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Zeitmaße in der Urgeschichte: 221. Sitzung am 20. April 1977 in Düsseldorf PDF

46 Pages·1978·1.387 MB·German
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Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften Geisteswissenschaften Vorträge· G 224 Herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften KARL ].NARR Zeitmaße in der Urgeschichte Westdeutscher Verlag 221. Sitzung am 20. April 1977 in Düsseldorf CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Narr. Kar! J. Zeitmaße in der Urgeschichte. - I. Auf). - Opladen: Westdeutscher Verlag, 1978. (Vorträge I Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften: Geisteswiss.; G 224) ISBN 978-3-663-01821-6 ISBN 978-3-663-01820-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-01820-9 © 1978 by Westdeutscher Verlag GmbH Opladen Gesamtherstellung : Westdeutscher Verlag GmbH Durch die Urgeschichtsforschung ist der Zeitraum, in dem wir die Anwesen heit des Menschen durch Spuren seiner Tätigkeit feststellen können, gewaltig erweitert worden - mag man diesem Zeitraum nun die Bezeichnung "Ge schichte" zubilligen oder nicht. Dabei war und ist diese Ausweitung ein stetig fortschreitender und langwieriger Prozeß, der wahrscheinlich auch heute noch nicht seinen Abschluß erreicht hat. Er wird weitgehend bestimmt von Schwierigkeiten und Hemmungen äußerer wie innerer Art, von dem anfäng lichen wissenschaftlichen Unvermögen, die Zeitmaße einigermaßen festzu legen, ebenso wie von der Scheu vor dem gewaltigen Schritt ins scheinbar oder wirklich Ungewisse, den man zu tun hat. In den letzten Jahrzehnten sind brauchbare naturwissenschaftliche Möglichkeiten der Zeitbestimmung ent wickelt worden!, die unsere Vorstellungen erneut revidiert haben; aber das beträchtliche zeitliche Zurückschreiten ist nicht etwa nur solchen prinzipiell neuartigen Datierungsverfahren zu danken, sondern einer Reihe von Ent deckungen jeweils immer älterer Funde. Wir sind heute - die manchen viel leicht schockierende Feststellung mag am Anfang stehen - bei mehr als zwei, wahrscheinlich mehr als zweieinhalb Millionen Jahren angelangt2 und müssen nach der Gesamtsituation damit rechnen, noch nicht einmal das Klteste erfaßt zu haben3• 1 Auswahl weiterführender Literatur: J. W. MICHELS, Dating Methods in Archaeology. New York/San Francisco/London 1973; W. W. BISHOP U. J. A. MILLER (Ed.), Cali bration of Hominoid Evolution. Edinburgh 1972. 2 Für die bisher ältesten Funde, die von Koobi Fora (KBS) östlich des RudoH-Sees (jetzt: Turkana-See) in Kenia, weisen die Datierungen zwar noch erhebliche Schwankungs breiten auf, doch spricht am meisten für ein Alter von 2,4-2,6 Mill. Jahren: Y. Cop PENS, F. C. HOWELL, G. LL. IsAAC u. R. F. E. LEAKEY (Ed.), Earliest Man and En vironments in the Lake Rudolf Basin. Chicago 1976. 3 Abgesehen davon, daß damit immer zu rechnen ist, reichen Fossilien, die wahrschein lich das gleiche »anatomische Substrat" repräsentieren, noch weiter zurück, zumal (wenn auch noch sehr fragmentarisch) im unterem Omo-Becken nördlich des RudoH-Sees (Äthiopien): K. W. BUTZER, The Lower Omo Basin: Geology, Fauna and Hominids of Plio-Pleistocene Formations (Naturwissenschaften 58. 