DEUTSCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU BERLIN SCHRIFTEN DER SEKTION FÜR ALTERTUMSWISSENSCHAFT 44 ZUR FRAGE DER MATERIALISTISCHEN BEGRÜNDUNG DER ETHIK BEI DEMOKRIT VON SALOMO LURIA AICADEMIE-VERLAG • BERLIN 1964 Gutachter dieses Bandes: Werner Peek und Friedrich Zucker Redaktor der Reihe: Johannes Irmscher Redaktor dieses Bandes: Siegfried Fischer Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, Berlin W 8, Leipziger Str. 3/4 Copyright 1964 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/98/64 Geaamtherstcllung: VEB Druckhaus „Maxim Gorki", Altenburg Bestellnummer: 2067/44 • ES 7 M . Preis: DM 8,- Es ist jetzt fast allgemein anerkannt, daß die Ethik Epikurs mit seinem ganzen philosophischen System ein wohlgerundetes Ganzes bildet. Auch die Tat- sache, daß die sophistische Ethik (oder richtiger die sophistische Leugnung der Durchschnittsethik) mit den übrigen Lehren der Sophisten in bestem Zusammen- klang steht, wird keiner beanstanden. Anders steht es mit Demokrit: ein mate- rialistischer Determinist, der vor keinen gewagten Schlüssen auf dem Gebiete der Physik zurückschreckt, predigt eine Sittlichkeit, die mit der althergebrachten Lebensweisheit der inxa ao<poi und der idealistischen der Pythagoreer fast völlig übereinstimmt. Wie ist dies untereinander in Einklang zu bringen? Die einfachste, sehr radikale Lösung dieser Aporie ist — alle ethischen Bruch- stücke Demokrits für untergeschoben zu erklären. So verfuhr in der Tat z. B. E. Rohde1. Er sagt: „Außer Acht lassen muß man .. . den ganzen Wust moralischer Sentenzen, der unter D's Namen umläuft ... in der Tat ist es keine „Hyperkritik", ... dem D. selbst so gut wie nichts zuzuschreiben..." Diese Sammlung enthalte nur „eine an die fade <piXooo<pia des Isokrates erinnernde Biedermannsmoral mit spezifisch Epicureischem Quietismus seltsam ver- mischt" .. . Wir werden unten sehen, daß diese Charakteristik unbillig ist, doch auch wenn sie richtig gewesen wäre, hätte sie gar nicht gegen die Autorschaft des Demokrit gesprochen. Viele Tatsachen späterer Zeit beweisen, daß bei einem Natur- forscher eine Biedermannsmoral mit einer wunderbaren Kühnheit in den natur- wissenschaftlichen Fragen vereinigt werden kann, und andererseits ist es durchaus natürlich, daß der Demokritische „Quietismus" (a&aptßia) dem Epikurischen ver- wandt war. Doch ist es überhaupt methodologisch verfehlt, alles wegzustreichen, was unserer Meinung nach des Demokrit unwürdig ist. Das onus probandi fällt jedenfalls dem Leugnenden zu2 — er muß in jedem einzelnen Falle durch gute Gründe beweisen, daß das Fragment nicht Demokrit gehören kann. H. Diels, der fast alle diese Bruchstücke seiner Sammlung einverleibt hat, bemerkt mit vollem Recht: „Bis uns Ägypten einmal ein Buch Demokrits (schenkt), gilt es die vor- handene Literatur bis auf das letzte Stäubchen auszuklopfen. . ." 