V S I Zum N Zum Ausbau der t i C. Preußischen Verfaſſung. I. Ein conservativer Staudpunkt. II Vom Recht, das wir haben. III. Vom Recht, das wir brauchen. IV. Ueber den Weg dahin. GISCHrE RETTOLC h C REGIDNEWZ LANNE Berlin. Rudolph Wagner. 1862. APRIL 21, 1932 I. Ein conservativer Standpunkt Von dem Miniſterwechsel des Jahres 1858 pflegt man die neue Aera zu datiren; troßdem, daß einTheil der früheren Miniſter im Amte blieb und daß ausdrücklich die Erklärung abgegeben worden, wie ein Bruch mit der Vergangenheit außer der Absicht liege. Einen ähnlichen Wechsel eines Theils des Ministeriums hat dies Frühjahr uns gebracht, begleitet von ähnlichen Erklärungen. Das Land hat denselben mit über raschender Ruhe und Gleichgültigkeit aufgenommen, überraschend, weil die politische Stimmung im Allgemeinen dies Mal schon vorher erregter war, als vor drei Jahren. Die Börse mit all ihren Fühlfäden hat keinen krankhaften Pulsschlag wahr genommen und ihre Manöver fortgeführt, wie in sicherer Stille. Wahlerlaſſe und Proteſte, die Wahlen selber haben wol den stillen Frieden getrübt, doch nirgends ernste Besorgniß erregt; das Geld verschwindet noch nicht vom Markt. Den noch steht dieUeberzeugung fest auf allen Seiten, daß die neue Umformung des Ministeriums folgenschwer sein wird, nicht weniger als die frühere gewesen; Hoffnungen und Befürch tungen werden daran geknüpft, daß wir ein anderes, ſtatt eines 4 Ministerium? Ich meine viel. Leben und Bewegung, kräftige Leitung des naturgemäßen Fortschritts, energische Beseitigung unhaltbarer Zustände, muthiges Handeln, um Haltbares her beizuführen. Denn was heißt conservativ sein? Zeit und Kräfte ver geuden in der nach Gottes Rathschluß stets verlorenen Mühe Lebendiges unverändert zu erhalten? Und dieweil man hierbei zu nichts kommt, zerfallen laſſen, was hätte gehalten werden können, wenn man statt auf Unmögliches auf das Mögliche hätte sein Streben richten wollen? DietodteWelt kann unverändert Jahrhunderte überdauern. Alles Leben erheischt Wechsel; Pflanze und Thier änder·n sich in jedem Augenblick; der Geist des Menschen unterliegt ſteti gem.Wechsel so gut wie der Körper. Und wo eine. Mehrzahl vonMenschen fest verbunden und zusammengehalten ist, so daß ein Leben der Gesammtheit neben dem Leben der Einzelnen beginnt, da herrscht gleichfalls der Wechsel; das zeigt sich in Sprache und Recht. Ein Gesetz dieses Wechsels iſt, nie auf den altenFleck zurückzukehren: was gewesen ist, kann nicht zum andern Male wieder zu sein beginnen; aus dem Alten muß Neues, aus dem Neuen wiederum Neueres hervorgehen, und so weiter in endloser Verkettung. Wie bei der Zeit giebt es im Leben kein Halten und kein Zurückschrauben. Und doch wollen wir halten, erhalten, conſerviren. Das lebendigeWesen selber, nicht den Zustand, in dem es im Augen blicke sich befindet, nicht die Menge von Elementen, Theilen und Theilchen, die der zergliedernde Verſtand in demselben zu entdecken vermag. All diese Einzelheiten mögen früh oder spät untergehen, während das Ganze weiter und weiter sich ent wickelt und gedeiht. Nur die Pflege des Ganzen kümmert uns. Dieser Pflege ist eine doppelte Aufgabe gestellt: zu erhalten von den einzelnen Bestandtheilen, was noch erhaltbar und von 5 abzustoßen und dabei zu sorgen, daß es durch dem Ganzen ent sprechendes Neues rechtzeitig ersetzt werde. Für die Politik gilt keine andere Regel. Der Staats körper ist selber in fortwährender Aenderung begriffen, das Staatsleben ist ein