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Zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Alchemia medica unter besonderer Berücksichtigung von Joachim Tanck PDF

19 Pages·1984·0.73 MB·German
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Zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Alchemia medica unter besonderer Berücksichtigung von Joachim Tanck Von JOACHIM Telle (Würzburg) Artzney vnnd Alchimey soll all- wegen bey einander stehen (Paracelsus). Kein vollkommener Medicus mag seyn / so nicht auch der Alchimey erfahren (J. Tanck). Manche frühneuzeitliche Kontroversschrift erinnert an den einstigen Streit um Rang, „veritas” und „utilitas” der Alchemie. An diesem Streit beteiligten sich indes nicht nur naturkundige Fachleute aus den Reihen der Mediziner, Pharmazeuten oder Metallurgen. Auch der Physica fern­ stehende Zeit- und Ständesatiriker nahmen das Wort, und zahlreiche Verfasser moralisch-didaktischer Dichtungen brandmarkten den „grossen bschisß der alchemy”1. Unbekümmert um die naturkundlichen Grund­ lagen seines Tuns, zeichneten sie vom Alchemisten ein Bild, das den Por­ trätierten zuweilen bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Orientiert nur an Dilettanten und Betrügern, hüllte man ihn in das Flittergewand eines Scharlatans oder in das armselige Kleid eines windigen Goldkoches und mitleiderweckenden Toren, der sich in Bürgerhaus und Fürstenhof seinen Vorteil erschwindelt oder selbstbetrügerisch um wahnhaft-süßer Träume seinen Besitz in Rauch und Asche aufgehen läßt und den man immer wieder fragte2: „Was ist die Alchimie, als eine kunst zu lügen? Was dient sie anders wohl, als menschen zu betrügen? Was bringt sie dir, mein freund, als asche, seufftzer, schweiß, Als hoffnung, leeren wind, und schände vor den fleiß?” Im Zerrspiegel der einstigen Moral- und Sittensatire schrumpft der Alche­ mist zum abenteuerlichen Betrüger und leichtgläubigen Phantasten, der 1 Sebastian Brant, Das Narrenschiff, 1494, hrsg. v. Manfred Lemmer,Tübingen z1968 (— Neudrucke deutscher Literaturwerke, N.F., 5), 271. 2 ++v. L. [wohl Balthasar Friedrich von Logau], Alchimie, in: Herrn von Hoffmannswaldau und anderer Deutschen auserlesener... Gedichte anderer Theil, hrsg. v. Benjamin Neukirch, Leipzig (Th. Fritsch) 1697, 111. 139 statt des goldzeugenden „Lapis philosophicus” allenfalls einen „Lapis spitaloficus” erlangt und dem zahlreiche Epigrammschmiede nach­ riefen3 4: „Was thut ein Alchimist? er sucht den Stein/ der Gauch: Was findt der Thor? die Asch? wo bleibt das Gold? im Rauch.” Tritt neben diesem übel beleumdeten und das populäre Bild vom Alche­ misten bis in unsere Tage bestimmenden „Gauch” gelegentlich auch einmal der Alchemist als Mediziner hervor, dann lautete seine „Grab- schrifft”‘’: „Ich war ein Alchimist/ ich dachte Tag und Stunden Auf eine neue Kunst/ des Todes frey zu seyn/ Diß was ich stets gesucht/das hab ich nicht gefunden/ Und was ich nicht gesucht/das stellt sich selber ein.” Einen Träger alchemischen Wissensgutes, der an Gewicht, Einfluß, theo­ retische und praktische Verdienste frühneuzeitlicher Alchemisten auf medizinischen und pharmazeutischen Gebieten erinnern könnte, trifft man in der literarisch-öffentlichen Kritik des 16. und 17. Jahrhunderts wohl schwerlich an, und wir sehen die barocke Dichtung mit ihrer all­ gegenwärtigen Stereotypfigur vom Alchemisten als desolatem Gold­ macher Positionen vorbereiten, die dann zu den argumentativen Scheide­ münzen der aufklärerischen Kritik des 18. Jahrhunderts an der Alchemie als einer „eingebildeten Goldmacherkunst” gehören. Über