3 Freilich gebe es Fragmente, die den uns gut bezeugten Lehren Demokrits geradezu widersprechen, trotzdem „wäre es voreilig, nur deswegen alles derartige Schrifttum für apo- kryph zu erklären. Ein Stamm muß jedenfalls echt gewesen sein, aus dem (die späteren Fälschungen) sich entfalteten".4 1* 4 Luria Das Gesagte befreit uns natürlich nicht von der Pflicht, bevor wir irgendwelche Verallgemeinerungen machen, diese Sammlung durchzusehen und alles, was De- mokrit keinesfalls sagen konnte, zu entfernen; W. Nestle5 bemerkt richtig: „Bei allen diesen Versuchen der neueren Forscher, die Ethik D-s mit seinem natur- philosophischen System in Einklang zu bringen, darf aber nicht vergessen werden, daß eine befriedigende kritische Sichtung der ethischen Bruchstücke D-s noch immer nicht vollzogen ist." Zeph Stewart6 sucht ein mechanisches Kriterium für die Echtheit der Demo- kritischen Fragmente aufzufinden: indem er Demokritische Sprüche mit denen der Kyniker vergleicht, kommt er zu dem Schluß, daß diese Sprüche an uns durch die Vermittlung der Kyniker gekommen sind; aber „this review of the evidence for Cynic activity in the preservation of Democritus' fame and fragments is not intended as an attack on the authenticity of the fragments"; er glaubt nur, nachdem man die kynischen „Intrusionen" entfernt haben wird, wird man den reinen Demokrit erhalten. Nun scheint mir Stewarts These von der Vermittlung der Kyniker, d. h. seine Zusammenstellung von Seneca, De beneficiis 7,1, 3 mit Demokritischen Sentenzen, wenig überzeugend: meist ist die Ähnlichkeit sehr oberflächlich und entlegen; in denjenigen Fällen, in denen eine wirkliche Ähnlich- keit vorhanden ist, handelt es sich um Gemeinplätze der didaktischen Sentenz- literatur, die nichts spezifisch Kynisches oder spezifisch Demokritisches auf- weisen. Manchmal ist der innere Sinn der zusammengestellten Ausdrücke ganz voneinander verschieden. So schlägt z. B. der Kyniker vor, sich nur mit scientia utilis et necessaria zu beschäftigen (reliqua oblectantia otii sunt), während Demokrit gerade die theoretische, nicht utilitarische ahtoXoyia für den Zweck seiner Tätigkeit hielt; die Berufung auf B144 hält genauer Prüfung nicht stand, da doch in diesem Fragmente nicht vom verschiedenen Wert, sondern von der chronologischen Folge der Entdeckungen die Rede ist. Deshalb glaube ich mit Elter, daß die Sentenzen des Demokrit nicht aus den vermeintlichen kynischen, sondern aus Chrysipp oder anderen stoischen Samm- lungen geschöpft wurden, die bekanntlich den Stoff aus Werken aller Richtungen entnommen und nach entsprechender Korrektur und Auswahl ausgenutzt hatten. Doch wie dem auch sei, die Echtheit jeder einzelnen Sentenz ist zu prüfen, unabhängig davon, wer der Vermittler war. Nun versuchte ich im J. 19297, indem ich eine große Anzahl ganz eindeutiger und absichtlicher akademischer, stoischer und christlicher Fälschungen zum Ver- gleich heranzog, eine solche Sichtung für Demokrit vorzunehmen. Ich zeigte dabei (S. 240ff.), daß das Fr. 175D: ol de d-eol xolai avd-QÜtnoiai didovai Taya&ä Jidvra, nÄr/v oxoaa xaxä xal ßXaßsqä xal ävmcpeXea, ra de 6'ov . . . &eoi äv&Qai- noiai dcüQovvTai . . . usw. unmöglich von Demokrit stammen kann, denn diejenigen Wesen, die er Götter nennt, können auf uns ebenso oft eine fördernde wie eine schädliche Wirkung ausüben, Fr. 166: eldmXä rcva ifineM^eiv rolg äv&Qwnoig (von den Göttern), xal (sc. elöcuAcov) ra ¡uev elvai ayadonoia, ra <5s TOVTCOV TCUV Materialistische Begründung der Ethik bei Demokrit 5 xaxoTtotd, Cic., De nat. deor. I 