Leben wie ein anderes. Eine vernünftige Regierung wird nicht glauben, Macht zu haben wider die Na tur, ſie wird die natürliche Zweiſeitigkeit ihrer Aufgabe nicht verleugnen wollen. Freilich, die Zeiten sind verschieden: Pe rioden der Stockung, wo von oben herab überwiegend zu trei ben ist, und wieder kann der Trieb zum Fortschritt bei den Regierten so mächtig werden, daß die Regierenden mehr zu halten haben. Aber hier wie da darf die Regierung nicht der Einseitigkeit verfallen, eingedenk wo sie selber auf Aenderungen dringt, daß doch noch mehr im Staate einstweilen unverändert bleiben muß, und wo sie den Fortschritt bindet und hemmt, daß der Fortschritt unentbehrlich ist, absoluter Stillſtand nur im Untergang zu finden wäre. Im complicirten Staatsmechanismus wird es Glieder ge ben, die blos einem Zweck, der Erhaltung des Vorhandenen oder der Herstellung des Neuen, zu dienen haben. Eben so darf man Einzelnen keinen Vorwurf machen, wenn sie ihrem Leben nur den einen Zweck sehen, zu halten oder zu tödten, vielleicht nur in Einer Richtung zu tödten. Sie können dies thun mit klarem Bewußtsein und gutem Gewissen, indem sie als Theile des Ganzen sich fühlen, nach dem Prinzip derThei lung der Arbeit. Was einem einzelneu Gliede des Staatskörpers zu thun freisteht, das darf die Regierung nicht in gleicher Weise, auch nicht eine Partei, die sich regierungsfähig halten will. Bezeich neten die Ausdrücke „conservativ“ und „Fortschritts-Partei“ politische Verbindungen, von denen jene ausschließlich auf das 6 mit anerkennungswerther Bescheidenheit darauf verzichtet haben, je die Regierung in die Hand zu nehmen und nach dem Par teiprogramm zu führen. So sind aber die Worte auch nicht gemeint. Nur daß jene mehr erhalten und also weniger fort schreiten, diese mehr fortschreiten und weniger conferviren wol len. Aber wie bestimmt sich hier das Mehr und das Weni ger? Und wie soll bei verschwimmenden Grenzlinien ein feſter Gegensaß gefunden werden? Giebt es keine andere Unterschei dung, so kann uns nicht wundern, Fortschrittsmänner als die eigentlich Conservativen auftreten zu sehen, und Conservative sich berühmen zu hören, ſie ſeien die wahren Fortschrittsmän ner. Der Ausdruck liberal" ist nicht minder elastisch, und ähnlicheWortgefechte haben auch zwischen „Conservativen“ und ,,Liberalen" oft genug schon stattgefunden. Beſfer wäre es, die Conservativen ließen den Gedanken ganz fallen, daß es ihre Aufgabe sei, mehr von bestehenden Einzelheiten zu erhalten, als andere wollen; Einseitigkeit iſt dabei nie zu vermeiden, und zwar eine sehr gefährliche. Wir wünschen, es solle vieles, recht sehr vieles bleiben, wie es iſt; also wollen wir gewiß selber nichts thun, das eine Aenderung herbeiführen könnte. Daraus reſultirt Aengstlichkeit und Un sicherheit beimHandeln, und bald vermeint man mit dem eige nen Nichtsthun zur Erhaltung des Bestehenden genug gethan zu haben. Mit der Unthätigkeit im allgemeinen Interesse ist ein zerfeßender Egoismus Geschwisterkind: „Gott für Alle, und Jeder für sich." Die Aufgabe, die jeder politischen Partei vorschweben muß, ist die Erhaltung des Staatsganzen, und die Förderung der naturgemäßen Entwickelung desselben durch die Parteithätig keit. Nur über die Frage, welche Entwickelung als naturge mäß anzunehmen und wie dieselbe zu fördern sei, kann unter ehrlichen Leuten Streit sein. Wir sind conservativ", d. h. 7 und nicht dadurch, daß wir selber Hände in Schoß legen. Freilich werden wir mit diesem