1971, 7-16); F. C. HOWELL U. Y. COPPENS, An Overview of Hominidae from the Omo-Succession, Ethiopia, in Cop PENS et al. a. a. O. (= Anm.2), 522-532; wohl »etwas" älter als Koobi Fora (KBS) die Funde von Hadar beim Oberlauf des Awasch (Äthiopien): D. C. JOHANSON U. M. TAIEB, 6 Karl J.Narr I Ein solch gewaltiger Zeitraum bedarf natürlich der Einteilung und Glie derung. Als allgemein bekannt kann wohl das sogenannte "Dreiperioden system" angesehen werden, d. h. die Folge von "Steinzeit", "Bronzezeit" und "Eisenzeit", das freilich nur für einen begrenzten Erdraum - Europa und einige Nachbargebiete - anwendbar ist. Bekannt ist im allgemeinen auch zumindest die Unterscheidung von älterer Steinzeit und jüngerer Steinzeit, von "Paläolithikum" und "Neolithikum", wobei zu beachten ist, daß mit der Einfügung - richtiger: der Anfügung - des Paläolithikums dem ursprüng lichen "Dreiperiodensystem" ein weiterer Abschnitt von unvergleichlich längerer Dauer vorangestellt wurde. Die Folge Steinzeit - Bronzezeit - Eisenzeit wurde nämlich in Dänemark herausgearbeitet, bald in Schweden akzeptiert und dann auf andere Gebiete übertragen4, doch umfaßte die "Steinzeit" in diesem System im wesentlichen nur das, was wir heute als Jüngere Steinzeit oder Neolithikum bezeichnen. Ganz anders in Frankreich, wo man wenig später in den tiefen Schottern der Somme und anderer Flüsse, dann auch in Höhlenablagerungen usw. die Zeugnisse einer - wie man zunächst formulierte - vorsintflutlichen Existenz des Menschen anhand der von ihm geschaffenen Werkzeuge nachwies ("Age de la pierre tail!ee" ), die in der Tat sehr viel älter sind als die "Steinzeit" des sog. "Skandinavischen Systems" (in Frankreich: "Age de la pierre polie" l. Besondere Umstände haben es mit sich gebracht, daß diese Kenntnisse zu nächst vornehmlich in England zusammenflossen, wo John Lubbock (der spätere Lord Avebury) für eine erste große Synthese die Ausdrücke "Paläo lithikum" und "Neolithikum" geprägt hat. Mit dem "Paläolithikum" wollte er - das betont er ausdrücklich - dem Dreiperiodensystem eine weitere Plio-Pleistocene Hominid Discoveries in Hadar, Ethiopia (Nature 260. 1976, 293-297) u. J. L. ARONSON, T. J. SCHMITT, R. C. WALTER, M. TAIEB, J. J. TIERCELIN, J. D. JOHAN SON, C. W. NAESER u. A. E. M. NAIRN, New Geochronologic and Palaeomagnetic Data for the Hominid-Bearing Hadar Formation of Ethiopia (Nature 267. 1977,323-327). , Vgl. G. E. DANIEL, A Hundred Years of Archaeology. Edinburgh 1950. - Ob es gleim zeitig und unabhängig aum in Deutsmland konzipiert wurde, ist ein müßiger Prioritäten streit, weil Aufstellungs- und Publikationsdaten differieren, so daß frühere Kenntnis nahme möglim ist, im übrigen aber das ganze damals aum "in der Luft gelegen haben" dürfte und das "System" jedenfalls nimt als solches von deutsmen Forsmern eindeutig formuliert wurde (bei einem Teil sogar auf heftigen Widerstand stieß): H. GUMMEL, Forschungsgeschichte in Deutschland (Die Urgesmimtsforsmung und ihre historisme Entwicklung in den Kulturstaaten der Erde [Hg. v. K. H. JAcoB-FRIEsEN] 1) Berlin 1938; J. BERANEK, Johann Friedrich Danneil: Seine Verdienste um die Heimat- und Ur geschichtsforschung in der Altmark (Wissensm. Beitr. d. Martin-Luther-Univ. Halle Wittenberg 1969/7) Halle (Saale) 1969. 6 A. LAMING-EMPERAIRE, Origines de l'archeologie prehistorique en France. Paris 1964. Zeitmaße in der Urgeschichte 7 Epoche voranstellen und so zu einem System von Vler Perioden gel an gen6• Der Oberbegriff "Steinzeit" hat das weithin in Vergessenheit geraten lassen, obwohl es mehr ist als eine Außerlichkeit. Es spiegeln sich darin viel mehr zwei Wurzeln der Urgeschichtsforschung, zwei verschiedene Ansatz punkte und Forschungsrichtungen: zum einen das Suchen nach den "vater ländischen Altertümern", das genährt wurde vom Patriotismus und dem Nationalgefühl, zum anderen die Suche nach der vorsintflutlichen Mensch heit, deren Erfolg nicht denkbar wäre ohne den Durchbruch der Entwick lungslehre7• Die Klammer durch das Wort "Steinzeit" darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese beiden Grundrichtungen auch heute noch in der Urgeschichtsforschung wirksam sind und diese - so kann man übertreibend und vereinfachend wohl sagen - immer noch nicht zu einer wirklichen