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Zur Archäologie der marxistischen Geschichts- und Literaturtheorie Die sogenannte 'Sickingen-Debatte' PDF

105 Pages·1974·6.151 MB·German
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Preview Zur Archäologie der marxistischen Geschichts- und Literaturtheorie Die sogenannte 'Sickingen-Debatte'

Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 4 Erweiterung der materialistischen Literaturtheorie durch Bestimmung ihrer Grenzen Mit Beiträgen von Heinz Brüggemann, Wolfgang Hagen, Helmut Pfotenhauer, Hartmut Rosshoff, Hannelore Schlaffer und Gisbert Ter-Nedden herausgegeben von Heinz Schlaffer J. B. Metzler Stuttgart Wolfgang Hagen Zur Archäologie der marxistischen Geschichts- und Literaturtheorie * Die sogenannte »Sickingen-Debatte« Einleitung Ludwig Marcuse, konservativer Feuilletonist, 1952: »Dort aber, wo die Weltanschauung des Marxismus herrscht, wird ohne Schwanken die Tragödie als Mystizismus inter- pretiert und als schädlich verboten [...] Das läßt sich literar- historisch zurückverfolgen bis zur Kritik Marx' und Engels' an dem Versuch Lassalles, eine echte Tragödie zu schreiben.« [1] , , Auf was sich Marcuse bezieht, nannte Lukács die »für die marxistische Literaturtheorie entscheidend wichtige Debatte über Lassalles >Sickingen<-Drama«. [2] — Er schrieb 1931: »Marx und Engels haben [...] den Hegelschen Typus der Tragödie als eine Form der Tragödie angenommen. Daneben ' steht aber für sie die Tragödie des zu früh gekommenen Re- volutionärs, die Münzer-Tragödie [...] Die Tragödie er- scheint als dichterischer Ausdruck bestimmter Stufen des Klassenkampfes, und zwar sowohl bei der absteigenden als auch bei der revolutionären Klasse.« [3] Ernst Bloch: »So hat hernach gerade der Marxist Lukács, in Verfolgung der Marx-Engels'schen Sickingendebatte mit Lassalle, das objektivere Relief des Tragischen [...] herauszuarbeiten ver- sucht. Eben die gesellschaftliche Sache, wie sie der Held in seinem jeweiligen Charakter vertritt und seinen notwendigen Handlungen durchsteht.« [4] Ernst Schumacher, marxistischer Brechtinterpret in der DDR: »Die Geschichte besitzt in sich selbst eine objektive drama- tische Vollkommenheit und Schönheit. Wenn das historische Drama seinen Sinn darin hat, das Wesen der Geschichte zu veranschaulichen, dann findet es seine Erfüllung notwendig in der Abbildung revolutionärer Vorgänge [...] Aus diesem Grund sprachen Marx und Engels im Jahre 1859 Lassalle ihr Lob aus.« [5] * Der Titel dieses Beitrags stammt vom Herausgeber Wolfgang Hagen A. L. Dymschitz, marxistischer Literaturwissenschaftler in der Sowjetunion: »Durch die Verurteilung der subjektivistischen Willkür in Lassalle >historischer< Tragödie >Franz von Sickingen< zeigten sie, daß eine richtige Erforschung der geschichtlichen Wirk- lichkeit die erste Bedingung der künstlerischen Wahrheit ist. |...] Marx und Engels verteidigten in ihrem Kampf um eine neuartige Tragödie — die Tragödie des revolutionären Heroismus des Volkes - die realistische Kunst des Shake- spearschen Dramas.« [6] Klaus Kändler in seinem 1970 in der DDR erschienenen Buch »Drama und Klassenkampf«: »Daß der dramatische Konflikt das ästhetische Zentrum der Gattung überhaupt ist, gehört zu den Erkenntnissen, von de- nen Überlegungen zu Wesen und Funktion der Gattung Drama seit jeher ausgehen. Seine Beziehungen zu den objektiv vorgegebenen Kollisionen der geschichtlichen Hauptklassen, also seine geschichtlich begründete Substanz, wurde vor al- lem von der marxistischen Ästhetik seit der berühmten Sik- kingen-Debatte zwischen Marx und Engels einerseits und Ferdinand Lassalle andererseits herausgearbeitet.