ÄSTHETIKEN X.0 Judith Siegmund Zweck und Zweckfreiheit Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens Reihe herausgegeben von Judith Siegmund, Stuttgart, Deutschland Michaela Ott, Hamburg, Deutschland Christian Grüny, Witten, Deutschland Wissenschaftlicher Beirat: Eva Schürmann, Magdeburg, Deutschland Daniel M. Feige, Stuttgart, Deutschland Rachel Zuckert, Chicago, USA Douglas Barrett, New York, USA Die Reihe Ästhetiken X.0 folgt einem Verständnis von Kunstphilosophie und phi- losophischer Ästhetik, das auf Sachhaltigkeit und historische Konkretheit setzt. Danach sind philosophische Reflexion, wissenschaftliche Auseinandersetzung und kulturelle Situiertheit aufeinander verwiesen und sollten den Entwicklungen der ästhetischen Praxis in den verschiedenen künstlerischen Feldern, aber auch jenseits dieser Rechnung tragen. Ohne auf eine bestimmte theoretische Position festgelegt zu sein, bringt die Reihe Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen und Feldern zur Artikulation, die für die Gegenwart symptomatisch und wegweisend erschei- nen. Dabei ist die Frage ausschlaggebend, was ästhetische Praxis heute bedeutet, in welchen (De)Form(ation)en sie stattfindet und welche gesellschaftlich-symbolische Position sie bezieht. Dazu gehört die Reflexion der Ästhetik als westlich-bürgerli- che Emanzipationswissenschaft und normsetzend-universalisierende Disziplin. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16310 Judith Siegmund Zweck und Zweckfreiheit Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert Judith Siegmund HMDK Stuttgart Stuttgart, Deutschland ISSN 2662-1398 ISSN 2662-1401 (electronic) Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens ISBN 978-3-476-04804-2 ISBN 978-3-476-04805-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04805-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Foto: Henry Chan © Tanja Ostojić; Foto der Perfor- mance „Misplaced Women? Dedicated to the Missing and Murdered Indigenous Women in Canada“, Toronto 2016) J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Für Mojca Inhaltsverzeichnis 1 Funktionswandel der Künste als Herausforderung für die ästhetische und soziologische Theorie ........................... 1 1.1 Tendenzen der Integration der Künste ins Gesellschaftliche – das Selbstverständnis der Akteure ........................... 2 1.1.1 Die Künste und das Politische ........................ 4 1.1.2 Social Arts und Partizipative Kunst .................... 9 1.1.3 Künste als Bildung, Künste als Vermittlung ............. 13 1.1.4 Der kreative Imperativ – innerhalb und außerhalb der Künste ....................................... 15 1.1.5 Kunst als gesellschaftliche Arbeit ..................... 18 1.1.6 Kunst als Wissensproduktion ......................... 22 1.2 Funktionsbegriff und Gesellschaftsbegriff in der Soziologie ...... 26 1.2.1 Niklas Luhmann – Differenz von Funktion und Leistung ...................................... 28 1.2.2 Ein anderer Funktionsbegriff in einer veränderten Gesellschaft ...................................... 31 1.2.3 Von den Funktionen der Künste in der Gesellschaft ....... 35 1.3 Kunst und Design im Wechselverhältnis von Funktionalität und Nichtfunktionalität ................................... 36 1.3.1 Die Entstehung des Funktionalismus als Stilbegriff sowie der Begriff der Funktionalität des Designs zur Abgrenzung vom Nichtfunktionalen der Kunst ........... 37 1.3.2 Design als Gestaltungsprozess – ein alternativer Denkansatz ....................................... 42 1.4 Was ist ein gesellschaftlicher Funktionswandel der Künste in der ästhetischen Theorie? ......................... 47 VII VIII Inhaltsverzeichnis 2 Über Autonomie und Zweckfreiheit der Kunst in der Geschichte der ästhetischen Theorie der Moderne ................ 49 2.1 Kant-Rezeptionen der Kunstphilosophie seit Adorno ............ 50 2.2 Die Zuspitzung des Autonomiegedankens bis zum Dogma der Zweckfreiheit der Kunst ......................... 55 2.2.1 Ein Versuch, die autonome Kunst mit ihrer gesellschaftlichen Funktionslosigkeit zu versöhnen (Peter Bürger) ............................ 58 2.2.2 Die Inanspruchnahme der Autonomie der Kunst im Kalten Krieg ................................... 64 2.2.3 Kritik der zweckfreien Kunst ......................... 69 3 Zweck – Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ............. 71 3.1 Zweck als Ursache eines teleologischen Bewegungsprinzips (Aristoteles) ............................................ 72 3.1.1 Differenzen und Gemeinsamkeiten bei Platon und Aristoteles .................................... 72 3.1.2 Der Zweck im künstlerischen Tun und das zweite poietische Regime bei Jacques Rancière ................ 77 3.2 Zweckmäßigkeit als subjektive Unterstellung .................. 82 3.2.1 Über die Annahme einer Zweckmäßigkeit als Ordnungsunterstellung an die Natur – die Teleologie in der Kritik der Urteilskraft ................ 