die bekannten Verdikte aufklärerischer Empiristen, die im alchemischen Fachschrifttum nichts erblickten als wertlosen „Plunder” und „alte, verlegene, wurmstichige, moderigte und unnütze Waare, so von wahrer pestilenzialischer Luft durchwittert ist”, und in der Alchemie nichts als eine „natürlicher Weise ganz unmögliche Kunst, deren ange­ gebne Grundsätze blosse Misgeburthen der Einbildungskraft in der Naturkenntniß der Körper unerfahrner Menschen sind”5, setzten sich 3 John Owen, Aufden Goldmacher, in: Teutschredender Owenus. Oder; Eilf Bücher der Lateini­ schen Überschriften des ... Oweni, übers, u. erl. v. Valentin Löber, S. Krebs (Jena) für Z. Hertel (Hamburg) 1661, Buch II, Nr. 9. 4 Christian Hofmann von Hofmannswaldau, <Grabschriffi> Eines Alchimisten, in: ders., Deutsche Übersetzungen Und Getickte, Breslau (E. Fellgiebels Witwe) 1700, 74, Nr. LV. 5 Johann Christian Wiegleb, Historisch — kritische Untersuchung der Alchemie, oder der einge­ bildeten Goldmacherkunst; von ihrem Ursprünge sowohl als Fortgänge, und was nun von ihr zu halten sey, Weimar (C. L. Hoffmann) 1777,409f; s. z.B. auchjohann Christoph Adelung, 140 Wissenschaftshistoriker inzwischen hinweg. Begünstigt von Methoden- und Prinzipienwandlungen in der Geschichtsschreibung6 und anderen Faktoren, büßten die aufklärerischen Bannsprüche eines Johann Christian Wiegleb oder Johann Christoph Adelung ihre Geltung zunehmend ein: Heute wird die traditionelle Alchemie zu keiner wahn­ haften Verirrung menschlichen Geistes deklassiert und tut man sie keines­ wegs mehr als ein „Hirngespinst” abergläubischer Menschen ab; ihre Geschichte schilt man kein wüstes „Sammelsurium” von törichten „Ein­ bildungen” und aus „erhitzten”, „versengten” Einbildungskräften ent­ sprungener Narrheiten; Paracelsus, Johann Baptist van Helmont, Johann Rudolph Glauber oder Johann Joachim Becher finden sich gewöhnlich nicht mehr als wider „Philosophie und gesunde Vernunft” handelnde „Thoren”, „Charlatane” und „philosophische Unholde” geäch­ tet. Justus von Liebig, der die „Idee des Steins der Weisen” als einen Gedanken zu rehabilitieren suchte, der „mächtiger und nachhaltiger” auf den Entdeckergeist und die forscherlichen Kräfte der Menschen einge­ wirkt habe als jeder andere, und der Idee vom Stein der Weisen einen „ans Wunderbare gränzenden Einfluß” auf die erkenntnismehrende Unter­ suchung und Beobachtung der Stoffeswelt zuerkannt hatte7, fand inso­ fern Nachfolge, als man die vermeintliche „Pseudoscience” Alchemie als eine Entwicklungsphase der Chemie und Pharmazie gemeinhin zu respektieren lernte. Nicht nur wurde gelegentlich ihr Anteil an dem „Ein­ bruch der ‘Physik’ in die ‘Physica’ ” vermerkt8; darüber hinaus begann man zunehmend ihrer von der Aufklärung weitgehend verschütteten Hintergründigkeit inne zu werden9. Daß man schließlich meinte, in der Geschichte der menschlichen Narrheit oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen— und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophischer Unholden, I—VII, Leipzig (Weygand) 1785-1789. 6 Vgl. Wilhelm Ganzenmüller, Wandlungen in der geschichtlichen Betrachtung der Alchemie (1950), in: ders., Beiträge zur Geschichte der Technologie und der Alchemie, Weinheim 1956, 349-360; Wolfgang Schneider, Probleme und neuere Ansichten in der Alchemiegeschichte, in: Chemiker-Zeitung 85 (1961), 643-651, u. Jost Weyer, Chemiegeschichtsschreibung von Wiegleb (1790) bis Partington (1970). Eine Untersuchung über ihre Methoden, Prinzipien und Ziele, Hildesheim 1974 (— Arbor scientiarum, Reihe A, 3). 