Glaubensbekenntniß ein aus schließliches Anrecht auf den Namen der Conservativen uns auchkaum gewinnen können: was würde es schaden, das fremde schlecht bezeichnende Wort mit einem beſſeren zu vertauſchen? „Königliche Partei" ist vor Mißverſtändniß sicherer. - Uebri gens mag uns wenig kümmern, wenn der einmal beliebte Sprachgebrauch auch dem bessern sobald nicht weicht. Nichts dawider, wenn man mir vorwirft, Trivialitäten hier auf denMarkt zu bringen, das sei alte an der Heerstraße zu findendeWeisheit, daß „conſervativ handeln“ nicht identisch ſei-mit „nicht handeln“, und daß man ſtets nur Conſervirbares und nicht die Nothwendigkeit des Verfalls in sich Tragendes zu conferviren trachten müßte, die Anwendung auf die Politik ergäbe sich von selber. Auch alten Wahrheiten geschieht es, verleugnet zu werden mit Worten und durch die That. Und wo dies derFall, da trifft den, der solche Trivialitäten wieder und wieder predigt, vielen zum Ueberdruß, doch wol die min dere Schuld. War das Miniſterium Brandenburg-Manteuffel ein con servatives im ächten Sinne des Worts? Bei seinem ersten Auftreten gewiß. Allen Respect vor Muth, Hingebung, That kraft, Mäßigung der Männer, die Preußen aus ganz unpreu ßischen Zuständen herausgeriſſen. Siehabendann bald allerlei gethan, worüber sich streiten läßt. Fehlgriffe und Frrungen im Einzelnen sind von Menschen überall nicht zu vermeiden; doch tritt in den ersten Jahren unverkennbar der gute Wille hervor, Zustände zu schaffen, die Dauerhaftigkeit besäßen und derWiederkehr eines so ekelhaften Schmaroßertreibens wie das sich im Jahre 1848 entwickelt hatte, widerstrebten. Der weis tere Fortgang aber entsprach dem glänzenden Anfang wenig; 8 Verhältnisse, wie sieim Jahre 1855 lagen, find uns allen wol noch im Gedächtniß. Das Ministerium hatte Zeit gehabt, aus homogenen Elementen sich zusammenzusetzen; die einzelnen Mi 整 " nister waren lange genug im Amt, um neben der genauen. Kenntniß ihres Ressorts auch die allgemeinen Staatsverhält nisse richtig würdigen zu können; das Herrenhaus konnte einer gefunden Entwickelung der inneren Politik nicht zuwider ſein; das Abgeordnetenhaus, nach den Wahlen von 1855, war wei + ches Wachs in der Hand des Ministeriums; im ganzen Lande gab es keine Potenz, die einem kräftigenHandeln der Minister • hätte Schranken seßen dürfen; auch war die allgemeine Stim mung, nachdem die friedliche Haltung in dem orientalischen Kriege über Erwarten glücklich behauptet worden, keine dem Miniſterium entschieden feindselige. Das Ministerium war, wie felten ein anderes, in der Lage, thun zu können, was zu · thun war. Und zu thun war viel; ich will nicht von der aus wärtigen und von der deutschen Politik reden, für welche das Ministerium zu allen Zeiten nur mäßiges Geschick bewiesen, bloß von inneren preußischen Verhältnissen; daß diese in völlig unfertiger, unhaltbarer Gestalt von dem Miniſterium Man teuffel in die Hand seiner Nachfolger gekommen sind, darüber ist jetzt wol Niemand im Zweifel. Dieselbe unfertige, der Ent ( wickelung bedürftige Gestalt hatten diese Verhältnisse auch im Jahre 1855. Den Miniſtern mußte die Unfertigkeit bekannt sein, wenn ſie des ſtaatsmännischen Blickes nicht ermangelten; aber während der folgenden drei oder doch zwei Jahre, wo sie nochHerren der Situation waren, haben sie nichts gethan, um fertige und feſte Verfaſſungszustände zu schaffen. Und doch glaubten wir damals noch immer, ein conservatives Miniſterium zu baben. 