Zur zukünftigen Betreuung und Pflege älterer Menschen Rahmenbedingungen – Politikansätze – Entwicklungsperspektiven August Österle & Elisabeth Hammer im Auftrag der Caritas Österreich gefördert aus Mitteln des Bundesministeriums für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz Wien, März 2004 „Es geht um die würdevolle Bewältigung der ganzen Lebenszeit – vor allem der letzten Wegstrecke, wenn der Mensch über medizinische Hilfe hinaus besonders auf mitmenschliche Zuwendung und Liebe angewiesen ist. Gerade da setzt die Forderung an die demokratische Gesellschaftsordnung an, denn ein Gemeinwesen wird gemessen an seinem Umgang mit den schwächsten Gliedern.“ Kardinal Franz König/Rede im Parlament am 29. Mai 2001 VORWORT Die Kardinal König Akademie wurde 1999 mit dem Ziel gegründet, zur Weiterentwicklung und praktischen Innovation sozialer und pastoraler Tätigkeiten beizutragen. Die zwei Handlungsfelder, in denen sich diese Akademie bewegt, sind Aus- und Fortbildungsmaßnahmen sowie Forschungsaktivitäten. Es freut mich außerordentlich, mit dem vorliegenden Bericht das erste Produkt der Kardinal König Akademie im Bereich der wissenschaftlichen Forschung vorlegen zu können. Die Pflege und Betreuung der älteren und alten Menschen ist angesichts weitreichender gesellschaftlicher Veränderungen und der demographischen Entwicklung eine große Sorge und Herausforderung zugleich. Politik, Sozialwirtschaft und Gesellschaft müssen sich den geänderten Rahmenbedingungen stellen. Im Speziellen müssen in diesem Zusammenhang der Umgang mit Demenzerkrankungen und die optimale Betreuung von sterbenden und chronisch kranken Menschen im Sinne der Hospizidee genannt werden. Abwarten und Aussitzen in der Hoffnung, die Probleme würden sich von selbst lösen, sind keine Alternative. Anstelle dessen gilt es, offensiv und aktiv an der Gestaltung zukünftiger Pflege- und Betreuungsmodelle mitzuwirken, neue Wege aufzuzeigen und den Blick über die Grenzen zu öffnen. Mit der Studie „Zur zukünftigen Betreuung und Pflege älterer Menschen / Rahmenbedingungen – Politikansätze – Entwicklungsperspektiven“ leistet die Kardinal König Akademie genau dazu einen Beitrag. In der Vorphase dieses Projektes waren wir mit einem Mangel an aktuellen Studien, die das österreichische Pflegesystem mit jenem in anderen Ländern vergleichen, konfrontiert. Das Verlassen breitgetretener Pfade und gewohnter Felder ist aber für das Aufzeigen von Entwicklungsperspektiven unverzichtbar. Daher widmet sich der erste Teil der Studie anderen Ländern. Nach einem groben Überblick über die Systeme in Europa hat man die Länder Deutschland und die Niederlande für eine nähere Betrachtung ausgewählt. Einerseits sollten die Vergleichsländer mit dem österreichischen Pflege- und Betreuungsmodell Ähnlichkeiten aufweisen, wodurch eine Übertragung von Änderungsvorschlägen realistischer wird. Und andererseits wurden bei diesen Ländern Indikatoren identifiziert, die für die 2 Weiterentwicklung in Österreich relevant sind. Ein Vergleich mit Pflege- und Betreuungsformen auf anderen Kontinenten, wie z.B. Japan oder den USA wurde auf Grund der enormen Unterschiede in der wohlfahrtstaatlichen Konzeption dieser Staaten außer Acht gelassen. Um eine starke Verortung in der Praxis und eine Involvierung von in der Pflege und Betreuung tätigen Dienstleistern zu erreichen, wurde ein prozesshaftes Vorgehen gewählt. Ein von Sylvia Nossek (MIKADO) moderiertes „sounding board“, in dem Personen aus der unmittelbaren Praxis (Pflegedienstleitung, Pflegeheimleitung), dem mittleren Management (Bereichsleitung, Geschäftsleitung, etc.) im Bereich der Alten- und Seniorenbetreuung der Caritas sowie aus dem Bundesministerium für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz und der Kardinal König Akademie vertreten waren, wurde eingerichtet. Auf eine bundesländerübergreifende Besetzung wurde ebenso geachtet. Den Wissenschaftlern wurde auf diese Weise bei der Ausarbeitung des Studienthemas ein „Resonanzraum“ aus der Praxis beiseite gestellt. Intensive Diskussionen