Lutz Zündorf Zur Aktualität von Immanuel Wallerstein Für Julian Aktuelle und klassische Sozial- und Kulturwissenschaftler Herausgegeben von Stephan Moebius Die von Stephan Moebius herausgegebene Reihe zu Kultur- und SozialwissenschaftlerInnen der Gegenwart ist für all jene verfasst, die sich über gegenwärtig diskutierte und heraus- ragende Autorinnen und Autoren auf den Gebieten der Kultur- und Sozialwissenschaften kompetent informieren möchten. Die einzelnen Bände dienen der Einführung und besseren Orientierung in das aktuelle, sich rasch wandelnde und immer unübersichtlicher werdende Feld der Kultur- und Sozialwissenschaften. Verständlich geschrieben, übersichtlich gestaltet –für Leserinnen und Leser, die auf dem neusten Stand bleiben möchten. Lutz Zündorf Zur Aktualität von Immanuel Wallerstein Einleitung in sein Werk Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. . 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werkeinschließlichallerseiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesond ere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei- cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Umschlagbild: © 2009 Yale University Sociology Department Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16427-4 Inhalt Einleitung .............................................................................................................7 1 Biographie und Werkgeschichte .................................................................15 2 Das Forschungsprogramm: Die Welt als System ......................................25 2.1 Wissenschaftstheoretische Prämissen ...................................................25 2.2 Analytischer Bezugsrahmen .................................................................29 2.3 Methodologische Regeln ........................................................................38 3 Das Hauptwerk: Das moderne Weltsystem ...............................................43 3.1 Das Moderne Weltsystem I: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert ................................................................................46 3.2 Das moderne Weltsystem II: Merkantilismus und Konsolidierung der europäischen Weltwirtschaft im 17. Jahrhundert ............................58 3.3 Das moderne Weltsystem III: Die große Expansion – Die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert ............73 3.4 Ausblick auf die Entwicklung des kapitalistischen Weltsystems nach 1840 ...............................................................................................88 4 Kritik und Aktualität der Weltsystemanalyse ........................................101 4.1 Zur Kritik der Weltsystemanalyse .......................................................101 4.2 Aktualität und Aktualisierung der Weltsystemanalyse: Empirische Analysen aktueller Problemlagen ....................................109 4.2.1 Der Niedergang der USA als Hegemonialmacht ......................109 4.2.2 Der Aufstieg Chinas von der Außenarena ins Zentrum der Weltwirtschaft ....................................................................121 4.2.3 Zur Analyse systemischer Krisen ............................................140 4.2.4 Utopistik oder Die Zukunft des Weltsystems .........................153 5 Fazit .............................................................................................................157 Anhänge ............................................................................................................161 Bibliographie ................................................................................................161 Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen .................................................168 Personenregister ...........................................................................................169 