« [7] Ginge es hier nur darum, Ludwig Marcuse zu widerlegen, dann wäre bereits genug gesagt. Offenbar aber handelt es sich um mehr; um eine nicht unbeträchtliche Anzahl Versuche nämlich, ein und denselben Gegenstand zu rezipieren. Schließen wir die Reihe ab mit einem eher nicht-marxistischen Rezipienten, F. J. Raddatz: Während also Lassalle seine Wahrheit aus interpretierter Wirklichkeit, aus Bewegungen, verdeutlichten Tendenzen der Realität ziehen wollte — wollten Marx und Engels ihre Wahr- heit einer in diesem Sinne interpretierten Wirklichkeit auf- stülpen, Wirkmuster und Bewegungslinien eines quasi post- humen Ideenentwurfs hineinverlagern in die Realität. Realismus war für sie nicht die überhöhte Darstellung dessen, was allenfalls möglich gewesen war, sondern die dargestellte Überhöhung dessen, was gegebenenfalls hätte sein müssen. [8] Es geht um sehr entscheidende Thesen und Probleme marxistischer Literaturtheo- rie und ihrer Kritik: um die Tragödientheorien Marx' und Engels' (Lukács); um die Begründung der Tragödie des revolutionären Heroismus (Dymschitz); um die »dramatische Vollkommenheit« der Geschichte (Schumacher) und um die »ge- schichtlich begründete Substanz« des Dramas (Kandier); aber auch um Tragö- dienverbote (Marcuse) und Realitätsverfälschung als Realismus (Raddatz). - Alle Zur Archäologie der marxistischen Geschichts- und Literaturtheorie 9 Rezipienten, zu den konträrsten Schlußfolgerungen kommend, beziehen sich auf dieselbe Literaturdebatte: die sogenannte »Sickingen-Debatte« zwischen Marx, Engels und Lassalle aus dem Jahre 1859. Lenin [9] und Mehring [10] war sie be- kannt. Neuere Anthologien zum Thema »Marxismus und Literatur« stellen sie an den Beginn der Reihe großer Literaturdebatten, welche die Geschichte des Marxismus zu verzeichnen hat. Hier nimmt sie eine privilegierte Stellung ein, weil sie in dieser Reihe die einzige ist, an der die Begründer der marxistischen Theorie selbst teilhatten. Werner Mittenzwei, der durch eine ausführliche Analyse der »Realismus-Debatte«, welche in den dreißiger Jahren zwischen Brecht und Lukács geführt wurde, auch hierzulande bekannt geworden ist, stellt sie mit dieser auf eine Stufe. [11] Demnach handelt es sich bei der Sickingen-Debatte offenbar um einen privile- gierten Ort, auf den alle Theoretiker des revolutionären oder sozialistischen Dra- mas sich zu beziehen hatten, wollten sie ihre Reflexionen in den Zusammenhang marxistischer Theorientradition stellen. Indes fällt auf, daß einer unter ihnen fehlt: Brecht. Dies überrascht wohl umso mehr, als Brecht unter all den genannten derjenige ist, der am frühesten und ausführlichsten auf die Probleme revolutionä- rer, nicht-aristotelischer, verfremdender Dramatik reflektierte. Eine weitere Überraschung wird dem bereitet, der der »Sickingen-Debatte« selbst nachgehen will. Er wird schnell finden, daß es eine solche »Debatte« im eigentlichen Sinn nicht gibt; und wenn, dann als eine die nur zu einem geringen Teil von Marx, Engels und Lassalle geführt wurde. Ein kurzer Abriß über ihre Entstehungsgeschichte mag dies zeigen: Als Ferdinand Lassalle 1857 von Düsseldorf nach Berlin übersiedelte, brachte er zwei fertige Akte seiner »Historischen Tragödie« über den Helden des Adels- aufstandes von 1522, Franz von Sickingen, bereits mit. Im Juli 1858 wurde sie vollendet und als erster bekam Alexander von Humboldt, der Naturforscher, ein Exemplar. Noch im selben Jahr antwortete dieser mit einer kurzen Kritik brief- lich. Im Herbst äußert sich bereits ein weiterer Freund Lassalles, Ernst Dohm. Ebenfalls Exemplare erhielten, vor der eigentlichen Veröffentlichung, der Philo- soph David Friedrich Strauß und die Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer und Karl Rosenkranz. Vischers und Strauß' Kritik-Briefe sind erhalten. Anfang März 1859 kann