und ein reger Austausch waren die Folge. Aufklärung über die Abläufe in der Praxis standen der Analyse des Gesamtsystems gegenüber. Beispielsweise wurde das Verfahren zur Pflegegeldeinstufung vor dem Hintergrund der Defizite im Bereich der Beratung analysiert. Auch wurde ein gängiges und in anderen Ländern funktionierendes Vorgehen vor dem Hintergrund österreichischer Gegebenheiten kritisch beleuchtet. Den teilnehmenden Erich Ostermeyer, Ilse Enge, Sigrid Boschert, Barbara Musch, Martin Eilmannsberger, Denisa Huber, Carmen Rist, Ilse Frisch, Ingrid Grün, Beate Missoni, Judit Marte und Stefan Wallner danke ich dafür, dass sie engagiert mitgewirkt haben. Und ich danke den Autoren August Österle und Elisabeth Hammer, dass sie sich auf diesen Prozess nicht nur offen eingelassen, sondern diesen auch mitgeprägt haben. Abschließend kann man festhalten, dass das „sounding board“ ein Experiment war, an dem sich die Kardinal König Akademie bei zukünftigen Projekten jedenfalls orientieren wird. Ich wünsche Ihnen nunmehr eine spannende Lektüre dieser Studie, und ich hoffe, sie werde zu einer Versachlichung und fachlichen Erweiterung der öffentlichen Diskussion des österreichischen Pflegesystems beitragen. Sr. Mag. Hildegard Teuschl CS Leiterin der Kardinal König Akademie Wien, Oktober 2004 3 INHALTSVERZEICHNIS Vorwort....................................................................................................................................................2 Inhaltsverzeichnis....................................................................................................................................4 Tabellenverzeichnis.................................................................................................................................5 Abbildungsverzeichnis.............................................................................................................................5 1. Einleitung.............................................................................................................................................6 2. Rahmenbedingungen und Herausforderungen...................................................................................9 2.1 Aktuelle gesellschaftspolitische Entwicklungen.....................................................................................9 2.1.1 Die steigende Bedeutung des Marktes bzw. marktlicher Regulierungsformen...............................9 2.1.2 Kommodifizierung – Pflege wird zur Ware....................................................................................13 2.2 Konzeptionelle Überlegungen zum Vergleich von Pflegevorsorgesystemen.......................................20 2.2.1 Ausgangspunkt für Vergleiche von wohlfahrtsstaatlichen Politiken..............................................20 2.2.2 Pflege und Betreuung im Mittelpunkt wohlfahrtsstaatlicher Vergleichsstudien.............................25 2.3 Demographische, soziale und ökonomische Herausforderungen.......................................................32 2.3.1 Bedarf an Pflege und Betreuung...................................................................................................33 2.3.2 Leistung von Pflege und Betreuung..............................................................................................36 2.3.3 Finanzierung von Pflege und Betreuung.......................................................................................41 3. Pflegevorsorgesysteme in Europa....................................................................................................45 3.1 Europäische Pflegevorsorgesysteme im Überblick..............................................................................45 3.1.1 Private und öffentliche Verantwortung für Pflege..........................................................................45 3.1.2 Sachleistungsorientierung versus Geldleistungsorientierung........................................................48 3.1.3 Förderung der