7 Justus von Liebig, Chemische Briefe, I, Leipzig, Heidelberg "*1859, 65 f., Brief Nr. 3. 8 Reijer Hooykaas, Von der „Physica" zur Physik, in: Humanismus und Naturwissenschaften, hrsg. v. Rudolf Schmitz u. Fritz Krafft, Boppard 1980 (— Beiträge zur Humanismusfor­ schung, 6), 9-38, hier 25-27. ’ Siehe z. B. Paolo Rossi, Francesco Bacone. Dalia magia alia scienza, Bari 1957 (— Biblioteca di cultura moderna, 517), u. ders., Hermeticism, Rationality and the Scientific Revolution, in: Reason, Experiment, and Mysticism in the Scientific Revolution, hrsg. v. Maria Luisa Righini Bonelli u. William R. Shea, New York 1975, 247-273. 141 Alchemie eine jener „hermetischen” Hauptkräfte gefunden zu haben, die auf das Denken führend-wandlungstreibender Naturwissenschaftler ein­ schließlich Isaac Newtons10 stärksten Einfluß genommen und das Aufkommen der Wissenschaftlichen Revolution” in maßgeblichster Weise befördert hätten11, ist symptomatisch für einen im Fluß befindli­ chen Neu- und Umwertungsprozeß der Alchemie. An die einstigen Beziehungen zwischen Medizin und Alchemie erinnern heute wohl hauptsächlich das Werk Hohenheims und ein mehr­ gesichtiger Paracelsismus. Geraten der zutiefst alchemisch tingierte Paracelsus12 oder meist nicht minder der Alchemie verhaftete Paracel- sisten13 ins historiographische Blickfeld, so erweist sich eine Berücksichti­ gung des alchemischen Erbes als unumgänglich. Allein die Aufgabe, Eigenarten der neuplatonisch-alchemischen Mitgift im Werk Hohen­ 10 Bettyjo Teeter Dobbs, The Foundations of Newtons Alchemy or „The Hunting of the Greene Lyon ", Cambridge, London, New York, Melbourne 1975; dies., Newton’s Alchemy and His Theory of Matter, in: Isis 73 (1982), 511-529; Karin Figala, Newton as Alchemist, in: History ofScience 15 (1977), 102-137; dies., Newtons rationales System der Alchemie, in: Chemie in unserer Zeit 12 (1978), 101-110, u. dies., Isaac Newton als Alchemist. Seine rationale Theorie und Interpretation der Alchemie [in Vorbereitung]. 11 Frances Amelia Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964; dies., The Hermetic Tradition in Renaissance Science, in: Art, Science, and History in the Renaissance, hrsg. v. Charles S. Singleton, Baltimore 1967, 255-274; dies., The Rosicrucian Enlighten­ ment, London, Boston 1972. - Fundierte Einsprüche erhoben u.a. Robert S. Westman u. James Eugene McGuire, Hermeticism and the Scientific Revolution, Los Angeles 1974; Fritz Krafft, Renaissance der Naturwissenschaften - Näturwissenschaften der Renaissance. Ein Über­ blick über die Nachkriegsliteratur, in: Humanismusforschung seit 1945. Ein Bericht aus interdis­ ziplinärer Sicht, Boppard 1975 (— Kommission für Humanismusforschung der DFG, Mitteilung 2), 111-183, hier 135-138, u. Brian Vickers, Frances Yates and the Writing of History, in: The Journal of Modern History 51 (1979), 287-316. 12 Ernst Darmstaedter, Arznei und Alchemie. Paracelsus-Studien, Leipzig 1931 (-Studien zur Geschichte der Medizin, 20); Wilhelm Ganzenmüller, Paracelsus und die Alchemie des Mittelalters (1941), in: ders. [wie Anm. 6] (1956), 300-314; Johann Daniel Achelis, Die Überwindung der Alchemie in der paracelsischen Medizin, Heidelberg 1943 (— Sitzungs­ berichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Mathematisch-naturwissen­ schaftliche Klasse, Jg. 1941, 3. Abh.); T. P. Sherlock, The chemical work of Paracelsus, in: Ambix 3 (1948), 33-63, u. Wolfgang Schneider, Mein Umgang mit Paracelsus und Para- celsisten. Beiträge zur Paracelsus-Forschung, besonders auf arzneimittelgeschichtlichem Gebiet, Frankfurt a.M. 1982. 