Lassalle in einem Brief an Lina Dunker eine ganze Sammlung von Stel- lungnahmen auffahren, aus dem Kreis der Berliner Literaten, Feuilletonisten und Liberalen, denen allen das Stück also längst bekannt sein mußte. - Erst jetzt, Anfang März 1859, schickte er Exemplare an Marx, Engels und Freiligrath in London. Freiligrath, als proletarischer Dichter und ehemals literarischer Redak- teur der »Neuen Rheinischen Zeitung« der einzige Mann >vom Fach<, antwortete als letzter dieser ganzen Reihe und beiläufig mit einer inhaltsleer-höflichen Flos- kel. [12] Um den Sickingen ging also keine Debatte, sondern eine Briefkorrespondenz, die überdies insgesamt nur Lassalle selbst bekannt war. Franz Mehring gab 1902 10 Wolfgang Hagen nur die Lassalleschen Briefe an Marx und Engels heraus; daher rühren seine und Lenins Kenntnisse. Erst durch die Mayersche Ausgabe wurde das Ganze, 1923, veröffentlicht. Acht Jahre später, 1931, schrieb Georg Lukács, seine Tätigkeit als Kulturfunktionär in der KPD und als Chef-Theoretiker in der »Linkskurve« be- ginnend, einen Aufsatz, der als erste Aufarbeitung dieser erst damals zugänglich gewordenen Briefkorrespondenz gelten muß. Dieser Aufsatz trug den Titel Die Sickingendebatte zwischen Marx-Engels und Lassalle. [13] Offenbar von diesem Aufsatz Lukács' stammt der Name der »Debatte« her. Lukács griff aus der Mayerschen Veröffentlichung nur diejenigen Briefe heraus, die Lassalle an Marx und Engels (3 Briefe, nebst einer Handschrift über »die tragi- sche Idee«, die Lassalle an Marx schickte) und Marx und Engels, je getrennt, an Lassalle gerichtet hatten. Nicht die mindeste Bedingung einer »Debatte«, nämlich Öffentlichkeit unter den Autoren (etwa im Zirkularbrief), ist damit erfüllt. Sowohl die Reduktion der weitläufigen Korrespondenz auf die zwischen Marx, Engels und Lassalle wie die Namensgebung haben jedoch alle Wiederveröffentli- chungen gemeinsam. [14] Der Strategie, der solch ein Verfahren folgt, ist nachzu- gehen. Daß, wie zu sehen ist, die Sickingen-Debatte eine Konstruktion ihrer Rezipien- ten ist, versucht die folgende Arbeit immanent, d. h. an dem zu zeigen, was ihre Rezipienten in der Mehrzahl aus ihr zu gewinnen suchten: die Theorie des histori- schen Dramas bei Marx und Engels. Der Konstruktion einer solchen Theorie soll entgegengesetzt werden, was der wirkliche Zusammenhang ist, auf dem sie sich erhebt: untersucht werden soll die Verwendung der Termini des Dramas im Kon- text der geschichtstheoretischen Schriften Marxens. Mit dem Blick, den diese Frage eröffnet, besehen, reihen sich die Marx- und Engelsschen Briefe von 1859 in die Folge jener geschichtstheoretischen Analysen ein, die seit 1848 die Marx- sche Geschichtsauffassung und Revolutionstheorie begründeten. In allen diesen Schriften, deren Gegenstand vorwiegend die 48er Revolution in Deutschland und Frankreich ist, findet der Terminus »Drama«, ebenso der der »Tragödie«, des »Schauspiels« etc., seinen eigentümlichen, oft metaphorischen Ort. In ihren Kon- text gehört der Marxsche Sickingenbrief, der von der »Tragik« der Niederlage der revolutionären Partei des Jahres 1848/49 spricht. Statt also mit einer fertigen Frage nach der (oder den) Tragödientheorie(n) an die Briefe heranzutreten, muß allererst das Problemfeld, das ihren Argumenten und ihrem Text zugrundeliegt, eruiert werden. Dies soll in einer Rekonstruktion der »Erfahrung«* geschehen, die Marx, längst vor der »Debatte«**, mit dem »Drama« im geschichtstheoretischen Kontext machte. Es ist eine Erfahrung über- dies, die ihn mit Lassalle verbindet. * »Erfahrung« wird hier in keinem Hegelschen Sinn, sondern eher in der Nähe des psycho- analytischen Terminus der »Erinnerung« oder der »Erinnerungsspur« verwandelt. Es ist damit gemeint, daß Marx