43, 120: animantes imagines, quae vel prodesse nobis soleant vel nocere. Zu dem Fr. 166 fügt Demokrit noch hinzu, daß es außer diesen eZScüAa keinen anderen Gott gibt: ö&ev rovrcov avr&v qjavraaiav Xaßovxeg oi naXaiol v7ievórjoav elvai &eóv, /urjòevòg äXXov naqà tavra övrog &eov, — auch verneinte Demokrit die göttliche Vorsehung überhaupt — siehe Aét. 113, 2: (ròv xóo/xov) . . . ovTenQovoia òwixEÌo&ai*. Das Fr. 175 gehört, wie ich in dem oben angegebenen Aufsatz zeige, zu einer ganz gleichartigen Reihe von Fälschungen ad maiorem gloriam dei. Andererseits steht das Fr. 175 ohne Lemma Arj/xoxgÌTov (siehe ebenda S. 241), so daß man überhaupt keinen Grund hat, es Demokrit zuzu- schreiben9. Ich war genötigt, darauf zu verweisen, weil S. Schneider in der interessanten, polnisch geschriebenen Abhandlung über die Ethik des Demokrit und den Redner Antiphon10 diesem Bruchstück eine zentrale Bedeutung bei der Wiederherstellung der Demokritischen Ethik beimißt und weil ein so scharf- sinniger Forscher wie G. Vlastos11, um dieses Zeugnis zu retten, zu einer harmo- nistischen apologetischen Deutung seine Zuflucht nehmen mußte: ,,the gods give men all good things, so long as men remember that sharp-eyed intelligence (sc. of men themselves) direct most things in life" (? )12. Demokrit hat eine Schrift IIv&ayÓQrjg geschrieben; daraus zog Thrasyllos den Schluß, daß Demokrit ein Pythagoreer war — ndvra òè doxelv naqà rovrov Xaßeiv (Diog. Laert.; X 38 und 46). Deshalb war vor 50 Jahren die Ansicht vorherrschend, die Ethik des Demokrit habe mit seiner Physik nichts zu tun13: So glaubt noch jetzt einer der neuesten Forscher, der tschechische Gelehrte Kolaf14 : in der Physik wäreDemokrit ein reiner Materialist gewesen, während seine Ethik ,, aussi idéaliste" sei, wie die der Pythagoreischen Schule, „car elle voit le bonheur dans la vie tranquille et vertueuse"15. Hier haben wir es mit einer ausgesprochenen quaternio terminorum zu tun: der Materialismus des Demokrit, ein Materialismus im philosophischen Sinne (Leugnung der Existenz einer übernatürlichen, der natürlichen Gesetzmäßigkeit nicht untergeordneten Kraft) wird mit dem Ma- terialismus im flachen vulgären Sinne des Strebens nach den sinnlichen Genüssen verwechselt. Es wäre richtiger, in diesem Falle nicht von einer materialistischen Ethik zu sprechen, sondern eine autarkische Ethik einer „Ethik des äußeren Zwanges" gegenüberzustellen. Der berühmte Spruch (Fr. 264): prfiév TI /uä?J.ov Tovg àv&gdmovg aldeia&at écovrov firjòé ri ¡läXXov èiegyàCeodai xaxóv, si /xéXXei ¡xrjòeìg sìòtfoeiv RJ oi Tidvteg äv&Qmnoi, àXX' ÉCDVTÒV (lakiaxa alòela&at, sowie die erste Prägung des Wortes aweidrjaig (B 297)16, ist ein unsterbliches Verdienst des Demokrit: „Das tut in großartigerWeise Demokrit . . . Der Gedanke der alò mg vor sich selbst scheint Demokrit völlig eigen zu sein17. Der Begriff „Gewissen" ist in die christliche Ethik, in der er dann eine so beherrschende Stelle erhielt . . . aus der hellenischen (d. h. aus der ionischen materialistischen! S. L.) gelangt". Doch während ein Idealist für die Quelle dieses Triebes eine übernatürliche Kraft hält, sieht ein Materialist den Ursprung dieses Gesellschaftstriebes in einem natür- lichen Instinkt, der sich im Existenzkampf des Urmenschen gegen die Lebens- 6 Luria nöte entwickelte (vgl. Demokrit Fr. B 5, 3, 27ff. p. XIV Diels aus Tzet- zes: ov ßaaiXeîç, OVK äg%ovraç, ov ôeanôraç xexzri/uévoi . . . âA?.