Sachregister ..................................................................................................170 Einleitung Das Werk des amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein zählt zu den ambitioniertesten Versuchen, die moderne Welt in ihren sozialen Strukturen und soziologischen Bewegungsgesetzen zu beschreiben und zu erklären. Unter „Welt“ wird eine Kon(cid:191) guration vieler verschiedenartiger Gesellschaften mit unterschied- lichen Sozialstrukturen, Wirtschaftsweisen und Formen politischer Organisation verstanden. Bei den Gesellschaften der Welt handelt es sich um überwiegend un- vollständige Systeme, die nicht selbstgenügsam und selbstbestimmt nebeneinander existieren, sondern auf vielfältige Weise aufeinander bezogen und miteinander verknüpft sind. Somit stellt die Welt ein komplexes, multigesellschaftliches Inter- aktionssystem dar. Wallerstein betrachtet die Welt als System, als einen aus Gesellschaften, Öko- nomien und Staaten zusammengesetzten Struktur- und Funktionszusammenhang eigener Art. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile; die Eigenschaften des Weltsystems können nicht aus den Eigenschaften seiner Komponenten abgeleitet werden, vielmehr entwickelt das Weltsystem eigene Gesetzmäßigkeiten, die die Beziehungen zwischen den einzelnen Gesellschaften, Ökonomien und Staaten und deren Entwicklungsmöglichkeiten beein(cid:192) ussen. Wallersteins Hauptthema ist das moderne Weltsystem, „das sich wahrhaftig von allen früheren unterscheidet. Es ist eine kapitalistische Weltwirtschaft, die im langen 16. Jahrhundert in Europa und auf dem amerikanischen Kontinent entstand. Sobald dieses Wirtschaftssystem in der Lage war, sich zu stabilisieren, folgte es seiner inneren Logik und seinen strukturellen Bedürfnissen, um sich geographisch auszubreiten. Dafür entwickelte es das notwendige militärische und technologi- sche Potential und war deshalb in der Lage, sich einen Teil der Welt nach dem anderen einzuverleiben, bis es zu einem Zeitpunkt im 19. Jahrhundert die ganze Welt umfasste“ (Wallerstein 2007: 58 f.). Eine der zentralen Thesen Wallersteins (2004a: 518) besagt, „dass vor der Neuzeit Weltwirtschaften außerordentlich instabile Strukturen waren, die ent- weder zur Umgestaltung in Reiche oder zur Desintegration tendierten. Es ist die Besonderheit des modernen Weltsystems, dass eine Weltwirtschaft 500 Jahre über- dauert hat und nie in ein Weltreich verwandelt worden ist – eine Besonderheit, die das Geheimnis seiner Stärke ist.“ Ein Geheimnis seiner Stärke und seiner langen Dauer ist die Dezentralisierung der politischen Macht in Form des kompetitiven Staatensystem s, das sich nach dem Zerfall des Römischen Reiches in einem Jahr- hunderte langen Prozess in Europa ausdifferenziert hat und mit Beginn der Neuzeit 8 Einleitung wirksam wurde. Seitdem hat sich immer dann, wenn ein allzu ambitionierter Staat eine hegemoniale oder imperiale Position anstrebte, eine Koalition gegnerischer Staaten gebildet, um dies zu verhindern und ein annäherndes Machtgleichgewicht wieder herzustellen. Eine zweite Besonderheit des modernen Weltsystems ist seine Prägung durch den Kapitalismus . Für Wallerstein (1979: 36, 43) sind Kapitalismus und Weltwirtschaft „zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das eine ist nicht Ur- sache des anderen. Wir de(cid:191) nieren dasselbe unteilbare Phänomen lediglich nach anderen Merkmalen. […] Wesensmerkmal einer kapitalistischen Weltwirtschaft [ist]: Produktion zum Zwecke des Absatzes auf einem Markt mit dem Ziel, den größt möglichen Pro(cid:191) t zu realisieren. In einem solchen System wird die Produk- tion ständig ausgeweitet, solange die Produktion pro(cid:191) tabel ist, und die Menschen ersinnen ständig neue Möglichkeiten, Dinge zu produzieren, die die Gewinnspan- nen erweitern können.