nicht unvorbereitet auf die Lassallesche Tragödie irifft. Vielmehr Zur Archäologie der marxistischen Geschichts- und Literaturtheorie 11 In einem ersten Teil soll die >Geburt< der Lassalleschen Tragödie aus seinem Verständnis der 48er Revolution gezeigt werden; zugleich kann die Marxsche Erfahrung vom »Drama«, die sich im gleichen Zusammenhang einstellt, expo- niert werden. — Dies soll im zweiten Teil an Engels »Revolution und Konterrevo- lution in Deutschland«, am Zirkularbrief des »Bundes« von 1850 und an den bei- den Schriften Marxens, die die Klassenkämpfe in Frankreich behandeln, systematisiert werden. Um die Frage zu explizieren, auf die die (metaphorische und metonymische) Verwendung der Drama-Termini antwortet, ist eine gründli- che, sowohl auf die eigenen Voraussetzungen wie auf den Hegeischen Hinter- grund des Dramabegriffs reflektierende Darstellung (Abschn. 5. und 8.) erfordert. Der dritte Teil, den Sickingenbriefen von Marx und Engels gewidmet, faßt die Thesen und Argumente, welche der zweite entfaltet, abschließend zusammen. Der Marxsche Brief steht im Problemzentrum dieses Teils. An ihm soll gezeigt werden, wie sehr die Verwendungsweise der Drama-Termini auch am Gegenstand eines Bühnenstücks von derjenigen bestimmt ist, welche die geschichtstheoretischen Texte am Gegenstand der 48er Revolution erforderten. - Im vierten Teil schließ- lich werden in Form zweier Anmerkungen Einblicke in die Rezeptionsgeschichte der Sickingen-»Debatte« gewährt. Wer erwartet, aus der nun folgenden Lektüre der Sickingenbriefe von Marx und Engels oder aus den vorbereitenden Überlegungen dazu näheren Aufschluß über die Tragödien- oder Drama-Theorien Marx' oder Engels' zu erhalten, wird enttäuscht. Und ebensowenig erhalten die Stimmen Beifall, die von »Tragödien- verbot« und Realitätsverfälschung sprachen.* Der privilegierte Punkt, auf den all diese Stimmen sich bezogen, soll vielmehr dekonstruiert werden; wie sehr es sich bei seiner Privilegierung (auch auf unmittelbar philologischer Ebene) um eine Konstruktion eines Sinnes handelt, der als apriorischer immer schon unterstellt oder hineingelegt wurde — auch dies mag deutlich werden. Brecht hat zur »Sickingen-Debatte« geschwiegen. Wo sein Schweigen sich durch diese Untersuchung als berechtigt erweisen sollte, könnte es beredt über seine Intention sich erklären. In den Dienst solcher Absicht will das Folgende sich stellen. aktualisiert sich an diesem Gegenstand Marx' eigenes »Verhältnis« zum Drama, das freilich nicht »seines«, sondern das seiner Texte ist. ** Sofern sich unsere Untersuchung auf den gleichen Gegenstand bezieht, den alle bis- herigen Rezipienten zugrundelegten, kann auch der, nach unserer Erklärung zudem nicht mehr irreführende Name beibehalten werden. Dennoch wäre zu fordern, daß die Sickingen- korrespondenz bald in ihrer Gänze allgemein zugänglich gemacht wird. Sie fände wenig bes- sere Dokumentationen an ihrer Seite, die ein solches Schlaglicht auf die theoretische Situa- tion in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland werfen. * Auf Raddatz' und Marcuses Bemerkungen wird im folgenden nicht mehr eingegangen. Ihre Tendenz erledigt sich, so meinen wir, wenn den marxistischen Interpretationsversu- chen, was ihren Rekurs auf die »Debatte« betrifft, der Boden entzogen ist. 12 Wolfgang Hagen I. Franz von Sickingen - Die Tragödie des großen Helden von 1848 1. Einmal ein Drama und »nie wieder« Ferdinand Lassalle hatte sein Drama, am 6. März 1859, Marx zugesandt mit der Bitte um »ein eingebendes und ganz aufrichtiges Urteil, wie Du das Ding fin- dest«. [1] Keineswegs aber mit der Absicht, aus der Kritik Lehren für ein anderes zu ziehen: »Wenn es auch das beste Ding von der Welt wäre«, schreibt Lassalle, »ich werde nie wieder ein Drama schreiben. Dies eine war mir wie ein Schicksals- schluß von dort oben auferlegt und keines wieder!