à (piÀaÀArjÂiav fiàvov). Auch die Ethik „des äußeren Zwanges" kann entweder durch Furcht vor einer irdischen Obrigkeit und einem irdischen Polizisten und durch Hoffnung auf eine irdische Belohnung motiviert oder durch Furcht vor der himmlischen Obrigkeit und durch Hoffnung auf eine himmlische Belohnung nach dem Tode erklärt werden. Andererseits hat die ä&apßia, die ev&v/zia des Demokrit, nichts mit dem sinnlichen Genuß gemein;18 vgl. D. L. 1X45: ev&vpiav, ov rrp> avrrjv ovaav rfj rjôovfj (im gemeinen Sinne!). Fr. B 69: àv&odmoiç näai âya&ov xal TWVTOV àbj&éç" r/Ôv ôè âAAçp alXo, Fr. 189: rÎQtazov âv&Qwnm rov ßiov ôiâyeiv <hç nlelaxa ev&v/J,r]&éVTI xal èXâ%IAra âvLrj&évxi. TOVTO Ô' âv eïrj, eï TIÇ ¡xr] ÈNI roïoi ûvrjTolai ràç rfiovàç noioïro19. Der Einfluß des Pythagoreischen Wortgebrauches auf Demokrit, worauf Kolar hinweist, ist wohl nicht zu leugnen, doch hat dies Krokiewicz (Quaestiones 42) genügend erklärt: Die Sprache des Demokrit hat zwar „Pythagoricae consuetudinis colorem" (,,D. interdum de anima similiter atque Pythagorei loquitur")20, doch nur deshalb, weil diese Diktion in der damaligen Wis- senschaft üblich und angenommen war 21 : „animam, quam D. ex atomis constare et caducam esse voluerit, ab immortali illa Pythagoreorum anima toto genere differre". Der trivial-erbauliche Charakter mancher Sentenzen des Demokrit kann auch einen anderen Grund haben. Wie man bei Clemens, Strom. I 15, 69 (= Fr. 299, von Diels mit Unrecht für unecht gehalten) liest, hat Demokrit die Gnomen- sammlung des Achikar ins Griechische übersetzt und stärkstens ausgenutzt22. Ge- wiß hat Th. Nöldeke 23 recht, wenn er sagt, daß der Ton der Demokritischen Sprüche vielfach ein ganz anderer ist als der des Achikar: war doch Demokrit Bürger einer demokratischen griechischen Polis! Doch nichtsdestoweniger werden manche Sprüche, wie F. Nau24 gezeigt hat, als Demokritisch bezeugt, die den entspre- chenden des Achikar sehr nahestehen; besonders zahlreich sind Sentenzen, die bei Achikar enthalten sind und in den rvü/icu [lovôanxoi des Menander wiederkehren. Wie Nau (S. 46) mit Recht vermutet, ,,le plus simple est d'admettre que Mé- nandre a utilisé les écrits de Démocrite, c'est à dire, à travers lui, d'Achikar". Auch finden sich25 im arabischen Werke von Shahrastäni neben anderen dem Demokrit beigelegten Sprüchen drei, von denen zwei auch im syrischen Achikar gelesen werden, der dritte aber im armenischen und slavischen. „Ich möchte", sagt Nöldeke, „annehmen, daß ihre richtige Stelle wirklich das Achiqar-Buch ist und daß sie daraus unter . . . Aussprüche Demokrits geraten sind" (S. 22). Freilich hält Nöldeke die meisten Demokritischen Sittensprüche für gefälscht, doch überzeugt seine Begründung nicht: „Demokrit", sagt er, „einer der klarsten Köpfe des Altertums, hatte es wirklich nicht nötig, Lebensregeln für Griechen einer orientalischen Weisheitsquelle zu entnehmen" (S. 22/23). Gewiß waren griechi- sche Wissenschaft und griechische Literatur in der