84 3.2.2 Zweckmäßigkeit in der Wahrnehmung der schönen Form – aber ohne Zweck ..................... 91 3.2.3 Die ästhetischen Ideen des Genies als naturgegebener Zweck der Erkenntnis .............................. 99 3.3 Zweck des Handelns und Zweck des Herstellens (zwei Aristoteles-Lesarten: Thomas von Aquin und Hannah Arendt) ...................................... 106 3.3.1 Zweck im zielgerichteten Handeln bei Thomas von Aquin ................................. 107 3.3.2 Die Zweck-Mittel-Relation in Hannah Arendts Begriff des Herstellens .............................. 110 3.3.3 Handeln als selbstzweckhafte Praxis – Hannah Arendts Handlungsbegriff ........................... 116 3.3.4 Mit Homo faber siegt die instrumentale Verfolgung von Zwecken – Arendts Analyse der Neuzeit ............ 124 3.4 Vom idealtypischen zweckrationalen Handeln (Max Weber) ...... 127 3.4.1 Die Einbettung des Begriffs Zweckrationalität in Webers Konzept einer verstehenden Soziologie .......... 128 3.4.2 Die theoriegeschichtliche Subjektivierung und gleichzeitige Radikalisierung des Zweckbegriffs ......... 131 Inhaltsverzeichnis IX 3.5 Innere Zwecke und die Sozialität des künstlerischen Handelns (John Dewey) ................................... 133 3.5.1 Die Denkfigur des menschlichen Handelns und ihre erkenntnistheoretischen und anthropologischen Grundbestimmungen ............................... 135 3.5.2 Kunst als ein Umgehen mit Mittel-Zweck-Mittel- Relationen – ein Prototyp für sinnerfülltes Handeln ....... 143 3.5.3 Künstlerische Zweck-Mittel-Konstellationen in Deweys Demokratietheorie und seiner Pädagogik ........ 154 4 Eine nicht (nur) rationale Gesellschaft .......................... 163 4.1 Kritik der Zweckrationalität als Gesellschaftsbestimmung ........ 164 4.2 Gesellschaftliche Entgrenzungen von Selbstdarstellung als ästhetische Form ...................................... 167 4.3 Digitalisierung .......................................... 171 5 Zwecke von Künsten – eine teleologische Perspektive? ............. 175 5.1 Zum Verhältnis von ästhetischer Theorie und Gesellschaft heute ....................................... 177 5.2 Der Zweckbegriff und die Künste ........................... 180 5.3 Kunst als Handlung ...................................... 184 5.4 Die Unterscheidung der Begriffe Nutzen, Instrumentalisierung, Funktion und Zweck in der ästhetischen Theorie der Künste heute .................. 186 Literatur ...................................................... 195 Einleitung „Jedes Kunstwerk ist in einem gewissen Sinn ‚die Welt noch einmal‘, nämlich: die Welt gereinigt von den unmittelbaren Zwecken […].“1 Dass der ‚Zweck‘ etwas ist, von dem das Kunstwerk ‚gereinigt‘ werden muss, ist nicht untypisch für die Kunstphilosophie des 20. Jahrhunderts. Man könnte eventuell so weit gehen zu sagen, dass hier ein Mythos entstanden ist: ein Mythos von einer Kunst bzw. von Künsten, die konträr zu einer von Zwecken regierten Welt stehen. Dieser Narration möchte ich in dem Buch nachgehen, sie zerlegen und neu zusammensetzen. Dabei geht es nicht allein um die Künste, ihr Verhältnis zu angrenzenden Bereichen und ihre Funktion in der Gesellschaft. Ein Teil meiner Überlegungen handelt davon, dass die Rede von Zwecken und ihrer rationalen Verfolgung eine unterkomplexe Beschreibung der Gesellschaften ist, in denen wir heute leben. In Zeiten der Digi- talisierung, eines ästhetisierten Lifestyles und eines kreativen Imperativs, der sich an die meisten richtet, wäre es nicht nur unangemessen, die Praxis der Künste einfach einer ‚draußen‘ herrschenden Zweckrationalität gegenüberzustellen, son- dern das kausale Zweck-Mittel-Modell in seinen simpleren Varianten genügt auch nicht mehr, um das allgemeine Gesellschaftliche, also das ‚Draußen‘ richtig zu beschreiben. So sind beide Seiten in Bewegung geraten – diese Einsicht stellt einen zeitdiagnostischen Anspruch des folgenden Textes dar. Meine ausführliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des philosophi- schen Zweckbegriffs verstehe ich als den Vorgang einer Materialhebung für den ästhetischen Diskurs. So ist das Kapitel zur Geschichte des Begriffs als eine Art Fundgrube zu denken, in der viele Möglichkeiten des Weiterdenkens schlummern und aus der ich längst nicht alle Impulse für meine eigene Theoriebildung nutzen konnte. Vermitteln möchte ich, dass es sich lohnt, handlungstheoretisch sowie aus einer teleologischen Perspektive an kunstphilosophische Fragestellungen heranzu- gehen. Die Theorie der Zwecke von Künsten, mit der ich ende, erscheint daher einstweilen nur in Umrissen, sie konnte hier noch nicht genauer ausgearbeitet wer- den. Das hängt auch damit zusammen, dass die Stunden konzentrierter Schreibar- beit für Professor*innen dermaßen gezählt sind, dass eine präzisere Ausarbeitung des Themas weitere Jahre dauern würde. 1Theodor W. Adorno: Ästhetik (1958/59), hg. von Eberhard Ortland, Berlin 2017, S. 77. XI