Beitrage zur Psychopathologie Band 4 Zur Handlungsanalyse einerTat Herausgegeben von 1. Gerchow Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Tokyo 1983 Prof. Dr. Joachim Gerchow Zentium der Rechtsmedizin Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universitat Kennedyallee 104 6000 Frankfurt/Main 70 ISBN-13 :978-3-540-12641-6 e-ISBN-13 :978-3-642-69270-3 DOl: 10.1007/978-3-642-69270-3 CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Zur Handlungsanalyse einer Tatlhrsg. von J. Gerchow. - Berlin; Heidelberg; New York; Tokyo: Springer, 1983. (Beitragezur Psychopathologie; Bd. 4) ISBN-13 :978-3-540-12641-6 NE: Gerchow, Joachim [Hrsg.j Das Werk ist urheberrechtlich geschiitzt Die dadurch begriindeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder §hnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsaniagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergiitungsanspriiche des § 54, Abs.2 UrhG werden durch die "Verwertungsgesellschaft Wort", Miinchen, wahrgenommen. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1983 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, HandeJsnamen, Warenbezeichnungen usw.' in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daB solche Namen im Sinne der Warenzeichen-und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher vonjedermann benutzt werden diirften. Produkthafiung: Fiir Angaben iiber Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann yom Verlag keine Gewahr iibemommen werden. Derartige Angaben miissen yom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit iiberpriift werden. 2119/3140-543210 Vorwort Die 25. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Forensische Psychopathologie der Deutschen Gesellschaft fur Rechtsmedizin hat versucht, tiber das Thema "Zum Aussagewert der Handlungsanalyse einer Tat" Grundlagen aus der Sicht verschiedener Fachrichtungen zu erarbeiten. In Ubersichtsreferaten wurden die juristischen (Jakobs), psychologischen (Wegener), psychiatrischen (Rasch) und psychoanalytischen (Schumacher) Perspektiven dargestellt. Die Resonanz macht die Aktualitat und praktische Bedeutung eines Sach verhalts deutlich, der fur Juristen, Psychologen, Mediziner und Analytiker gleicher maEen in der Begutachtungspraxis und der Urteilsfindung von Wichtigkeit sein kann. So entstand der Plan, die V ortrage dieser Veranstaltung in Buchform erscheinen zu lassen, urn fur einen grbBeren Interessentenkreis eine Basis zu haben, Sicht-und Denk weisen in der Medizin und Jurisprudenz zu tiberdenken und ProblembewuBtsein zu wecken. Besonderer Dankgehbrt deshalb dem Springer-Verlag, der die Verbffentlichung gefbrdert und ermoglicht hat. Wenn der "Handlungsbegriff" interdisziplinar diskutiert wird, laBt sich das "Willens problem" nicht ausklarnmern. Verlag und Herausgeber haben deshalb zusatzlich eine Arbeit von Prof. Dr. Dr. Schewe zum Thema "Wille und Freiheit - juristische und medizinisch-psychologische Aspekte" aufgenommen und den Referaten gleichsam zur "Einstimmung" vorangestellt. 1m Hinblick auf die Thematik muB allerdings darnit gerechnet werden, daE Mei nungsunterschiede zwischen Sachverstandigen verschiedener Standorte nicht abgebaut werden kbnnen, sich moglicherweise sogar vertiefen. Es wird sich auch nicht vermeiden lassen, daE richterlicherseits erneut und verscharft die Kompetenz der Sachverstandigen im Bereiche der hier diskutierten Themen in Frage gestellt wird. Die Erfahrung zeigt, daE es problematisch sein kann, empirische Sachverhalte und Forschungsergebnisse der an normativen Gewichtungen orientierten juristischen Denkweise anzubieten. Auch ist ein solches Vorgehen imIner schon von manchen Sachverstandigen bis zur Verweigerung abgelehnt worden. Erinnert