Hauptsache originell; trotzdem läßt sich jetzt feststellen, daß sie sich in ihrem frühen Stadium unter bedeutendem Materialistische Begründung der Ethik bei Demokrit 7 Einfluß des Orients entwickelten26. Auch die Ethik Demokrits war in allem Wesentlichen eine Schöpfung des griechischen demokratischen Geistes; doch können trotzdem viele schöne Sittensprüche, obwohl sie ihrem Inhalt nach recht trivial sind, aus der babylonischen Weisheit geschöpft worden sein27. Der Widerspruch zwischen der Physik und der Ethik des Demokrit liegt offen- sichtlich in einer anderen Sphäre. C. Bailey, der Verfasser des ausgezeichneten Werkes „The greek atomists and Epicurus" (Oxf. 1928), machte ebenfalls keinen Versuch, diese Kluft zu überbrücken: ,,The moral teaching of Democritus is not based on any profound metaphysical or ethical basis, nor is it, as far as we can judge from detached fragments in any sense a complété system" (S. 212, so auch 522). Doch seine Gründe sind viel durchdachter als die der obengenannten Gelehrten: er weist mit vollem Recht darauf hin, daß der Determinismus mit der Festsetzung bestimmter Sittlichkeitsregeln überhaupt nicht vereinbar sei; denn wenn unsere Handlungen nicht von unserem freien Willen abhängen, wenn sie streng gesetzmäßig sind, ist es durchaus zwecklos, eine bestimmte Handlungs- weise zu empfehlen (S. 187). Dieser Widerspruch darf aber nicht als Mangel gerade des Demokritischen Systems angesehen werden — er ist leider der schwache Punkt jedes deterministischen Systems bis auf unsere Zeit; in bezug auf Demokrit ist dieser Vorwurf um so unbilliger, als, wie Bailey selbst (S. 188) richtig hervor- hebt, ,,by the time of Democritus this great question was apparently not even simmering". Von einem folgerichtigen deterministischen Materialisten darf man deshalb einzig und allein fordern, daß er die altruistischen Triebe beim Menschen weder als einen äußeren „kategorischen Imperativ" noch als Produkt einer durchaus freien Wahl betrachtet, sondern daß er sie als einen in der Hauptsache angeborenen und allen lebenden Wesen eigenen Instinkt auffaßt. Ähnlich verfuhren z. B. die Sophisten, als sie zwecks Festsetzung allgemein- gültiger Sittenregeln ein vergleichendes Studium der Sitten verschiedener Men- schengruppen unternahmen, um zu dem Schlüsse zu gelangen, daß nur sehr wenige der Menschensitten wirklich Produkte Trjç ipvaeojç sind. Die Zeugnisse über Demokrit beweisen: die Lehren der ältesten Sophisten waren ihm gut bekannt, gegen einige von diesen Männern, wie z. B. Xeniades (B 163) und Protagoras (A 114) hat er auch lebhaft polemisiert. Wie verhielt er sich nun zu sophistischen Erörterungen über die xoivoi und ïôtoi vâ/Mi, über rà rfjç cpvaemç und rà rov vôfiovt Demokrit wohnte an der Grenze zwischen Hellenentum und Orient; er war stolz auf seine griechischen Gesetze und Einrichtungen und verachtete den asiatischen Despotismus. Zum Beispiel sagte er: f/ sv örjfioxgaTtr] nevit] rfjç nagà rolç ôvvâorrjoi xaÂeoftévrjç evôaifiovirjç roaovrov èari aigercorégr] âxôaov êKev&sgirj âovAeirjç (Fr. 251)28. Schon dieser Umstand macht ihm die Auffassung der vô/iifia ßagßagixa als rà Tfjç <pvoeaç unmöglich: im Gegenteil müssen, nach seiner Meinung, die