“ Den ersten Teil der De(cid:191) nition kann man so interpretieren, dass „Weltwirtschaft“ die strukturellen Aspekte dieses „unteilbaren Phänomens“ verkörpert und „Kapitalismus “ seine prozessurale Dynamik ausmacht. Im zweiten Teil der De(cid:191) nition werden drei Komponenten angesprochen, die man als Bewe- gungskräfte des Kapitalismus verstehen kann: Pro(cid:191) tmaximierung als Ziel, Inno- vation und Expansion der Produktion als Mittel der Gewinnerzielung. Eine dritte Besonderheit des modernen kapitalistischen Weltsystems ist sei- ne strukturelle Ungleichheit, die sich fortlaufend reproduziert. Sie manifestiert sich sowohl in der vertikalen Differenzierung der Gesellschaften in Zentren und Peripherien, als auch in ihren wechselseitigen Beziehungen, die ökonomisch als „ungleicher Tausch“ bezeichnet werden. Dabei ist die Disparität der Aus- tauschverhältnisse nicht nur eine Folge unterschiedlicher ökonomischer Entwick- lung (in der sich die Zentren auf wissens- und kapitalintensive Fertigprodukte und die Peripherien auf die Produktion agrarischer und mineralischer Rohstoffe spezialisiert haben, beziehungsweise von den Zentren dazu gezwungen wurden), sondern auch eine Folge unterschiedlich starker Staatsapparate. Starke Staaten setzen gegenüber schwächeren Staaten Tauschregime durch, die ihren heimischen Unternehmen zu Gewinnen verhelfen, die über denen liegen, die auf einem freien Markt zu erzielen wären. Während liberale Ökonomen in der Tradition von Adam Smith Arbeitsteilung als Quelle allgemeinen Wohlstands betrachten, ist sie für Wallerstein Ausgangspunkt sozialer Ungleichheit: „In der Weltwirtschaft geht ‚Komplementarität‘ mit Ungleichheit einher. Das Weltsystem kann also begriffen werden als eine gemäß der Verteilung der Produktionsaufgaben differenzierte Einheit, die man sich in eingeschränkter Analogie als ein System der ‚Schichtung‘ denken könnte“ (Hopkins/Wallerstein 1979: 172). In Wallersteins Verständnis ist das moderne Weltsystem ein historisches Sys- tem „Alles unterliegt steter Veränderung. Nichts hat sich wirklich verändert“ – mit diesen „stimmenden Klischees“ leitet Wallerstein (2004a: 1) sein opus magnum Einleitung 9 über „Das Moderne Weltsystem“ ein. Es verweist auf die Absicht, Prozessanalyse mit Strukturanalyse zu verbinden, die Beschreibung langzeitlichen, historischen Wandels mit einer Analyse der beständigen Reproduktion der Grundstruktur des Systems zu verknüpfen. Dahinter steckt die Annahme, dass die Grundstrukturen eines Systems, solange es besteht, zwar in der Zeit variieren, sich aber nicht prin- zipiell verändern. Das System verändert sein Gesicht, aber nicht die Regeln, nach denen es funktioniert. Die zentrale These kann ungefähr so formuliert werden: In der fünfhundertjährigen Geschichte des modernen Weltsystems kam es zu zahl- losen, oftmals tief greifenden Veränderungen, doch keine dieser wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen hat seine asymmetrische Grundstruk- tur jemals aufgehoben. Das moderne Weltsystem hat sich von Europa aus immer stärker in der Welt ausgedehnt und immer neue Regionen in die internationale Arbeitsteilung und in die korrespondierenden Handelsnetze eingegliedert; es hat den Aufstieg und Niedergang von Hegemonialmächten und dramatische Ver- schiebungen im Gefüge von Zentren und Peripherien durchlebt; es hat zahllose Konjunkturen und Krisen, weltweite Kriege und tief greifende Umbrüche der internationalen Ordnung erfahren und dabei regelmäßig seine asymmetrische Grundstruktur reproduziert. Bei der Suche nach den Prinzipien und Mechanismen, die das moderne Weltsystem reproduzieren und verändern, bevorzugt Wallerstein ähnlich wie Max Weber einen Analysepfad zwischen historischer Erzählung auf der einen und systematischer Theoriebildung auf der anderen Seite. Während Weber im Spannungsfeld