Ingeborg Maus Zur Aufklärung der Demokratietheorie Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant Suhrkamp Erste Auflage 1992 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1992 Alle Rechte vorbehalten Satz: Satz- und Reprotechnik GmbH, 6944 Hemsbach Druck: Druckhaus Beltz, 6944 Hemsbach Printed in Gennany Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Maus, Ingeborg: Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant/ Ingeborg Maus. - r. Aufl. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1992 ISBN 3-518-58130-9 Inhalt Vorwort .. . . . .. . . . .. . . .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . ... 7 Von der Metaphysik des Widerstandsrechts zum nachmetaphysischen Prinzip der Volkssouveränität: die Demokratietheorie Kants Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . r 5 Das Dilemma der Kant-Rezeption oder: 1. die Refeudalisierung des gegenwärtigen Demokratieverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2 Widerstandsrecht und Vertragskategorie 2. 43 • • • • • 3. Die außerrechtliche Dimension der Volkssouveränität und die Faktizität von Widerstand und Revolution . . . . . . . . . . . . . . 62 4. Begründungen, Aktionsformen und Ziele des Widerstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 5. >>Notrecht<< und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 6. Das überpositive Recht zur Revolution . . . . . . r 5 I 7. Vom >>Widerstandsrecht<< des englischen Parlaments zur Begründung des Parlamentarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 8. Volkssouveränität u·nd das Verhältnis von positivem und überpositivem Recht: der Übergang von materialem zu prozeduralem Naturrecht............................ 148 9. Volkssouveränität und der Automatismus rechtsstaatlicher Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 176 ro. Volkssouveränität und >>Repräsentation<< oder: ein Aspekt der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . r 91 r Der Monismus der Volkssouveränität und 1. der Pluralismus der Gesellschaft: das >>Volk<< der Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 20 Volkssouveränität und Widerstand: 12. zur Typologie demokratischer Verfassungen . . 227 Anhang Zur Theorie der Institutionalisierung bei Kant 49 2 • • • r. Von der Reflexion zur Reflexivität: die Entwicklung des Strukturprinzips der Institutionalisierung im Programm der Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . 5 5 2 Reflexivität der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. 261 3. Reflexivität der politischen Institutionalisierung: der demokratische Rechtsstaat . . . . . . . . . . . 271 Die demokratische Theorie der Freiheitsrechte und ihre Konsequenzen für gerichtliche Kontrollen politischer Entscheidungen • • • • • • • • • Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 3 7 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 5 r Vorwort Wir leben in einem Jahrhundert der Gegenaufklärung. Eine Bestätig11ng dieser Erkenntnis und gleichzeitig eine Immu nisierung gegen sie besteht darin, daß die extremen men schenverachtenden Formen politischer Integration, die das Jahrhundert hervorbrachte, nicht als Ausdruck dieser 20. Tendenz, sondern umgekehrt als Vollzug der Aufklärung gedeutet werden. Die aus solcher Sicht konstruierte Ver fallslogik der Aufklärung wird nicht nur der Entfesselung des modernen wissenschaftlich-technologischen Prozesses aus den normativ-institutionellen Vorgaben zugeschrie ben, denen die Aufklärungsphilosophie diesen Prozeß noch subsumieren wollte, sondern auch den normativen Prämissen selbst. Angesichts dieses· herrschenden Trends ist jeder Position, die sich dem Projekt der Aufklärung verpflichtet fühlt, die größere Begründungslast