sei an die These, daE einer empirisch wissen schaftlichen Beweisfiihrung nur die Feststellung von Krankheiten zuganglich sei. Dieser Aspekt hat im Rahmen der Frage, ob es feststellbar sei, daB der Mensch mit oder ohne Schuld handle, die forensische Psychiatrie seinerzeit in zwei Lager gespalten, in die "Gnostiker" und die "Agnostiker". Eine solche Entscheidung sei dem mensch lichen Erkenntnisvermogen entzogen, so meinten die "Agnostiker", wmrend die "Gnostiker" glaubten - und nach wie vor der Meinung sind -, aus empirischer Sicht zu einer Entscheidung beitragen zu konnen. Sinn und Ziel dieser Publikation wtirden miBverstanden, wenn man zu der Auffas sung kame, es sollten Kompetenzprobleme provoziert werden. Die Sachverstandigen- v rolle kann nur als Gehilfenrolle des Richters verstanden werden. Dennoch soIl deutlich werden, d~ die Mitteilung von Befunden sehr haufig nicht gentigt, urn den Richter in die Lage zu versetzen, Tatfragen zu entscheiden. 1m tibrigen kann der Richter - und tut dies auch - jederzeit seinen Auft rag an den Sachverstandigen erweitern und ihn zur Antwort auf besondere psychologische oder psychiatrische Probleme beim "sub jektiven Tatbestand" auffordern. Zweifellos kann es sinnvoll sein, Denkansatze an das Nachbargebiet gelangen zu lassen (Mtiller-Luckmann). Erfahrungen in foro und Ge sprache mit Richtern bestatigen, d~ die Feststellung des "subjektiven Tatbestandes" psychiatrisch-psychologische Probleme beinhalten kann, die tiber die richterlichen Aufklarungsmoglichkeiten hinausgehen. Keineswegs ist eine Psychologisierung des Strafverfahrens wtinschenswert. Noch weniger wlinschenswert ist es aber, diese Prob Ierne auf Kosten der Wahrheitsfindung auszuklammern. Diese Erfahrung ist mit ein Grund dafiir gewesen, das Thema zu wahlen und den Aussagewert der Handlungsanalyse einer Tat zu untersuchen. "Handlung" wird im Strafrecht defmiert als "willktirliche Korperbewegung". Die strafrechtliche Relevanz wird am deutlichsten, wenn das "Wollen" in einer bewu~ten, aktiven Auseinandersetzung, in der "Handlung", zum Ausdruck kommt. Schwieriger wird es bei den Mfekt-, Trieb- und Kurzschl~handlungen, prinzipiell auch bei Hand lungen unter Alkoholeinfl~ (vor allem wenn der Tater sich nicht erinnert oder "die Tat nicht wollte"). In der Regel wird auf die "au~ere" Zielrichtung abgestellt. Daraus werden Rtickschltisse auf Wille, Entschl~ und Zielvorstellung gezogen. Aus der Ziel gerichtetheit des "au~eren" Tatablaufs werden also Rtickschltisse auf die "inneren" Vorglinge abgeleitet. Formelhaft hat dies Schewe so ausgedrtickt: Das Strafrecht meint die "Willensrichtung", die anderen Disziplinen meinen "den Vorgang des Wollens". Es besteht kein Zweifel, d~ der den "au~eren" Vorgang kennzeichnenden Hand lung sehr komplizierte "innere" Ablaufe zugrunde liegen konnen. Es ist vorstellbar, d~ deren vertiefte Kenntnis auch bei Fragen nach der Tatbestandsma~igkeit eine sicherere und zutreffendere Entscheidung ermoglicht. Das, was sich als "Tat" darstellt, ist oft der Endpunkt einer Entwicklung, aus der ablesbar wird, wie sich der spatere Tater mit sich selbst und seiner inneren Verfassung auseinandersetzte (Rasch). In diesem Zusammenhang gibt es eine ganze Reihe von Ansatzen fur LOsungsversuche. Ob man von "vorverlagerter Schuld" im Sinne von Hallermann oder von "Vorgestalten" (Stumpfl) der spateren Tat oder von "forensisch bedeutsamen Vorentscheidungen" (de Boor) spricht, ist von untergeordneter Bedeu tung. Ergebnis einer Analyse der inneren Vorgange kann jedenfalls die Feststellung sein, ~ einer Losung entgegengelebt wurde und d~ "Tathandlung" gleichsam Be endigung der eigenen Zustandlichkeit ist (Rasch). Einer emotionalen Befmdlichkeit wird "durch Handlungen