zwischen ideographischen und nomothetischen Verfahren seine idealtypische Methode entwickelt hat, bevorzugt Wallerstein die Formulierung von Regeln, die die Funktionsweise und die Wandlungstendenzen des modernen Weltsystems beschreiben. Die grundlegende Regel lautet: „Insgesamt wirkt das System ‚räumlich‘ als allgegenwärtige Trennung in […] ‚Zentren‘ und ‚Peripherien‘ , verbunden und reproduziert durch Prozesse der Kapitalakkumulation und des ungleichen Tauschs ; ‚zeitlich‘ funktioniert es im wesentlichen zyklisch dergestalt, dass sein ‚Wachstum‘ […] bislang in ‚Wellen‘ verlief und weiterhin verläuft […]“ (Hopkins/Wallerstein 1979: 152). Wallersteins (2001: 9, 18) Ambitionen sind nicht auf die Etablierung einer Theorie gerichtet, weder im Sinne „eines Gebäudes von miteinander verbundenen Ideen, das zusammenhängend, streng und klar ist, und aus dem man Erklärungen für empirische Realität ableiten kann“, noch als vorläu(cid:191) ges Ende eines Prozesses von Generalisierungen. Er hat sich dagegen verwahrt, seine Arbeit als „Welt- systemtheorie“ zu bezeichnen, sich darüber ausgelassen, „wie man vermeidet, eine Theorie zu werden“ und darauf bestanden, Weltsystemanalyse zu betreiben. Nach seinen eigenen Worten besteht sein Wissenschaftsstil darin, Weltsystem- analyse „um gelehrte Diskussionen über Themen der Empirie herum aufzubauen.“ 10 Einleitung Die Aktualität Wallersteins lässt sich in drei Punkten zusammenfassen. Zu- nächst einmal kann man ihm fast schon die Daueraktualität eines Klassikers zuschreiben, insofern sein Werk ein großes, noch unausgeschöpftes Anregungs- potential für weitere Theoriebildung und empirische Forschung enthält und seine Fragestellungen über seine (teilweise überholten) Antworten hinaus aktuell bleiben. Wenn man Käsler (1976: 16) folgt, machen „nicht so sehr einzelne, noch so wich- tige ‚Ergebnisse‘ […] einen Soziologen zum Klassiker, sondern die Einführung neuer Sehweisen, durch die neue Perspektiven und damit auch neue Begriffe und Methoden geschaffen werden.“ Zweifellos hat Wallerstein mit seiner schon in den 1970er Jahren aufgestellten Maxime, nicht einzelne Gesellschaften oder Staaten, sondern die arbeitsteilige „Welt“ als die relevante „Arena“ sozialen Handelns seit der Neuzeit zu de(cid:191) nieren, zu einem grundlegenden Perspektivenwechsel bei- getragen (Hopkins/Wallerstein 1979: 152). Zwar sind Wallersteins Grundbegriffe überwiegend vorgefundenen Theorie- und Forschungslinien entlehnt, doch stellen sie in ihrem wechselseitigen Verweisungssystem etwas Neues dar und ermöglichen vertiefte Einblicke in die Dynamik globaler Vergesellschaftungen. In ähnlicher Weise sind auch Wallersteins methodologische Innovationen in einer Kombination verschiedener, etablierter Methoden zu sehen, vor allem im Wechsel und wechsel- seitigen Bezug von vergleichender Komponenten- und systemischer Gesamtana- lyse (z. B. bei der Analyse des Kampfes mehrerer Staaten um die Hegemonie im Weltsystem, bei der die Potenziale der konkurrierenden Staaten miteinander verglichen und gleichzeitig mit den seinerzeitigen Restriktionen des Weltsystems in Beziehung gesetzt werden). Zweitens kann Wallerstein als Analytiker der Globalisierung avant la lettre gelesen werden. Was seit den 1970er Jahren als Globalisierung bezeichnet wird, ist aus Wallersteins Sicht nichts weiter als eine neue Phase, ein neuer Schub in der Entwicklung eines seit 500 Jahren bestehenden Weltsystems, das sich in lang- zeitlichen Rhythmen von Expansion und Konsolidierung, im zyklischen Aufstieg und Niedergang von Hegemonialmächten samt den von ihnen durchgesetzten Weltordnungen fortlaufend verändert und verschiebt, doch seine asymmetrischen Grundstrukturen fortlaufend reproduziert. Aus der Weltsystemperspektive stellt sich die Frage, ob Globalisierung als ein säkularer Trend zu verstehen ist, als