Familienpflege.......................................................................................................54 3.1.4 Finanzierung der öffentlichen Unterstützung bei Langzeitpflege..................................................57 3.2 Geldleistungssysteme..........................................................................................................................59 3.2.1 Geldleistungssysteme in Österreich, Deutschland und den Niederlanden...................................60 3.2.2 Zur Wirkungsweise unterschiedlicher Geldleistungssysteme.......................................................64 3.3 Unterstützung der informellen Pflege...................................................................................................75 3.3.1 Unterstützung und Begleitung in der Pflege..................................................................................76 3.3.2 Entlastung von der Pflege.............................................................................................................79 3.3.3 Soziale Absicherung von informell Pflegenden.............................................................................81 3.3.4 Zusammenfassende Diskussion...................................................................................................84 4. Zur Zukunft der Pflegevorsorge in Österreich..................................................................................90 4.1 Die Ausgangssituation.........................................................................................................................91 4.1.1 Akteure, Leistungsströme und Finanzierungsströme....................................................................91 4.1.2 Das Verhältnis von Geld- und Sachleistungssystem.....................................................................99 4.1.3 Wahlfreiheit in der Inanspruchnahme von Pflegeleistungen.......................................................102 4.1.4 Konsequenzen für die Entwicklung von Reformoptionen............................................................105 4.2 Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung der Pflegevorsorge in Österreich.......................................107 4.2.1 Schnittstellen von Geld- und Sachleistungssystem und die Rolle von Rechtsansprüchen.........108 4.2.2 Unterstützung / Entlastung / Einbindung von informell Pflegenden............................................113 4.3 Optionen zur Finanzierung des österreichischen Pflegevorsorgesystems........................................120 4.3.1 Finanzierungsoptionen und deren grundsätzliche Beurteilung...................................................121 4.3.2 Spezifische Finanzierungsfragen................................................................................................127 5. Schlussfolgerungen.........................................................................................................................137 6. Literatur...........................................................................................................................................139 7. AutorInnen.......................................................................................................................................143 4 TABELLENVERZEICHNIS Tabelle 1: Analysekriterien für Politiken im Feld der Pflege und Betreuung..................................................29 Tabelle 2: PflegegeldbezieherInnen in Österreich nach Pflegestufen (2001)...............................................33 Tabelle 3: Zahl und Anteil der Bevölkerung im Alter von 60 und mehr Jahren in Österreich........................35 Tabelle 4: Betreuungspflichten zwischen Familienmitgliedern......................................................................46 Tabelle 5: Geldleistungssysteme im Überblick..............................................................................................61 Tabelle 6: Leistungen der deutschen Pflegeversicherung im Überblick (2003)............................................62 Tabelle 7: Unterstützungsmodelle