« [2] Im Mittelpunkt steht also das Problem eines Dramas, hervorgebracht aus »Zwang« [3] und »Schiksal von oben«. Was aber hinter diesem »Schiksals- zwang« steht, ist jene Erfahrung des Scheiterns der Revolution von 1848, von de- ren theoretischer Verarbeitung Lassalles ebenso wie Marx' und Engels1 Arbeiten der 50er und 60er Jahre immer wieder bestimmt sind. — Lassalle war, kaum 23 Jahre alt, an den November-Unruhen 1848 im Rheinland wesentlich beteiligt, or- ganisierte Versammlungen und tat sich als so guter Volksagitator hervor, daß noch zehn Jahre später Engels, im Zusammenhang der »Debatte«, diese Talente rühmend erwähnen muß. [4] Im Franz von Sickingen, der Lassalleschen Tragödie, geht es um den Versuch, die Erfahrung der Niederlage der 48er Revolution zu artikulieren; nicht aber di- rekt, sondern nur per analogiam, ins 16. Jahrhundert der Bauernkriege versetzt und in den Ableitungsrahmen einer »Theorie der tragischen Idee« gebannt. Las- salle will die »Tragödie der formalen revolutionären Idee par excellence« [5] schreiben. Im Zentrum jeder Revolution, also der von 1848 wie von 1522, stand, so Lassalle, die revolutionäre »Idee«, die unerfüllt blieb. Warum? Die ewige Schwäche einer jeden berechtigten revolutionären Idee, die sich zur Praxis kehren will, Hegt in dem [...] Mangel an Organisation der ihr zu Gebote stehenden Mittel [6] Als Begründung wird ein althegelianisch zu Kant retirierendes Diktum geliefert: es bestehe ein »unlöslicher Widerspruch zwischen der spekulativen Idee [...] und dem endlichen Verstand«. [7] Das Problem dieses einen Dramas ist also genauer das der revolutionären Subjektivität, die — im Bewußtsein einer »revolutionären Idee« — ewig gezwungen sei, nach Mitteln ihrer Verwirklichung zu suchen, nach »diplomatischen Mitteln« [8] genauer; eben wegen solcher »diplomatischen Mit- tel« aber - Grund auch der Tragik Sickingens - »[sind] die meisten Revolutionen [...] gescheitert«. Die »meisten« - nicht alle. Denn es steckt in dem Dualismus von »spekulativer Idee« und »endlichem Verstand« noch — kantisch — ein teleolo- gischer Springpunkt: Die große Französische Revolution vom 1792 [...] siegte nur dadurch, daß sie verstand, den Verstand beiseite zu setzen. Hierin liegt auch das Geheimnis der Si;irkc der äußersten Zur Archäologie der marxistischen Geschichts- und Literaturtheorie 13 Parteien in den Revolutionen, hierin endlich das Geheimnis, weshalb der Instinkt der Mas- sen in den Revolutionen in der Regel so viel richtiger ist als die Einsicht der Gebildeten [9] Im Anblick dieser Teleologie des Masseninstinkts verwickelt sich folglich der Theoretiker der gebildeten Idee in »sittliche Schuld«, der sich — wie Sickingen — auf die Ebene der »endlichen Wirklichkeit« begeben will und zur Diplomatie greift. Massen nämlich haben, so Lassalle, »aus Mangel an Bildung« jene »leiden- schaftliche Hingebung« [10], daß erstlich sie sich »für das Extreme, Ganze, Unmittelbare« begeistern können. Der ränkeschmiedende Sickingen, der zu sei- nen Absichten, wie noch zu sehen ist, Schwüre, Abmachungen, Kriegslisten etc. braucht, hat diese »Hingebung« nicht. — Woher auch? »Individuen sind zu täu- schen, Klassen niemals«. [11] Was hinter dieser idealistischen Massen-Gläubig- keit im synkretistischen Amalgam des weiteren verborgen liegt, wollen wir nicht breiter auffächern, denn es ist uns nicht um eine einfache Lassalle-Lektüre zu tun. [ 12] Festzuhalten bleiben das Problem, der Begründungsrahmen und die »Erfah- rung«, welche die die Korrespondenz initiierenden Texte preisgeben. Das Problem ist das des tragisch, d. h. mit seiner »revolutionären Idee« am »endlichen