eine scheinbar unaufhaltsame Entwicklung in Richtung zunehmender Erweiterung, Vertiefung und Beschleunigung weltweiter Beziehungen (Held u. a. 1999) oder vielleicht besser als Phase eines langzeitlichen zyklischen Prozesses, als eine sehr lange Welle, die nach einer Phase forcierter Globalisierung wahrscheinlich in eine Phase der De globalisierung übergehen wird, aus der heraus es dann später womöglich wieder zu einer Reglobalisierung kommt. Ein derartiger Verlauf wäre in der Geschichte des modernen Weltsystems nichts Neues. Zum Beispiel endete die Globalisierung der Pax Britannica in einer von den beiden Weltkriegen und der dazwischen liegenden Weltwirtschaftskrise von 1929 geprägten Phase der Einleitung 11 Deglobalisierung, aus der heraus es in der Pax Americana nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Reglobalisierung der Weltwirtschaft kam, die erst in den 1970er Jahren wieder das Niveau der Vorkriegszeit erreichte. Vor dem Hintergrund dieser historischen Erfahrungen stellt sich die Frage, ob es infolge der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise erneut zu einer Deglobalisierung mit vergleichbar desaströsen Begleiterscheinungen kommen könnte und wie diese zu verhindern wäre. Damit kommen wir zum dritten Aspekt der Aktualität Wallersteins: seinem Konzept zur Analyse systemischer Krisen. Als Soziologe und Historiker der langen Dauer sucht Wallerstein die Ursachen schwerer Krisen in der Komplexität und in der Widersprüchlichkeit des Weltsystems, in Widersprüchen zwischen der Viel- heit der Staaten und der Einheit der Weltwirtschaft, in Widersprüchen zwischen Zentrum und Peripherie , zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Angebot und Nachfrage, in Widersprüchen , die sich mit der Zeit wechselseitig hoch schaukeln, irgendwann nicht mehr ausgleichen lassen, das System aus dem Gleichgewicht bringen und in eine Krise stürzen. Eine entscheidende Frage ist dann, ob sich das System in der Krise erneuert und zu einem neuen Gleichgewicht zurück(cid:191) ndet, oder ob sich die strukturellen Widersprüche derart verstärkt haben, dass ein (wie auch immer de(cid:191) niertes) Gleichgewicht nicht mehr möglich ist und das System ins Chaos abgleitet. Man kann somit unterscheiden zwischen Krisen im System und Krisen des Systems. Zu den ersteren zählen die aus der Dynamik des kapita- listischen Wirtschaftsprozesses mehr oder weniger regelmäßig hervorgehenden Konjunkturkrisen (Kondratieff-Zyklen ) und die aus der Dynamik des kompetitiven Staatensystems entstehenden Auseinandersetzungen um die Hegemonie im Welt- system (Hegemonialzyklen) . Von diesen zyklisch wiederkehrenden Krisen, die zu einer Erneuerung des Wirtschafts- beziehungsweise des Staatensystems führen, sind die historisch einmaligen, sich lange hinziehenden, existenziellen Krisen zu unterscheiden, in denen das Weltsystem zunehmend außer Kontrolle gerät und auf seinen Kollaps zusteuert. In der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise scheinen sich alle drei Arten von Krisen zu bündeln: (a) eine „normale“ Konjunktur- und Spekulations- krise, die möglicherweise bereits in wenigen Jahren wieder überwunden sein wird; (b) eine Krise der US-Hegemonie und ihres globalen Ordnungsmodells, aus der sich vermutlich eine Schwerpunktverschiebung der Weltwirtschaft nach Asien ergibt; sowie (c) eine wahrhaft systemische Krise, die mit den Problemlösungs- potenzialen des kapitalistischen Weltsystems nur noch schwer zu bewältigen ist und aufgrund ihrer kaum noch ausgleichbaren strukturellen Widersprüche zum Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen, führen könnte. Aus Wallersteins Sicht haben wir die „Zeit der Zyklen“ , die Möglichkeit der zyklischen Erneuerung hinter uns gelassen und be(cid:191) nden uns in der „Zeit des Übergangs“ in ein anderes oder mehrere andere Systeme.