auferlegt. Der vorliegende Versuch, eine >>Aufklärung« gegenwärti ger Demokratietheorie zu betreiben, indem er deren Ver hältnis zur Aufklärung bestimmt, erscheint unter diesen Bedingungen als paradox oder zumindest aussichtslos. Er stößt auf die Schwierigkeit, daß die konsequentesten De mokratietheorien des 18. Jahrhunderts, wie z.B. diejeni ge Kants (oder auch Rousseaus), aus der Perspektive des Jahrhunderts gar nicht mehr als demokratische identi 20. fiziert, sondern eher als aufgeklärt absolutistisch ( oder sogar >>totalitär<<v)e rdächtigt werden. Daß aber auf diese Weise ·die Kritik moderner totalitärer Systeme, wie sie in nerhalb der liberal-demokratischen Residuen dieses Jahr hunderts vorgetragen wurde, selbst Involutionen gegen über ihren ureigenen Voraussetzungen anzeigt, zwingt zu einer Rekonstruktion ihrer Maßstäbe. Es ist eine zentrale These des vorliegenden Buches, daß aufgrund dieser Konstellation die Demokratietheorien des J r 8. Jahrhunderts in der Rezeption des al1rhunderts 20. systematischen Verzerrungen und Fehldeutungen unterlie gen, an denen die Defizite gegenwärtiger Demokratietheo- 7 rie zu erkennen sind. Letztere sind zugleich an faktische Rückbildungen demokratischer Praxis in hochkomplexen Gesellschaften angeschlossen: Die Vernetzung der Staats apparate mit dezentralen Subpolitiken hat längst zu einer Verselbständigung systemischer Entscheidungsprozesse gegen die gesellschaftliche Basis geführt, welcher nur noch die Möglichkeit nachträglicher punktueller Reaktionen verbleibt. Lassen sich letztere unter dem Titel Wider >> standsrecht<< adäquat beschreiben, so intendierte dagegen das aufklärerische Prinzip der Volkssouverä11ität<<d ie de >> mokratische Steuerung des gesamten Entscheidungspro zesses. Am Beispiel der politischen Theorie Kants wird demonstriert, daß die genuin demokratischen Intentionen der Aufklärungsphilosophie gegenwärtig deshalb verfehlt werden, weil an sie der Maßstab jener politischen Beteili gung angelegt wird, die heute noch möglich erscheint. So wird Kant unter anderem deshalb für ein obrigkeitsstaatli cher Denker gehalten, weil er ein Widerstandsrecht ver neint. Dabei entgeht der Wahrnehmung, daß Kant das Widerstandsrecht weder mit Rücksicht auf die Bedürfnisse des zeitgenössischen Absolutismus noch einer kontinuier lichen Reform von oben negiert, sondern das v-ormoderne Widerstandsrecht zugunsten des modernen Prinzips der Volkssouveränität aufhebt. Die Regressionen gegenwärtigen Demokratieverständnis ses, das Kants demokratische Theorie an vordemokrati schen Kriterien mißt, werden zunächst im Hinblick auf Kants Vertragskategorie und Revolutionsbegriff aufgewie sen. So ist gezeigt, daß in der gegenwärtigen Ideenge schichtsschreibung alle Freiheitssicherung aus dem feudal ständischen Vertragstypus erwartet wird, der in den gegebenen Vertragspartnern fürstliche Herrschaft und zu beherrschendes Volk als quasi natürliche Konstanten vor aussetzt und lediglich in der vertraglichen Regulierung der Herrschaftsausübung partikulare Freiheiten und eine rechtsf örmige Widerstandskompetenz garantiert. Die Ab wesenheit dieser Art von Freiheitssicherung wird bei Kant als absolutistisch, bei Rousseau als totalitär mißverstanden. 