13 Rudolph Zaunick, Der sächsische Paracelsist G eorg Forberger. Mit bibliographischen Beiträgen zu Paracelsus, Alexander von Suchten, Denys Zacaire, Bernardus Trevirensis, Paolo Giovio, Francesco Guicciardini und Natale Conti, Wiesbaden 1977 (— Kosmosophie, 4), u. Peter Morys, Medizin und Pharmazie in der Kosmologie Leonhard Thurneissers zum Thurn (1531-1596) [nat. Diss. Marburg a.d.L. 1981], Husum 1982 (— Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, 43). 142 heims oder van Helmonts14 und in der sogenannten „chemical philo- sophy” weiterer namhafter Vertreter der frühneuzeitlichen Medizin15 noch kenntlicher zu machen, sollte zu forscherlichen Vorstößen in den Alchemica-Bereich ermutigen. Obwohl die paracelsische Verknüpfung von Medizin und Alchemie keinen Einzelfall darstellt, sondern das Werk zahlreicher, heute oft nur unzureichend bekannter oder vergessener Urheber von Fachschriften alchemischen Inhalts prägt, spielen Erschließung und Untersuchung der quantitativ bedrückend umfänglichen Hinterlassenschaft spätmittelalter­ licher und frühneuzeitlicher Alchemisten im Rahmen der medizinge­ schichtlichen Forschung der Bundesrepublik Deutschland derzeit kaum eine Rolle. Wenn man jüngst von medizinhistorischer Seite unter Berufung auf Stefan George vernehmen konnte, die Alchemie sei kein „altgewordener Aberglaube, sondern frühreife (vorlaute) Erkenntnis”, sie gehöre „nicht zum absterbenden Mittelalter, sondern zur erwachenden Neuzeit” und habe nur übertrieben ausgeformt, „was auch die moderne Wissenschaft glaubt und sucht”; wenn man ferner mit Novalis in der Alchemie aktuelle „Schemata der Zukunft” entdeckte, und mehr noch: wenn man die Alchimia medica als das „Modell einer universellen Heil­ technik und Heilkunde” beurteilte, bei dessen Ausbildung man sich der alchemischen Vorstellung von der Wandlung und Heilung der Metalle lediglich als einer Analogie bedient habe16, so handelt es sich hierbei um einzelgängerische Neu- und Umwertungen der alchemischen Tradition. Vielleicht darf man an sie die Hoffnung knüpfen, daß man sich auch im Kreis deutscher Medizinhistoriker vom Banne der ohnehin weitgehend 14 Walter Pagel, Das medizinische Weltbild des Paracelsus. Seine Zusammenhänge mit Neuplato­ nismus und Gnosis, Wiesbaden 1962 (— Kosmosophie, 1); ders., Paracelsus. An Introduction to Philosophical Medicine in the Era of the Renaissance, Basel 21982; ders., Paracelsus als „Naturmystiker”, in: Epochen der Naturmystik. Hermetische Tradition im wissenschaftlichen Fortschritt, hrsg. v. Antoine Faivre u. Rolf Christian Zimmermann, Berlin 1979, 52-104, u. dm., Johannes Baptista van Helmont als Naturmystiker, in: a.a.O., 169-211. 15 Allen G. Debus, The Chemical Philosophy. Paracelsian Science and Medicine in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, I—II, New York 1977, u. Walter Pagel, The Smiling Spleen. Para- celsiamsm in Storm and Stress, Basel 1984. 16 Heinrich Schipperges, Alchimia. Auf der Suche nach vergessenen Wissenschaften, in: Eleusis 34 (1979), 104-119; ders., Dar alchymische Denken und Handeln bei Alexander von Bemus, in: Heidelberger Jahrbücher 24 (1980), 107-124; ders., Handschriftliche Funde zu den „ver­ drängten Wissenschaften" in der frühen Neuzeit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 4 (1981), 31-40, u. ders., Historische Konzepte einer Theoretischen Pathologie. Handschriften­ studien zur Medizin des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo 1983 (— Veröffentlichungen aus der Forschungsstelle für Theoretische Pathologie der Heidelberger Akademie der Wissenschaften). 