9 ist, was von dem Ministerium in den späteren Jahren gethan worden, als conservativ zu vertreten; aber auch mit Unrecht, denn die Leiter der conservativen Partei haben in den meisten Fällen den Miniſtern ihre Unterstützung geliehen, zum Thun wie zum Nichtsthun, und die Partei hat sich einfach leiten las sen. Und seitdem die Conservativen in die Opposition gewor fen sind, was haben wir da Großes gethan?: Die drei Wahl akte lassen unsere gegenwärtige Stellung nicht eben als eine glänzende erscheinen; wir geboten schön 1858 nur über eine kleine Minorität und haben ersichtlich seitdem noch Boden verloren. Die Gründe dieser Erscheinung hat man oft außer halb gesucht, fie liegen zum größeren Theil in uns. Wir sagen uns los von dem Miniſterium Manteufel, und ahmen ihm nach in seinen Fehlern. Thätig sind wir ge wesen wie die Minister, nur für den Augenblick. Stehen die Wahlen vor der Thüre, so werben und wühlen wir, wie wir es eben können, mit Geſchick und mit Ungeſchick, und versuchen uns in allerlei Allianzen, die oft sonderbar ausschauen. Uebri gens aber sind wir eigentlich unthätig; darum besonders, weil uns größere Zielpunkte für unser Streben fehlen. Zweierlei haben wir. Einmal die ganz nahen und ganz kleinen Zwecke, daß wir den Schulzen Wittstock und den Bübner.Wagner oder den Bäcker Müller und den Schuster Schulze für uns gewinnen, seineStimme dem zu geben, der als Wahlmann mit uns gehen wird. Dann haben wir einige allgemeine Ideen, die an sich vortrefflich sind, eben so ächt deutsch überschwänglich ideal, daß sie kaum zu couranten übersichtlichen Postulaten sich ausmünzen laſſen, und bevor dies geschehen, für die praktischePolitik völlig werthlos sind. Das find die Rielpunkte unferes Bormärt&ſtrohen&. Im ührigen 10 Denn dann läge die Möglichkeit Erfolge zu erringen, unserem jezigen Standpunkt näher als ich sie sehe. Aber ich glaube kaum zu dunkel zu malen, und bin durchdrungen davon, daß wo es zu handeln gilt, nichts gefährlicher ist als eine Schlaf kappe gefuttert mit optimiſtiſchen Illuſionen. Und Jlluſion iſt es, daß die Lage der conservativen Partei im Augenblick eine befriedigende sei; Illusion, daß sie ohne ihre Schuld in die Lage gekommen. So zweifellos es sein mag, daß die Partei, welche wir als die conservative bezeichnen, stets für das Königthum ſtrei ten wird, so haben doch die lezten Jahre uns genugsam be lehrt, daß es Zeiten geben kann, wo die Krone keineswegs ge willt ist, diese Partei als die eigentlich Königliche gelten zu lassen. Das ist begreiflich und erklärlich, so lange die conser vative Partei über die Zwecke, welche sie verfolgt, sich nicht deutlich ausspricht; oder falls die ausgesprochene Tendenz eine so einseitige wäre, daß sie von einer vernünftigen Regierung nicht verfolgt werden dürfte. Die conservative Partei hat aber auch im Lande die Ma jorität nicht für sich. Man sehe auf die Wahlen und auf die Zeitungen mit den Zahlen ihrer Abonnenten. Nun bin ich völlig überzeugt, daß unsere Partei bei gesetzmäßiger Hand habung der Verfassung sehr wohl das Regiment führen kann, ohne die Majorität des Volks für sich zu haben, aber sie kann dies doch nur, wenn sie offen ausspricht, daßsie derMajorität nicht bedarf, und eben so offen, wie sie ohne und wider die Majorität verfassungsmäßig regieren will. Bisher ist keines von beiden gesagt, im Gegentheil, wir haben uns angestellt, als ob wir ernstlich dächten bei freien verfaſſungsmäßigen Wahlen nächstens einmal die Majorität für uns erlangen zu