Gesetze der Barbaren noch künstlicher, noch verkehrter sein als die der Grie- 8 Luria chen. An einer interessanten Stelle — Porph., De abstinentia IV 21 — wird gegen oi ngòg rà èx rmv èdvmv rjfilv nagare&évra vó/iifia àvrmagayovreg polemisiert: die unsittlichen Bräuche der Barbaren seien teils eine Folge unmöglicher Lebens- verhältnisse, in die die Barbaren geraten seien (di' dvàyxrjv, rfjg %égag axdgnov ovar]g usw.), teils solche einer späteren Verwilderung (ruva ÒÈ rmv è&vmv èSrjygim- rai). Der Autor erwähnt die abscheulichsten Sitten der Massageten und anderer Völkerschaften — die Ermordung der Eltern — und zieht folgenden Schluß: àXX' waneg ov òià rovrovg rtjv nqòg rovg àv&gómovg rijUegÓTrjza xareXvaa/ucv, ovxcog ovòs rà òi àvayxtjv aagxorpayovvra e&vt] fMurjaófis&a, rà òè evaeßfj xal &eolg ¡xäXkov l àvaxeifteva. rò yàg xaxcüg £rjv xal firj (pgovifimg xal aaxpgóvag xal óoimg Arifióxgirog29 sXeyev ov xax&g C?jv elvai, àXXà noXvv %góvov àrto&vfjoxeiv. Gewiß ist die ganze Er- örterung späteren Ursprungs (vgl. die Erwähnung von Stasanor o 'AXsHàvògov vnagxog) und der Propaganda des Vegetarismus bei Porphyrios angepaßt; trotz- dem wäre es nur natürlich, wenn die letzte, keine neuen Gründe bringende und deshalb als Zitat überflüssige Sentenz nicht an und für sich, sondern samt dem ganzen Kontext der Stelle Demokrit entlehnt worden wäre. Vielleicht darf man auch darauf hinweisen, daß in der Deklamation des Pythagoreers Hipparchos bei Stob. IV 44, 81, die anerkanntermaßen eine Imitation Demokrits ist30, die nargoxrovla als ein Beispiel dafür angeführt wird, daß òià rag nagàcpvaiv à/iérgovg èmfìv/xiag noXXol e'ig àxaxao%érovg ég/iiàg è£u)xsiXav. Jedenfalls geben uns diese Stellen eine gewisse Möglichkeit, uns vorzustellen, wie sich Demokrit zu den Be- rufungen auf die Barbarensitten verhalten haben muß31. Was aber andererseits Demokrits Verhältnis zur griechischen demokratischen TióXig anbetrifft, so begegnet uns hier jedenfalls etwas, was dem sophistischen Anarchismus (vgl. z.B. Fr. 44 des Antiphon!) diametral entgegengesetzt ist.32 Das höchste Ziel eines Menschen sei der Wohlstand seines Vaterlandes33, der bürgerlichen Gemeinde (tò %gr]aròv rov £vvov) : nóXig yàg ed àyoaévr] /ueyiorr] ög&maig sari, xal èv rovrm narra évi, xal rovrov aq>Co/névov nàvra amberai, xal rovrov òiaqy&eigo/jbévov rà nàvra òia<p&eigsrai (Fr. 252). Das höchste Lebensideal — sv&vfJiLa — stimmt mit dem Gehorsam zu den Gesetzen überein (Fr. 174): ó ¡ih ev&vfiog slg sgya atei (pegó/ievog òixaia xal vó/u/ia . .. /at'gst usw. ; man müsse dem Gesetze und dem Vorgesetzten gehorchen (Fr. 47: VÓ/MJ xal ägxovn xal reo aotpcorégcp eixeiv xóo/iiov usw.), auch dem Gerichtsverfahren und den Strafen mißt Demokrit große Bedeutung bei34. Wie muß Demokrit, um folgerichtiger Materialist zu bleiben, den Umstand erklärt haben, daß alle guten Bürger streben, das Gesetz zu beobachten, auch wo- niemand es sieht (Fr. 181).Wo kommt diese lòirj àgerrj her? Bei der Beantwortung dieser Frage ist von dem Grundsatz auszugehen, den F. Lortzing („Über die ethischen Fragmente Demokrits", Progr. Beri. 1873,2) aufgestellt hat : „MagDemo- krit immerhin die vollen Konsequenzen seiner physischen Weltansicht nicht in das