für informell Pflegende in Europa............................................................77 Tabelle 8: Entlastungsmodelle in Europa......................................................................................................81 Tabelle 9: Soziale Absicherungsmodelle in Europa......................................................................................82 Tabelle 10: Beitragszahlungen der Pflegekassen an die gesetzliche Rentenversicherung (2003)...............82 Tabelle 11: Aufwendungen des Bundes und der Länder für die Pflegevorsorge (2001)...............................95 Tabelle 12: Modellrechnung Pflege- und Betreuungsberatung...................................................................116 Tabelle 13: Vereinfachte Darstellung von Finanzierungsquellen und Bewertungskriterien.........................124 ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Schema zur Analyse von Kommodifizierungsprozessen..........................................................30 Abbildung 2: Dominanz von Sachleistungen bzw. Geldleistungen in der Langzeitpflege.............................48 5 1. EINLEITUNG Pflegevorsorge rückt zunehmend in den Mittelpunkt sozial- und gesellschaftspolitischer Debatten. Demographische Veränderungen, veränderte Familienstrukturen, ein prognostizierter wachsender Pflege- und Betreuungsbedarf, Personalmangel in der professionellen Pflege, aber auch grundsätzliche Fragen der Finanzierung von Betreuungsleistungen für ältere unterstützungsbedürftige Menschen fordern die Entwicklung von Pflege und Betreuung als eigenständiges soziales Politikfeld. Ziel der vorliegenden Studie ist es, Herausforderungen im Feld der Pflege zu konkretisieren, politische und institutionelle Ansätze in diesem Politikfeld in unterschiedlichen Ländern Europas vorzustellen und zu vergleichen sowie – daraus abgeleitet – Entwicklungsperspektiven für die österreichische Pflegevorsorge aufzureißen. Damit werden wichtige Entscheidungs- grundlagen für eine Positionierung zu gesellschaftlichen Herausforderungen in diesem Feld aufgearbeitet, die es nicht zuletzt bei der Konkretisierung von notwendigen Reformschritten zu berücksichtigen gilt. Die Studie ist neben der Einleitung in drei Hauptteile gegliedert: Kapitel 2 widmet sich zu Beginn einer Einbettung von Pflege und Pflegebedürftigkeit als sozialpolitisches Handlungsfeld in einen breiteren wohlfahrtsstaatlichen Kontext und diskutiert aktuelle gesellschaftspolitische Entwicklungen in diesem Bereich, die insbesondere in einer steigenden Bedeutung des Marktes sowie verstärkten Tendenzen einer Kommodifizierung von Pflegearbeit wahrzunehmen sind (vgl. Kapitel 2.1). Nachfolgend werden verschiedene konzeptionelle Ansätze der Analyse und des Vergleichs von Pflegepolitiken vorgestellt, die jeweils verschiedene Möglichkeiten der Verteilung von Pflegearbeit bzw. der Wirkung von Kommodifizierungsprozessen in den Blick nehmen (vgl. Kapitel 2.2). Kapitel 2.3 untersucht abschließend die derzeitigen und die zu erwartenden sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen für Pflege und Betreuung älterer Menschen. Dazu zählen insbesondere die demographischen Entwicklungen, 6 Veränderungen in Familienstrukturen, Möglichkeiten und Beschränkungen innerfamiliärer Betreuung, die Darstellung der Verteilung der gegenwärtigen Finanzierungslasten sowie Prognosen über die zu erwartenden Finanzierungslasten. Kapitel 3 bietet einen vergleichenden Überblick zu Pflegevorsorgesystemen in Europa, der zentrale Gestaltungselemente von Langzeitpflege in einzelnen Ländern herausarbeitet. Die ausgewählten Länder sind dabei als Repräsentanten unterschiedlicher (Wohlfahrtsstaats-)“Modelle“, aber auch als Quelle spezifischer Programmansätze zu verstehen. In der Folge werden die Spezifika der Leistungssysteme in Österreich, Deutschland und den Niederlanden detailliert dargestellt und ihre unterschiedliche Wirkungsweise, beispielsweise hinsichtlich der Absicherung von Wahlfreiheit sowie der Verteilung und Qualität von Pflegearbeit, analysiert (vgl. Kapitel 3.2). Abschließend werden in Kapitel 3.3 verschiedene Ansätze zur Unterstützung informeller Pflege vorgestellt, die sich entweder auf Unterstützung und Begleitung in der Pflege, auf Entlastung von der Pflege oder aber auf Maßnahmen zur sozialen Absicherung von informell Pflegenden beziehen. In Kapitel 4 bieten diese internationalen Beispiele und Modelle einen wichtigen Referenzrahmen, um Spezifika der österreichischen Regulierung im Pflegebereich, auch im Sinne struktureller Schwächen, sinnvoll zu bewerten und Reformvorschläge zu erarbeiten. Nach einer Analyse der aktuellen Situation des Pflegevorsorgesystems, die insbesondere auf Defizite im Sachleistungsbereich sowie in der Absicherung von Wahlfreiheit fokussiert (vgl. Kapitel 4.1), werden verschiedene Ansatzpunkte für die inhaltliche Weiterentwicklung der Pflegevorsorge in Österreich vorgestellt (vgl. Kapitel 4.2) und Optionen für damit einhergehende Finanzierungsnotwendigkeiten aufgezeigt (vgl. Kapitel 4.3). Im Vordergrund steht dabei die Weiterentwicklung der österreichischen Pflegevorsorge zu einem stärker integrierten Leistungssystem, das auch die Etablierung von Rechtsansprüchen auf Sachleistungen im Rahmen einer Geldleistung ermöglicht. Finanzierungsoptionen und neue Förderinstrumente für derartige Reformvorschläge werden in der Folge vor dem Hintergrund von Effizienz-, Verteilungs- und Nachhaltigkeitsüberlegungen aufgerissen und bewertet. 7 Wie im Vorwort ausgeführt, ist diese Studie in enger Kooperation mit Personen entstanden, die im Feld der Betreuung und Pflege, und zwar auf der gestaltenden wie auch auf der praktischen Ebene, tätig sind. Ihnen sei für die Bereitschaft zu Interviews und für das Engagement in den Workshops zu diesem Projekt herzlich gedankt. Dank gebührt auch Silvia Nossek für die Moderation der Workshops. Schließlich haben Marlene Vock und Bernhard Weicht für die Erstellung der Untersuchung wertvolle wissenschaftliche Assistenzleistungen erbracht, wofür ihnen an dieser Stelle ebenfalls herzlich gedankt sei. Das Feld der Langzeitpflege steht seit seiner Etablierung als sozialpolitisches Handlungsfeld im Zentrum wohlfahrtsstaatlicher Umbauoptionen. Eine breite, öffentlich geführte gesellschaftspolitische Debatte darüber, wie – auch in finanzieller und ethischer Hinsicht – auf bestehende Herausforderungen zu reagieren ist, ist überfällig. Die vorliegende Studie versteht sich als ein Anknüpfungspunkt für einen derartigen Diskurs. In dieser Studie wird Pflegebedürftigkeit als eine Situation verstanden, bei der Menschen auf Grund von gesundheitlichen und/oder psychischen Problemen auf Dauer auf externe Unterstützung angewiesen sind. Solche Unterstützungsleistungen können sich auf Pflege durch krankenpflegerisch ausgebildetes Personal, auf persönliche Hilfe und Betreuung sowie auf Hilfe bei der Haushaltsführung beziehen. Die Begriffe „Pflege“ (bzw. zusammengesetzte Begriffe wie Pflegevorsorge, Pflegesicherung oder Langzeitpflege) und „Betreuung“ werden dabei als Überbegriffe verwendet und sollen einen weiten Bogen für die unterschiedlichsten Thematiken in diesem sozialpolitischen Handlungsfeld aufspannen. Dort, wo gerade die Differenzierung der verschiedenen Pflege- und Betreuungsformen von Bedeutung ist (etwa bei unterschiedlichen Finanzierungsarrangements), wird dies explizit angesprochen. Wiewohl wesentliche Geld- und Sachleistungen im Feld der Pflegevorsorge für Menschen jeglichen Alters zugänglich sind, wird in dieser Studie explizit auf Rahmenbedingungen, Politikansätze und Entwicklungsperspektiven für die zukünftige Betreuung und Pflege älterer Menschen fokussiert. 