Zweiundzwanzig PT 2611 .U436Z48 1974 oder Die Hälfte des THOMAS). BATA LIBRARY TRENT UNIVERSITY Digitized by the Internet Archive in 2019 with funding from Kahle/Austin Foundation https://archive.org/details/22zweiundzwanzig0000fuhm wanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens Franz Fühmann Hinstorff Verlag Rostock x974 Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens (c) VEB Hinstorff Verlag Rostock 1973 2. Auflage 1974. Lizenz-Nr. 391/240/37/74 Alle Rechte Vorbehalten. VEB Hinstorff Verlag Rostock Printed in the German Democratic Republic Ausstattung: Lothar Reher Satz: GG Interdruck Leipzig Druck und Binden: Offizin Andersen Nexö Graphischer Großbetrieb, Leipzig III/l 8/38—3 Bestell-Nr.: 522 200 2 EVP 8,- 14. 10. Ostbahnhof, Bahnsteig A, Nord-Süd-Expreß, 23.45 — dieser nächtliche Bahnhof wirkt wie immer so überaus traulich: die Nacht ist schwarz und die Lichter sind mild, der Himmel wölbt sich eisern über festem Grund, und Tauben schlafen in seinen sicheren Nestern. Wölkchen ziehen milchweiß und prall, gezähmte Drachen schnauben in ihren Sielen, und was sonst Wolf und Schaf ist, Löwe und Lamm, Pardeltier und Gazelle, liegt ganz ohne Arg und Furcht einander im Arm und wünscht sich gegen¬ seitig von Herzen das Beste. Gott ist nah und erreichbar, seine Ordnung verständlich, der Erzengel trägt eine rote Mütze, der Schutzengel eine rote Schärpe, die Schlange hat hier keinen Zutritt, und noch der Verrußte leistet nützliche Arbeit. O wackre heile Welt Man sollte vielleicht noch Palmen einbaun Nationalcharaktere im Abschiednehmen: Ich glaube, der Deutsche fühlt sich geläutert Zwangsvorstellung: Das Coupe mit jemandem teilen müssen, der gerade seine Doktorarbeit über das Thema „Das epische Theater und der Dramatiker Bertolt Brecht“ vollendet hat. Aufatmen: das andre Bett ist hochgeklappt Nebenan im offnen Abteil zwei Generäle mit offenen Krägen. Einer liest Zeitung — das ist ein ganz merkwürdiger Anblick. Ein Buch wäre denkbar und hätte auch Tradition. Eine Zeitung verfremdet. Warum? (Ich glaube, ich weiß es und natürlich prompt die Erinnerung: der General im Lager im Kaschakessel. Er war, mit dem Auskratzen an der Reihe, kopfüber dermaßen hineingekrochen, daß man — und dies vor dem leeren, fahlgrauen Horizont — nur seine Beine mit den Biesen herausragen sah; ich hielt Generäle danach nicht mehr für Götter 5 Ejaculatio praecox eines Taschentuchs, das sich schon ent¬ faltet, da der Zug noch nicht fährt Der Zeiger der Bahnhofsuhr gleitet nicht, er springt ruckhaft von Minute zu Minute, und dies mit solcher Betulichkeit, daß sein Gebaren ungemein tröstet Am Bahnsteig erscheinen, im Geist in die Hände spuckend, zwei Scheuerfrauen mit riesigen Besen (vielleicht ein Einfall für meinen Prometheus: Am Schluß von Mekone Der Poseidon hat in meiner Vorstellung oft Züge eines Bahnhofsvorstehers; den Apollo könnt’ ich mir ganz gut so denken, den Hermes und Ares zur Not, den Hephaistos, Hades, Dionysos gar nicht. Auch Zeus nicht, ihn am wenig¬ sten : Dies Amt wäre für ihn viel zu groß Den Prometheus auch nicht, der spielte herum ... Aber Epimetheus wäre die ideale Besetzung Interieur mit echten Wolken Ein schriller Pfiff wie der Peitschenknall eines Dompteurs, und vor meinem Fenster die Hallenwand gleitet lautlos, wie sie’s gelernt hat, zurück Verblüffte Funken Den Gang herab eine große, junge Rumänin, blauschwarzer Mantel unterm nachtblauen Seidentuch überm schwarz¬ blauen Haar über den blau und schwarz schattierten Augen, und auf dem Bahnsteig stößt, schwankend auf Zehen¬ spitzen und von zwei schwankenden Burschen gestützt, ein bis zur Sprachlosigkeit bewegter, sehr schmächtiger, sehr verwahrloster Mann unbestimmbaren Alters einen fuselumwölkten Kuß in den weißen Dampf, den die Frau, die plötzlich aufschluchzt, nicht mehr erwidert „Der schöne Mensch ist eigentlich nur einen Augenblick schön“ — wo nur habe ich dieses furchtbare Wort gelesen 6