sittliche Gebiet hineingetragen haben, so müssen wir doch bei einem so Materialistische Begründung der Ethik bei Demokrit 9 nüchternen und gründlichen Denker erwarten, daß sein ethisches Prinzip nicht im Widerspruch mit seinen metaphysischen ... Lehren stehe."35 Schon die Alten haben richtig gesehen, daß Demokrit, der Verfasser der be- rühmten Ahiat negl Ccpcov36, als materialistischer Zoologe nicht umhin konnte, diejenigen geistigen Errungenschaften, die vor ihm als rein menschlich gegolten hatten, den äXoya £wa zuzuschreiben, — nicht die verkehrten Sitten der Barbaren, sondern die natürlichen37 und urwüchsigen Gepflogenheiten noch nicht verdor- bener Tiere38 sollten als Maßstab39 für das Natürliche und das Konventionelle in den menschlichen Gefühlen und Vorschriften gelten. So sagt Clemens (Strom. V 88 = A 79 Diels): rr/v negl rov •Bsiov evvoiav xai ev rolg äkoyoig Ari/uoxQirog . . . x äv fiY] &eXrj, 6[i,oXoyr)aei dtä rrjv äxoXov&iav rwv öoy¡uarcov rä yäg avrä nenoirjxev elöwXa rolg äv&oamoig ngoaninrovra xai rolg äloyoig £a>oi? and fteiag ovaiag. Mehr als das: manchmal wird ein Tier nach Demokrit auch in denjenigen Fällen von einem Instinkt geleitet, in denen der Mensch hilflos dasteht. Demokrit sah darin ein höheres Gefühl, eine Weisheit, die Tiere mit Göttern und Weisen ge- meinsam haben, siehe Fr. A 116 Diels: A. nXeiovg elvai alo&rjoeig (rwv nevre) negl rä akoya f<5a xal negl rovg aocpovg xai negl rovg -&Eovg.m Diese Weisheit muß der Mensch erlernen, und da jedes Lernen eine Nachahmung, fii/jirjaig, ist41, so muß der Urmensch die Tiere nachgeahmt haben — die Nachtigall, die Spinne, die Schwalbe.42 Deshalb ist es verständlich, daß Demokrit, wie schon früher Archilochos43, die Tiere sowohl für Subjekte wie für Objekte des Rechtes hielt, Fr. 257: xarä de £wwv .. . wde exet" rä ädixeovra xai fiekovra adixelv a&mog o xrsivav . . . 259: negl xivadewv re xai egnerewv yeyga(parai rwv noXe/iiwv. xarä vofiovg rovg nargiovg xreiveiv . . . ev <L /nr/ vö/uog äneigyet. Demokrit kehrt hier also zu volkstümlichen anthropomorphen Vorstellungen zurück, vgl. die Tiere der Fabel und das athenische Gericht ev rq> ngvraveiw, wo Ochsen und sogar Steine angeklagt werden. Unsere Aufgabe ist es nun zu beweisen, daß, während die Sophisten die Gültig- keit der wichtigsten aygatpa durch Heranziehung von vö/ii/ia ßagßagixä bestreiten wollten, Demokrit es im Gegensatz zu diesen Lehren unternahm, Gültigkeit oder Ungültigkeit von aygatpa durch Tiersitten zu prüfen.44 Ich fange mit den Vorschriften an, bestimmte geschlechtliche Verbote zu be- obachten. Dies war vor allem das Verbot, öffentlich Geschlechtsverkehr zu treiben und mit den nächsten Verwandten zu verkehren. Bereits H. Hirzel45 hat dafür Belege gebracht, daß Hippias und andere Sophisten die Gültigkeit dieser Verbote durchBarbarensitten zu entkräften suchten. Die überzeugendste Stelle ist Xenoph., Mem. IV 4, 20 (Ewxg. Ovxovv xai /ir/re yoveag naial [iLyvva&ai ¡ir/re nalöag yovevai; 'Innlag" Ovxen fioi doxel . . . ovrog §eov vö/uog elvai . . . ort . . . ala&dvofiai naga- ßaivovrag avröv), vgl. Herodot II 64. Als Belege für dr/fioaia [iioyeo&ai dienten die Mossynoikoi (Xen. Anab. V 4, 33) und die Massageten (s. unten).