143 kraftlos gewordenen Goldmacher-Schelte des Barock und der unter Gebildeten noch gelegentlich verhalten wirksamen Verdikte der Aufklä­ rung vollends löst, auch die Auffassung mancher Chemiehistoriker, die in der frühneuzeitlichen Alchemie nichts als abstoßende Bilder des Nieder­ ganges und Zerfalls oder einen „Zeitvertreib verschrobener Phantasten”17 zu erblicken vermögen, hintanstellt, in der Alchemie ein einst hauptsäch­ lich von Ärzten bestelltes Feld der Medizingeschichte wiederentdeckt und sich an der Sichtung, Bestandserfassung und Auswertung des „alche­ mistischen Plunders” tatkräftiger beteiligt, als dies bislang der Fall ist18. Ein einst eng gespanntes Beziehungsnetz zwischen Alchemie und Medizin ergab sich geradezu notwendig aus einer gemeinsamen Zielset­ zung alchemischen und ärztlichen Denkens und Handelns. Dieses gemeinsame Ziel lautete durch die Jahrhunderte, zur Heilung führende Wege zu finden, „nam ars [alchimiae] imitatur naturam et in quodam corrigit et superat eam, sicut mutatur natura infirma medicorum indu­ stria”19. Nicht wenige spätmittelalterliche Lehrschriften über die „kran- 17 Julius Ruska, Pseudepigraphe Rasis-Schriften, in: Osiris 7 (1939), 31-94, hier 92. Siehe z.B. auch Robert P. Multhauf, The Origins of Chemistry, London 1966, 315: „By 1500 Latin alchemy was increasingly turning to occultism or charlatanry.” 18 Die Ausmaße noch zu leistender Arbeit im Riesenbergwerk der Alchemieliteratur nehmen sich erschreckend aus, vergegenwärtigt man sich, daß vieles und vielleicht das meiste noch einer Sichtung harrt, Wertvolles vom Minderen oft noch ungeschieden ist, philologisch-editorische Vorstöße etwa einesjunus Ruska vereinzelt blieben und noch nicht einmal die alchemie- und pharmaziegeschichtlich außerordentlich bedeutsame Schrift‘De quinta essentia’Johanns von Rupescissa, das eigentümliche‘Buch der Heili­ gen Dreifaltigkeit’ Bruder Ullmanns und andere Hauptwerke der spätmittelalterlichen Alchemie in hinlänglichen Ausgaben zur Verfügung stehen, zu schweigen von einer ungewöhnlichen Fülle noch unbeantworteter biobibliographischer Fragen und anderen ungelösten Problemen, von denen die mit dem Paracelsus-, Hollandus- oder BASiLius-VALENTiNUS-Corpus und einer stattlichen Reihe weiterer frühneuzeitlicher Alchemica verknüpften Verfasser-, Echtheits- und Quellenfragen nichts als einen verschwindenden Bruchteil darstellen. Weiterhin und nicht nur für die lateinische Alchemieliteratur des Mittelalters kann gelten, was 1939 ein Meister der Alchemie­ geschichtsschreibung, J. Ruska, beiläufig festhielt ([wie Anm. 17], 92 f): „Unermeß­ licher Stoff liegt unbenützt in den Bibliotheken und harrt der kritischen Bearbeitung. (Viele Texte müssen erst noch bearbeitet werden), ehe man daran denken kann, sie zum Aufbau einer auch nur halbwegs gesicherten Geschichte der Alchemie zu verwenden.” 19 John Dastin,E/>nro/a(14.Jh.), zit. nach C.H. Josten, The Text ofJohn Dastin's ‘Letter to Pope John XXIP, in: Ambix 4 (1949), 34-51, hier 39. Dieselbe Wendung auch im ‘Rosarium philosophorum’, in: Ars aurifera, Basel 1572, II, 228. - Vgl. z.B. auch (Ps.