Verstand« der Diplomatie scheiternden Helden, kurz: ob eine Drama- tisierung oder Tragifizierung revolutionär-subjektiven Handelns möglich ist. Das zweite ist der Begründungsrahmen des Franz von Sickingen. Neben den philosophischen finden sich bei Lassalle ästhetische Reflexionen, das Problem der Historizität der dramatischen Figur betreffend. Das »Vorwort« der 1859 erschie- nenen Buchfassung des Stückes (ein nicht in die Neuveröffentlichungen eingegan- gener Text) enthält einen wichtigen Verweis auf Schiller, der Lassalle als der erste Dramatiker des »historischen Dramas im engeren Sinn« gilt. [13] Doch seine Würdigung erfolgt nur, um im Sinne der Hegeischen Geschichtsphilosophie über ihn hinauszugehen. Statt der Schillerschen »breite[n] Vertiefung in die gedanken- und wesenlose Besonderheit des zufälligen Charakters« [14], sei es Lassallesche Absicht, »die großen Kulturgedanken solcher Wendeepochen und ihren ringen- den Kampf zu dem eigentlichen zu dramatisierenden Gegenstande zu nehmen«. | 15] »Kulturgedanke« meint hier die Reformation, in deren Spannungsfeld Sik- kingen agiert, die lutherische Botschaft auf seine Fahne geschrieben. Doch es geht nicht um ihn, sondern — hegehsch — um ihn als »Träger«: So daß es sich in einer solchen Tragödie nicht mehr um die Individuen als solche handelt, die vielmehr mir die Träger und Verkörperungen dieser tief-innersten kämpfenden Gegen- sätze des allgemeinen Geistes sind, sondern um jene größesten und gewaltigsten Geschicke der Nationen, Schicksale, welche über das Wohl und Wehe des gesammten allgemeinen Geistes entscheiden und von den dramatischen Personen mit der verzehrenden Leidenschaft, welche historische Zwecke erzeugen, zu ihrer eigenen Lebensfrage gemacht werden. [...] Dir Klippe eines solchen historischen Dramas einging mir nicht. [16] 14 Wolfgang Hagen Hier entsteht dem Tragödiendichter in der Tat eine »Klippe«, die zu umschiffen auch Hegel, wie wir sehen werden, nicht anders gelungen ist, als sie » aufzuheben «, indem er für die Moderne dem individuellen Handeln keine eigentliche drama- tische Dignität mehr zuwies.* Die »Klippe« entsteht, wo der philosophische Gedanke einer Weltvernunft (»allgemeiner Geist«) auf dem »Großen Teppich der Weltgeschichte« (Hegel) [17] keiner unmittelbar sinnlichen an ästhetischen Modellen fixierten Darstellungsweise mehr fähig ist; daher: wenn »der innerste welthistorische Gedanke und Gedankenkonflikt einer solchen Wendeepoche in vollständigster Klarheit dramatisch entfaltet und gestaltet wird, konnte die Gefahr nahe liegen, in das Unding einer abstrakten und gelehrten Poesie zu verfal- len« .[18] Nur mit der blanken »Überzeugung«, daß »vor der Größe solcher welt- historischen Zwecke und der ergreifenden Leidenschaft, die sie hervorzurufen vermögen, Alles weithin verblassend zurücktritt« [19], rettet sich Lassalle, schon ahnend, wie es Strauß, Vischer, Marx und Engels später sagen werden, daß in dies »Alles« auch seine Tragödie »verblassend zurücktritt«. Aber dieser Mangel der Tragödie, der auch einer der ästhetischen Reflexion ist, ist fast keiner; denn Las- salle hat ja auch fast keine Tragödie geschrieben, - nur diese eine einzige, »und nie wieder«. 