg in seiner Mythosanalyse die dialektische Janusköpfigkeit der mythischen Narrationen: „Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit. Diese beiden Eigenschaften machen Mythen traditionsgängig: 7 Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 51996 8 „Amphitryon“ (1967), „Omphale“ (1968), „Prexaspes“ (1968), „Numa“ (1971), „Adam und Eva“ (1972) oder „Jona“ (1986). 9 Vgl. hierzu das mythostheoretische Kapitel. 10 Vgl. diesbezüglich ebenfalls das Kapitel II. 10
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