-)Albertus Magnus (14.Jh.): „Sed periti artifices ita facere possuntaurum et argentum sicut medicus sanitatem” (hier wohl vorgetragen aus Kenntnis einer Analogie zwischen dem Physicus, der durch Purgation menschliche Gesundheit herbeiführt, und dem Alchemisten, der „gesundes” Gold und Silber durch Reinigung der Metallkonstituenten Sulphur und 144 ken” Metalle und ihre Heilung verraten, daß sie mit Hilfe humoralpatho­ logischer Anschauungen ausgebildet worden sind20 und man die Wand­ lung minderer Metalle in „gesundes” Gold als ein Dyskrasie in Eukrasie wendendes Geschehen verstand, bei dem es galt, durch Herbeiführung eines bestimmten Mischungsverhältnisses ein ausgewogenes und im Golde am optimalsten verwirklichtes „temperamentum” zu erzielen. Die Metalle von aller „Unreinheit” und „Krankheit” befreien und in „reines”, aller „Gebrechen” bares Gold wandeln sollte bekanntlich eine fermentartig-katalysatorisch wirkende Tinktur (Elixier, Stein der Weisen). Auf ihren mannigfachen Erkundungszügen in der Stoffeswelt, diese Tinktur zu gewinnen, beflügelte die Alchemisten immer auch die aus Analogieschluß geborene und von der Elementenlehre begünstigte Hoffnung, man könne mit derMedicina metallorum einer panazeenarti- gen Arznei habhaft werden, die verjüngend-präservierende Tugenden besitze, menschliche Krankheiten heile und der man im ‘Hortus divitia- rum’ (15. Jh.) nachrühmte, daß sie alle Medizin eines Hippokrates, Galen, Constantinus, Plinius, Rasis und Avicenna überträfe21. Da heißt es vielerorts im alchemischen Fachschrifttum über die Tinctura alba, die königliche „Tochter der Philosophen”22: „Dy kunigin, dy hasset den tot vnd dy armut, Sy gibt gesundthait, reichtumb vnd gueten muet; Sy vbertryfft silber, golt vnd edel gestein, Alle ertzenney, gros vnd dein.” Mercurius zu erlangen sucht, wie sie Albertus Magnus in „De mineralibus” formulierte); zit. nach Pearl Kibre, An Alchemical Tract Attributed to Albertus Magnus, in: Isis 35 (1944), 303-316, hier 309. 20 Ein Beispiel bieten die Ausführungen von Petrus Bonus (14. Jh.) über die Lepra der Metalle; vgl. Pietro Bono da Ferrara, Preziosa Margarita Novella, hrsg. v. Chiara Crisciani, Florenz 1976 (— Pubblicazioni del „Centro di studi del pensiero filosofico del Cinque­ cento e del Seicento in relazione ai problemi della scienza” del Consiglio Nazionale delle Ricerche, III, 1), 173f. 21 De effectu et virtute lapidisphilosophici henedicti, in: Hortus divitiarum, teilweise abgedruckt bei William Jerome Wilson, Catalogue of Latin and Vernacular Alchemical Manuscripts in the United States and Canada, Brügge 1939 (— Osiris, 6), 361f.; eine deutschsprachige ‘Hortus’-Fassung gelangte im mehrfach erschienenen Traktat IV des Aureum vellus,Basel 0. Exertier) 1604, in Druck. - Derselbe Abschnitt über die Tugenden der „Tinctur” bzw. „Medicin” auch in: Splendor solis (Faksimile von Cod. germ. fol. 42, Berlin, Staatsbiblio­ thek), eingel. v. Gisela Höhle, Wiesbaden 1972, Bl. 66r-67'. 22 [Anonymus], ‘Sol und Luna’ (um 1400), in: Joachim Telle, Sol und Luna. Literat- und alchemiegeschichtliche Studien zu einem altdeutschen Bildgedicht, Hürtgenwald 1980 (— Schriften zur Wissenschaftsgeschichte, 2), 42. 145 Und von der roten Tinctura, dem kaiserlichen „Sohn der Philosophen” kann man in den Virtutes-Katalogen immer und immer wieder lesen23: „Er gibet gesuntheit mit starcker frist, Golt, silber vnd edel gestein, Starckheit, jugent, schon vnd rein; Zeren, trawer, armut, kranckheit er vorzert, Selig ist der mensch, dem es got weschert.” Im lateinischen Westen fand die Vorstellung, die Medicina metallorum könne menschliche „infirmitas” in Gesundheit wandeln und die Lebens­ zeit beträchtlich verlängern, schon frühzeitig literarischen Niederschlag. Man stößt auf sie im Werk Roger Bacons (13. Jh.), John Dastins (14. Jh.) oder im pseudoarnaldischen ‘Rosarius’ (14. Jh.), wo es über die Medicina metallorum heißt24: „[Das Elixier hat] auch die Tugend / Krafft und Wirckung an sich/daß es/ über alle andere der Aertzte Medicinen und Artzneynen / alle Kranckheiten und Gebrechen/ sie werden gleich hitzig oder kalt befunden / heilen kan / darum daß es einer gantz subtilen verborgenen Natur ist: Es erhält bey guter Gesundheit / stärcket alleKräfften / und machet aus einem Alten einen Jungen/ indem es alle Gebrechen abwendet und außtreibet. ... Diese Medicin ist billich vor und über alle andere Artzneyen/ja über alle Reichthum dieser Welt / mit unnachläßlichem Ernst und Fleiße zu suchen / denn wer sie findet / der hat einen Schatz/welchem nichts zu vergleichen ist.” Diese Vorstellung stieg zu einem die alchemische Speculatio stark beein­ flussenden Gedanken auf, und bis weit in die Neuzeit galt, dem Universal­ besitzer sei „gwalt gegeben,/Das er alle kranckheyt thüt vertryben/Vß metallen vnd mönschen lyben”25. Wenn wir beispielsweise in einem pseu- doparacelsischen Brief einen „alten Weisen” geschildert finden, der probiert, ob seine metallwandelnde Arkansubstanz „Roter Löwe” auch „Menschen leiden möchte”, und der schließlich einen Podagrakranken mit einem „Haar” des „Roten Löwen” heilt26, so gibt sich hier einmal mehr die transmutatorische Alchemie im Dienste einer humanmedizi­ nisch orientierten Pharmazie zu erkennen. 23 a.a.O., 43. 24 (Ps.-)Arnaldus von Villanova, Rosarius philosophorum, in: ders., Chymische Schafften, übers, v. Johann Hippodamus, Frankfurt a.M., Hamburg (G. Wolf) 1683, 98f. 25 [Anonymus], Vers-Bild-Allegorie vom Mercurius philosophorum (15.)h.), in: Telle [wie A nm. 22], 130. 26 (Ps.-)Paracelsus, Von dem Wunderstein (16. Jh.), in: Ms. Q_456, Weimar, Zentralbibliothek der deutschen Klassik, Bl. 361-368. 146 Das alchemische Streben nach einer Universalarznei verband sich häufig mit einer zähen Suche nach wirksameren Arzneimitteln, als sie der von Paracelsus einen „Suppenwust” gescholtene Arzneischatz der Galenisten und „Sudelköche” in den Apotheken bot. Niederschlag fand dieser seit dem Spätmittelalter beobachtbare Pharmazeutisierungsprozeß innerhalb der Alchemieentwicklung27 nicht zuletzt in der systematisch­ enzyklopädischen Darstellung aller Wissenschaften und Künste eines Johann Heinrich Alsted, in der man die „alchymia” (auch „chemica scientia”) als „pars medicinae” des „physica”-Bereiches betrachtet und diese „medicina ex mente chymicorum” als eine nützlich-honeste „chymia medica” (auch „chymiatria” „medicina chymica”) behandelt wie auch von einer auf die „medicina universalis” gerichteten und deshalb den „höheren scientiae” Theologia, Magia naturalis, Kabbala zur Seite gestell­ ten „chymia sublimior” abgegrenzt findet. Gemeinhin galt: „Alchymia [chemia] est ars bene praeparandi medicinam purissimam, ad perficien- dum corpora hominis et metallorum imperfectorum.”28 Häufig wird das Aufkommen der pharmazeutisch akzentuierten Alchemie noch immer auf das Wirken Hohenheims zurückgeführt, der bekanntlich die Grundhaltung auf Metalltransmutation ausgehender Alchemisten aufgegeben und dem Alchemisten zugerufen hatte: „Nicht als die sagen/ Alchimia mache Gold/mache Silber: Hie ist das fürnem- men/Mach Arcana/vnd richte dieselbigen gegen den kranckheiten: Da muß er hinauß / also ist der grundt”29, und im alchemieunkundigen Arzt keinen rechten Physicus gelten ließ. Ohne Zweifel wurde der Alchimia als einer Hauptsäule seiner ‘Medicina reformata’ von Paracelsus ein sehr hoher Rang eingeräumt und verdankt die frühneuzeitliche Chymia medica Hohenheim und seinen Anhängern bedeutende Impulse, doch wurde die Alchemie keineswegs erst durch einen „Neuerer” Paracelsus in die Arme der Humanmedizin geführt. Vielmehr sehen wir Paracelsus mit seiner Forderung, „Artzney vnnd Alchimey soll allwegen bey einander stehen”30, im Lichte unserer spärlichen Kenntnisse über die Beschaffen­ heit des vorparacelsischen Schrifttums alchemico-pharmazeutischen 27 Vgl. Multhauf [wie Anm. 17], 201-236: „Medical chemistry”; Wolfgang Schneider, Geschichte der pharmazeutischen Chemie, Weinheim 1972. 