abgeholfen bzw. abzuhelfen versucht" (Burchard). Die Erfahrung zeigt, d~ diese besondere Befmdlichkeit des Taters eine - zunachst ange nommene - fmal gesteuerte Handlung in Frage stellen kann und d~ unter Umstanden auch vom angenommenen "Vorsatz" Abstriche zu machen sind. Damit soIl nicht gesagt sein, d~ der Sachverstlindige sich zu Rechtsbegriffen a~ern sollte, mit denen er erfahrungswissenschaftliche Vorstellungen verbindet. In seiner Gehilfenrolle kann der Sachverstandige aber durchaus "kompetent" sein, die Bedeu tung der "Handlungsanalyse" zu interpretieren. Schewe hat diese Problernatik in anderem Zusammenhang einmal formuliert: zur Kennzeichnung der "objektiven" VI Merkmale einer Straftat ist ein Rtickgriff auf "innere" AbHiufe erforderlich und die "Tatbestandsmiiliigkeit" einer Handlung erhiilt unter UmsUinden erst bei Kenntnis der psychischen Vorgange die rechtliche Relevanz und Qualitat. Dies sind die Inhalte der Fragen, die sich stellen; dies sind aber auch die Grenzen, bis zu den en der Sachverstandige in seiner Gehilfenrolle allenfalls vorstofl,en kann. Diese VerOffentlichung wtirde ihren Zweck erfullen, wenn die Standpunkte verschie dener Denkrichtungen sich annahern wtirden und wenn dazu beigetragen werden k6nnte, daB juristische Begriffe und Formeln immer wieder an dem Erfahrungsgut der empirischen Wissenschaften tiberprtift werden. Das Bedtirfnis, interdisziplinare Gesprache zu fuhren und die Ergebnisse urnzusetzen, ist untibersehbar. Frankfurt, den 10. Februar 1983 J. Gerchow VII lnhaltsverzeichnis Wille und Freiheit - juristische und medizinisch-psychologische Aspekte 1 G.Schewe A.bgrenzung strafrechtlich relevanter Handlungen von rechtlich irrelevanten Korperbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Willensbegriff bei der juristischen Definition des Vorsatzes . . . . . . . . . . . . 8 Schuldflihigkeit und Zumutbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Die juristische Perspektive zum Aussagewert der Handlungsanalyse einer Tat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 G. Jakobs Der strafrechtliche Begriff einer Tat und cines Tiiters . . . . . . ... . . . . . . . . 21 Handlungsanalyse und Tat .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Anmerkungen ......................................... 32 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Zum Aussagewert der Handlungsanalyse einer Tat - die psychologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 H. Wegener Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Der Paradigmawechsel psychologischer Handlungstheorien . . . . . . . . . . . . 36 Empirisch begrlindete Modelle als Grundlagen fUr Handlungsanalysen . . . . . . 37 Empirische Analysen von Handlungen und deren systematische Fehlerquellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Zusammenfassung und Ausblick ............................. 44 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Der Stellenwert des Tatverhaltens bei der psycho[ogisch-psychiatrischen Begutachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 W. Rasch IX Kommunikation und Kompetenzabgrenzung in foro . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Die Tatanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Dimensionen der Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Uteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Die Tathandlung und ihre Bewertung in psychoanalytischer Sicht 61 W. Schumacher Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Summary. ... . . .. . . . . . . . . .. . . . . .. . . . .. .. .. . . . . . . . . . .. 69 Uteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Anmerkungen ......................................... 