8 2. RAHMENBEDINGUNGEN UND HERAUS- FORDERUNGEN 2.1 Aktuelle gesellschaftspolitische Entwicklungen Europäische Europäische Wohlfahrtsstaaten werden heute im Allgemeinen als im Umbau Wohlfahrtsstaaten befindlich beschrieben. Entsprechende Veränderungen in der im Umbau Erscheinungsform von Wohlfahrtsstaatlichkeit werden häufig als „Abbau“ bezeichnet und verhandelt. Gerade anhand einer Analyse des Feldes von Pflege und Betreuung wird allerdings deutlich, dass sich wohlfahrtsstaatliche Entwicklungen keineswegs mittels einer Dichotomie von Abbau versus Ausbau fassen lassen. Für Österreich und auch für andere europäische Länder ist beispielsweise festzustellen, dass das wohlfahrtsstaatliche Interesse und Engagement für den Bereich der Pflege seit Anfang der 90er Jahre kontinuierlich gewachsen ist. Im Folgenden sollen einzelne Charakteristika dieses wohlfahrtsstaatlichen Umbaus diskutiert und ihre Relevanz für das Feld der Pflege und Betreuung von älteren Menschen herausgearbeitet werden (vgl. Hammer 2002). 2.1.1 Die steigende Bedeutung des Marktes bzw. marktlicher Regulierungsformen Weniger Staat? Wohlfahrtsstaatlicher Umbau wird häufig anhand der Koordinaten: weniger – mehr privat? Staat – mehr privat diskutiert. Wiewohl diese Charakterisierung speziell für den Bereich der Pflege einer Konkretisierung bedarf, ist es doch gemeinhin unwidersprochen, dass der Markt auch im Bereich der Wohlfahrtsproduktion an Bedeutung gewinnt. Veränderte War noch vor einigen Jahrzehnten der Staat jener primäre Akteur, der Funktion des Sicherungsaufgaben gegenüber Marktkräften wahrnahm, kommt es nun zu (Wohlfahrts-) einem Zusammenspiel einer Vielfalt von Akteuren und Institutionen, die Staates gleichberechtigt neben dem Staat das Feld der Produktion von Wohlfahrt gestalten. Dem Wohlfahrtsstaat kommt damit gegenüber anderen gesellschaftlichen Akteuren weiterhin eine übergeordnete gestaltende und regulierende Rolle in den typischen Staatsfunktionen zu. Im Bereich der 9 konkreten Leistungserstellung und vielfach auch in der Ausgestaltung der Leistungen tritt der Wohlfahrtsstaat hingegen in verschiedenen Bereichen vermehrt zurück. Während verschiedene TheoretikerInnen – wie beispielsweise Jessop (1999), Butterwege (1999) und Sauer (2001) – diese Entwicklung sehr kritisch betrachten, gibt es andere Wissenschaftler, darunter Evers (1996) sowie Heinze et al. (1997), die diesen sich etablierenden Wohlfahrtspluralismus befürworten. Derartige Konzepte, die auf einen Mix an Akteuren im Bereich der Wohlfahrtsfinanzierung, -ver- Steigende antwortung sowie -produktion abstellen, haben ihren Ursprung zumeist in der Bedeutung des intermediären Wohlfahrtsstaatskritik der 80er und 90er Jahre: Der Wohlfahrtsstaat in seiner Sektors traditionellen Form gilt dabei als überbürokratisiert und unflexibel und neigt tendenziell dazu, Ermächtigung und Selbstbestimmung beispielsweise von pflegebedürftigen Personen einzuschränken. Die Schaffung eines stärker marktwirtschaftlich orientierten sozialen Dienstleistungsbereiches wird aus dieser Perspektive dann konsequenterweise befürwortet. In der Folge wird dem intermediären und informellen Sektor eine „signifikante neue, gewichtigere Rolle bei der Bewältigung aktueller Herausforderungen im Bereich der sozialen Sicherung und Wohlfahrt“ (Evers/Olk 1996: 10) zugewiesen. Steigende Die steigende Bedeutung marktlicher Regulierung drängt auch historisch Bedeutung gewachsene Mechanismen zur Dekommodifizierung zurück. marktlicher „Dekommodifizierung“ in seiner wörtlichen Bedeutung meint in diesem Regulierung Zusammenhang wohlfahrtsstaatlich institutionalisierte Sicherungs- maßnahmen, die den Warencharakter der „Ware Arbeitskraft“ abmildern und zu einer Lockerung des Zwangs zur Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit beitragen. Ist mit Kommodifizierung eine Stärkung des Marktprinzips und eine Anbindung von sozialer Sicherung an Erwerbstätigkeit verbunden, deutet der Terminus Dekommodifizierung eine Gegenbewegung an, im Sinne einer Zurückdrängung der Abhängigkeit sozialer Sicherheit von der Erwerbstätigkeit. Historisch gesehen ist eine Dekommodifizierung über die Institutionalisierung des Sozialversicherungsgedankens und der Etablierung von Rechtsansprüchen im Sozialbereich erfolgt. Wie oben angedeutet, zeigen die derzeitigen Entwicklungen allerdings einen verstärkten Trend zu Prozessen der „Vermarktlichung“ bzw. („Re-) 10
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