28 Johann Heinrich Alsted, Encyclopaedia, Herborn 1630, 1803-1815, 2274-2277. 29 Paracelsus, Paragranum, in: ders., Bücher vnd Schrifften, hrsg. v. Johann Huser, II, Basel (C. Waldkirch) 1589, 65. 30 Paracelsus, Große Wundarznei, in: ders., Chirurgische Bücher vndSchrifften, hrsg. v. Johann Huser, Straßburg (L. Zetzner) 1605, 33. 147 Inhalts - einer heute weitgehend vom Aschenregen der Zeit bedeckten Literaturlandschaft - in den Bahnen einer seit längerem geübten Praxis, über die bereits Bernhard von Gordon in seinem therapeutischen Hauptwerk ‘Lilium medicinae’ (1303) geurteilt hatte: „Modus chimicus in multis est utilis in medicina, in aliis vero est ita tristabilis, quod in eius via infmitissimi perierunt.”31 Für wirksamer als galenistischen „Suppenwust” hielten spätmittelalter­ liche Alchemisten „reine” Heilmittel wie beispielsweise die „Quinta essentia” von der ein von Paracelsus zwar „Nichtsnutz” gescholtener, gleichwohl von ihm fortgeführter Autor, Johann von Rupescissa (14. Jh.), lehrte, sie sei aus allen Stoffen des Naturreiches destillierbar und besäße die subtile, lebenserzeugende und lebenserhaltende Kraft des unvergäng­ lichen, das Universum vor seiner Zerstörung bewahrenden „Himmels” bzw. fünften Elements des Aristoteles. Allein die bis in die Neuzeit andauernde Geltung der Lehre Johanns von Rupescissa32 zeigt, daß sich neben dem Gedanken von der Universalarznei die Vorstellung von der Scheidung des „Reinen” vom „Unreinen” zu einem Zentralgedanken der Alchemia medica entwickelte. Dieser wider das galenistische Mischen der Simplizien gerichtete Gedanke, man dürfe Drogen für keine fertigen Heilmittel nehmen, sondern müsse durch Destillation und andere alchemische Verfahren das stofflich „Reine” und medizinisch „Hochwirk­ same” vom „Unreinen” und Wertlosen” trennen, damit die heilenden Kräfte und Tugenden der Natur (arcana) auf das wirksamste in Erschei­ nung treten könnten, hat die Heilmittellehre der Alchemisten entschei­ dend geprägt und sollte die frühneuzeitliche Arzneikunde von Grund auf wandeln. Bevor Hohenheim gefordert hatte, die „Schlacken von der Arznei zu tun” und diese Forderung von allen am Aufschwung der humanmedizinischen Chemiatrie beteiligten Kreisen aufgegriffen worden ist, hatte die „separatio puri ab impuro” im deutschen Kultur­ 31 Zit. nach Heinrich Schipperges, Strukturen und Prozesse alchimistischer Überlieferungen, in: Emil Ernst Ploß, Heinz Roosen-Runge, Heinrich Schipperges u. Herwig Buntz, Alchimia. Ideologie und Technologie, München 1970, 67-118, hier 100. 32 Vgl. Robert Halleux, Les ouvrages alchimiques de jean de Rupescissa, in : L’histoire littéraire de la France, XLI, Paris 1981, 241-284; Hubert Herkommer, Johannes de Rupescissa, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl. hrsg. von Kurt Ruh zus. mit Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger u. Franz Josef Worstbrock, IV, Berlin, New York 1982, Sp. 724-729. Siehe ferner F. Sherwood Taylor, The Idea of the Quintessence, in: Science, Medicine and History. Essays on the Evolution of Scientific Thought and Medical Practice written in honour of Charles Singer, hrsg. v. E. Ashworth Underwood, I, London, New York, Toronto 1953, 247-265; Robert P. Multhauf,/o/>« of Rupescissa and the Origin of Medical Chemistry, in: Isis 45 (1954), 359-364. 148

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