2, Zweimal »Drama«: Die praktische Erfahrung der 48er Revolution Was Lassalle aber geschrieben hat, sehen wir jetzt deutlicher: Eine synkretisti- sche, mit Kant- und Hegeischen Versatzstücken durchsetzte Geschichtsmetaphy- sik, worin Individuen, mit revolutionären Ideen und Leidenschaften behaftet, zwar Hegels »allgemeinen Geist« zu ihrem Zweck haben mögen, aber nicht die »Mittel«, sondern im Kantischen Dualismus nur den »endlichen Verstand« und nicht den aufs Ganze gehenden »Instinkt der Massen«. — In diesem Rahmen ist eine Erfahrung ausgesprochen, der unser Interesse nunmehr gelten soll. Es ist die praktische Erfahrung der 48er Kämpfe im Rheinland, die Lassalle mit Marx und Engels gemeinsam hat. Erstlich diese Gemeinsamkeit, eine durchaus äußerliche Kameradschaft der »Demokraten« gegen den gleichen Feind, stiftete den persön- lichen Kontakt, welcher brieflich, ein Jahrzehnt später, Fortsetzung in den Sickin- gen-Briefen findet. Und mehr als ein persönlicher liegt in ihr ein sachlicher Zusammenhang, denn die 48er Ereignisse sind ebenso Gegenstand der revolutionstheoretischen Analy- sen von Marx und Engels, wie sie Lassalles Drama motivierten. [20] In den Schrif- ten, die unmittelbar in der 48er Revolution entstanden, lassen sich schon für Las- * Hierzu und zum »Leidenschaft«-Begriff vgl, unten S. 54 Zur Archäologie der marxistischen Geschichts- und Literaturtheorie 15 salle der Anknüpfungspunkt seines späteren Dramas finden, wie bei Marx die Gründe für die spätere Ablehnung des Stückes. Beide, Lasalle und Marx, verste- hen schon damals die revolutionäre Entwicklung als das, worin ihr später Lassalle Ausdruck gab — als »Drama«. In seiner »Verteidigungsrede im Prozeß gegen den Rheinischen Kreisausschuß der Demokraten«, die Marx 1849 vor den Kölner »Assisen« hielt, blickt er auf die Kämpfe des vergangenen 48er Jahres mit folgen- den Worten zurück: »Ich wiederhole schließlich, daß erst der erste Akt des Dra- mas beendet ist«. [21] In dieser Rede mußte sich Marx in der gleichen Sache ver- teidigen wie Monate später auch Lassalle. Der »Rheinische Kreisausschuß« in Köln, dessen Sprecher Marx war, hatte zum »bewaffneten Widerstand« gegen die preußische Steuereintreibung aufgerufen. [22] Diesem Aufruf ging vorher, daß die nach den Märzkämpfen 1848 in Berlin gebildete »Nationalversammlung« (die freilich fungierte, ohne den König abzusetzen) im Herbst 1848 durch die vom König eingesetzte Regierung Brandenburg aus Berlin »vertagt« worden war. Tage später rückte General von Wrangel, ohne auf Widerstand zu treffen, in Berlin ein und versetzte die Stadt in Belagerungszustand. Für die Kölner Demokraten war entscheidend, wie die Nationalversammlung, deren Stunde gekommen war, sich verhielt; sie beschloß, daß der König fortan kein Recht auf Steuereinziehung mehr habe und gegen seine Eintreibung Widerstand zu setzen sei. Die »Neue Rheini- sche Zeitung« (Organ sowohl des »Kreisausschusses« wie des »Bundes der Kom- munisten«; Marx deren Chefredakteur und führendes Mitglied in beiden Grup- pen) gab diesen Aufruf weiter. Der Aufruf der »NRZ«, dessen Marx angeklagt war, berief sich vor allem auf die Souveränität und Legitimität der aus der März-Revolution entstandenen Nationalversammlung. Ihr gegenüber stand — was den Status quo der März- revolution generell beschreibt — die noch erhaltene Macht und Souveränität der preußischen Krone. Marx spricht daher dem Gericht zunächst jegliche Kompe- tenz ab, diesen Status quo zu entscheiden: Der Kampf zwischen zwei Staatsgewalten liegt weder im Bereiche des Privatrechts noch im Bereiche des Kriminalrechts. Die Frage, wer im Recht war, die Krone oder die Nationalver- sammlung, sie ist eine geschichtliche Frage. [23] Urteile allein fällen die Geschichte und die geschichtlichen Gewalten: Gewalt gegen Gewalt. Der Sieg mußte zwischen beiden entscheiden. Die Konterrevolution hat gesiegt, aber nur der erste Akt des Dramas ist beendet. [24] Hinter diesen Worten Marxens liegt nun das Problem, das seine Wirkung (ob ge- lost oder ungelöst) bis in die Korrespondenz um das Drama des Lassalle tut. - Es ist die Marxsche Position (schon seit der Deutschen Ideologie von 1845), daß nicht Individuen oder Gerichte, sondern Klassen und ihre materiellen Interessen

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