70 x Mitarbeiterverzeichnis Professor Dr. jur. C. Jakobs Lehrstuhl f. Strafrecht und Strafprozefl.recht, Juristische Fakultat der Universitat, Universitatsst~e 31 8400 Regensburg Professor Dr. med. W. Rasch Institut fur Forensische Psychiatrie der Freien Universitat Berlin, Limonenstr~e 27, 1000 Berlin 45 Professor Dr. med. Dr. jur. C. Schewe Institut fur Rechtsmedizin der Justus Liebig-Universitat, Frankfurter Str~e 58, 6300 Giessen Professor Dr. med. Dr. rer nat. W. Schumacher Geschaftsfuhrender Direktor, Zentrum fur Psychiatrie der Universitat Giessen, Mozartstr~e 8 6300 Giessen Professor Dr. phil. Dr. med. H. Wegener Direktor des Instituts fur Psychologie der Christian Alberts-Universitat, Neue Universitat, Gebaude N 30 2300 Kiel Xl Wille und Freiheit - juristische und medizinisch-psychologische Aspekte G. Schewe Was ist der Wille? Zunachst ist er ein "urspriinglich-letztes seelisches Phanomen", das nur urnschrieben, aber nicht eigentlich definiert werden kann. Ein Kennzeichen des wiilensbestimmten Handelns ist die "FinalWit" oder Zweckhaftigkeit: Der Mensch kann aufgrund seines Wissens urn ursachliche Zusammenhange die Folgen seines Handelns in bestimmtem Umfange voraussehen, sich Ziele setzen und seine Hand lungen planvoil auf diese Ziele hin lenken. Welzel (1967) sagt: Er kann das al&ere Kausalgeschehen "final iiberdeterminieren". Finale Tatigkeit ist also ein bewuBt vom Ziel her gelenktes Wirken, wiihrend das reine Kausalgeschehen nicht vom Ziel her ge steuert wird, sondern zuHillige Resultante der jeweils vorliegenden Ursachen ist. Willensbestimmtes Handeln zeichnet sich also durch seine "Finalitat" gegeniiber den "blinden, sinnindifferenten Kausalprozessen" der unbelebten Natur aus. Wir k6nnen - in Grenzen - mit dem Willen Umweltvorgange steuern und "beherrschen". Der Wille kann sich dabei an iibergeordneten Sinn-und Wertvorsteilungen orientieren. Wir me in en aber, durch unseren Willen nicht nur das auBere Kausalgeschehen steuern zu k6nnen, sondern auch unsere eigenen Antriebe. Wir meinen, in gewissen Grenzen sind wir in unserem Tun und Lassen frei. Wir verbinden mit dem Willens begriff also eine gewisse V orsteilung von "Freiheit" und k6nnen sagen: Beim Willen gibt es einen "Finalitatsaspekt" und einen "Freiheitsaspekt". Vor allem die Freiheitsfrage ist seit jeher umstritten gewesen. Unter ganz unter schiedlichen Gesichtspunkten und mit ganz unterschiedlichen Argumenten wurde immer wieder bezweifelt, daB es iiberhaupt einen "freien Willen" gebe. Schon irn Mittelalter war dariiber diskutiert worden, ob und wie denn ein freier Wille mit der Ailmacht Gottes zu vereinbaren ware. Die extremen Gegenpositionen sind der "In determinismus", der vom "freien Willen" ausgeht, und der "Deterrninismus", der den Willen wie aile iibrigen Vorgange dieser Welt fUr "determiniert" halt. Seit Beginn der Neu zeit wurde dem Indeterminismus der "Deterrninismus" als "Kausalmonismus" gegen iibergesteilt, nach dem aile Vorgange und damit auch der Wille durch das Gesetz von Ursache und Wirkung bestimmt sein sollen. Dem kausalmonistischen Denken verpflichtet sind vor ailem die Naturwissenschaften. So sagt der Neurologe John Eccles: Die Neurologie strebt eine Theorie an, nach der es im Prinzip m6glich sein soil, eine er sch6pfende kausale Erklarung des gesamten Verhaltens von Tier und Mensch zu geben. Eccles (1977/78) selbst macht aber schon Einschrankungen: Eine solche Theorie sei zwar fur aile automatischen und unbewuBten Ablaufe angemessen. Sie geniige aber nicht mehr, urn hahere Formen der BewuBtseinsleistung irn menschlichen Gehirn zu verstehen. Denn dann kannte das BewuBtsein die Hirnfunktionen gleichsam nur ab lesen. Das BewuBtsein - wir k6nnen hinzufugen: und der Wille - waren gleichsam nur 1