8 Dagegen ist herausgearbeitet, daß Kants (wie Rousseaus) völlige Eliminierung des traditionalistischen pactum subjectionis zugunsten des modernen pactum unionis überhaupt erst eine demokratische Freiheitssicherung ge währleisten soll, die nicht auf einer bloßen Konstitutiona lisierung, sondern auf Vergesellschaftung von Herrschaft basiert. - Gleiches gilt für das heute aus Kants Theorie vergeblich herausgeklagte Recht auf Revolution<<. Kant >> hat diese Frage nicht etwa, wie oft unterstellt, umgangen, sondern als ·vormoderne Fassung eines modernen Pro blems verneint, die den Widerspruch enthält, die Umpo lung der Legitimationsgrundlagen eines ganzen Rechtssy stems selber als eine rechtlich verliehene und damit rechtlich beschränkte Kompetenz zu konzipieren. Gerade an Kants Rechtfertigung der Französischen Revolution, die sich nicht etwa an einer Kontinuität des Rechts, sondern an der Kontinuität einer außerrechtlichen und rechtsbegründenden Souveränität orientiert, ist die grund sätzliche Intention Kants verdeutlicht, für alle nichtinsti tutionalisierten basisdemokratischen Prozesse bis hin zu grundsätzlichem Widerstand und Revolution rechtsfreie Räume zu gewinnen, während umgekehrt die Macht der Staatsapparate einer totalen Verrechtlichung unterworfen werden soll. Während so Kants politische Theorie als eine der durchgängigen Kombination und wechselseitigen Ver mittlung rechtlich institutionalisierter und nichtinstitutio nalisierter Volkssouveränität interpretiert ist, wird im Kontext einer Verfassungstypologie liberaldemokratischer Systeme die heutige Entkoppelung beider Komponenten von Volkssouveränität demonstriert, die auf deren Ent funktionalisierung überhaupt hinausläuft. In Auseinandersetzung mit der gegenwärtig vorherrschen den Resubstantialisierung von Rechtsbegriffen, die als ex pertokratisch zu handhabende Maßstäbe der Gerechtigkeit der empirisch-demokratischen Konsensermittlung vorge ordnet werden, ist Kants Bestimmung des Verhältnisses von überpositivem Recht und gesetzgebender Souveränität des Volkes besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei 9 wird herausgearbeitet, daß Kant die Richtigkeit positiver Rechtsnormen nicht mehr von der Übereinstimmung mit materialem Natur- bzw. Vernunftrecht abhängig macht, sondern auf das >>vernünftige<<d,. h. demokratische Proze dere ihrer Entstehung gründet. Was dem heutigen Bewußt sein leicht als Ende des Naturrechts erscheint, ist darum als Übergang von materialem zu prozeduralem Naturrecht in terpretiert. Die Formalisierung und Abstraktion der Rechtsbegriffe, die mit diesem Vorgang verbunden ist, wird im Gegensatz zur heute herrschenden Lesart nicht als Ne gation des Konkret-Besonderen interpretiert, sondern als Bedingung der Möglichkeit seiner Autonomie. Im Zusam menhang eines Versuchs der Rekonstruktion von Kants Volkssouveränitätsprinzip unter gegenwärtigen gesell schaftlichen Bedingungen ist dieses scheinbare Paradox aufgeschlüsselt: Kants Rechtsprinzip, gerade indem es die Hypostasierung einer inhaltlichen Allgemeinheit vermei det und als Allgemeines nur noch das Prozedere der Kom patibilisierung des je Besonderen bestimmt, bezeichnet das einzige, worauf eine pluralistische und multikulturelle Ge sellschaft sich noch einigen kann. In den Anhang sind drei kleinere, bereits publizierte Stu dien zu Kant auf genommen. Sie haben hier die Funktion, die allgemeine demokratietheoretische Abhandlung zu entlasten, indem sie einige dort nur skizzierte, speziellere Probleme vertief end behandeln. Ihnen liegt das gleiche Verfahren zugrunde, aktuelle Resubstantialisierungen von Legitimationskonzepten in Konfrontation mit den Model len des 8. Jahrhunderts sichtbar zu machen. Das überwie 1 gend kompaktere Institutionenverständnis der Gegenwart, das sich leicht in Stellungnahmen für oder gegen das beste hende Set fertiger rechtsstaatlicher Institutionen erschöpft, wird im Hinblick auf Kants reflexives Prinzip der Institu tionalisierung erörtert, das dem Problem veränderter ge sellschaftlicher Bedingungen immer schon Rechnung trägt. Dabei ist als besondere Pointe von Kants Theorie heraus gearbeitet, daß sie mit großer Radikalität den Zusammen bruch aller Traditionsbestände, substantiellen Verhältnisse 10