Einheit zusammengewachsen ist; vielmehr stehen hinter der gewiß vorhandenen und notwendigen praktischen Arbeitsteilung weiterhin diese beiden Wurzeln. Für das hier zu behandelnde Thema hat das unter anderem die Folge - die schreckliche Vereinfachung sei ausnahmsweise gestattet -, daß ein Teil der Prähistoriker sich mit verhältnismäßig kurzen Perioden befaßt und eher nach einer "Historisierung" seines Stoffes strebt, während ein anderer es mit den für manchen erschreckenden besonders großen Zeiträumen zu tun hat und sich eher anthropologischen Aspekten (in einem weiteren Sinne, d. h. nicht beschränkt auf die physische Anthropologie) zuwenden wird. Die unterschiedlichen Perioden der Urgeschichte oder Vorgeschichte - das kann wenigstens im Prinzip heute ebenfalls als allgemein bekannt voraus gesetzt werden - sind ja keineswegs gleich lang, sondern von sehr verschiede ner Dauer. Das gleiche gilt für die weitere Untergliederung der Steinzeit, bei der man zwischen die jüngere und ältere Steinzeit noch eine mittlere Steinzeit eingeschoben8 und die ältere Steinzeit in drei - heute denkt man auch schon an vier - große Abschnitte eingeteilt hat9• Wollte man das Ganze maßstabgerecht auf einer Zeittafel darstellen und 6 J. LUBBOCK, Prehistoric Times, as Illustrated by Ancient Remains and the Manners and Customs 0/ Modern Savages. London 1865. 7 Vgl. K. J. NARR, Tendenzen in der Urgeschichtsforschung (Grenz/ragen [Hg. v. N. Luy TEN] 4) München 1974, 85-147. 8 Erstmals in diesem Sinne anscheinend A. BROWN 1892 (vgl. DANIEL a. a. O. 128) u. J. DE MORGAN, Les premieres civilisations. Paris 1903. - Zum zuvor anderen Gebrauch und zum Schicksal dieses unglücklichen Terminus vgl. H. DE LUMLEY, ,Mesolithique', in: F. BOURDIER (rd.), Lexique stratigraphique internationale. Europe, Fasc.4b (France, Belgique, Pays-Bas, Luxembourg). Paris o. J. [ca. 1964] 54. 9 Unglückliche Bezeichnung des ältesten Abschnitts als "Frühpaläolithikum" bei R. GRAH MANN u. H. MÜLLER-BECK, Urgeschichte der Menschheit. Stuttgart 31967; vgl. dazu Germania 51.1973,185 (NARR). 00 ~~ ~';-< Z ~ ::: n e »:;:::; <t> ~ <t> Cf) ..... <t> 5' N <t> ;::t: -""0 Q) W: 0 ;:::+' :T' ~c -3 pentin r e S n e n ei f u a este einzeit e einzeit ere einzeit ere einzeit ückblick FrühAltst FrühAltst MittlAltst JüngAltst ein R e wi eit Z r e d s e g n a G es d g n u ell st r a D n: e d o ri e chen Peträgt. hr. chtlire b v. 000 e urgeschiJah000 00 r 20 1 deg u s Z Einfache Jäger Sammlerkulturen und (Wildbeuter) Entfaltete Jäger m ~ und Sammlerkulturen Ackerbau-und Vieh ~ zuchtkulturen Stadt-und Hoch Kulturen 1: Zeitliches Verhältniweg, bei dem jeder _ l1il111ji Abb. Zeitmaße in der Urgeschichte 9 dabei der Bronzezeit einen Zentimeter zubilligen, so bräuchte man insgesamt einen Streifen Papier von 25 Metern Länge. Man kann sich zur Veranschau lichung auch verschiedener Tricks bedienen, z. B. der Projektion auf ein Zwälfstunden-Zifferblatt, bei der die Zeit seit Christi Geburt etwas weniger oder etwas mehr als etwa eine Minute ausmacht, oder durch die Darstellung nach Art des Rückblicks auf einen Serpentinenweg, bei dem in der hier ge wählten Form (Abb. 1) jeder Serpentinenzug 20 000 Jahre darstellt und der Beginn des Weges sich undeutlich in der weiten (eher immer noch zu »nah" erscheinenden1o) Ferne verliert, - was gleichzeitig als Symbol für den For schungsstand gewertet werden kann. Wollten wir bei der Gliederung nach dem Gesichtspunkt jeweils neu auf tretender und wichtiger Materialien und Techniken bleiben, wäre der Schnitt zu Anfang des Neolithikums etwa zu markieren durch das Auftreten von Keramik und merklicher Bedeutung des Steinschliffs; weiter zurück hätten wir die Grenze zwischen Mittelpaläolithikum und Jungpaläolithikum zu kennzeichnen durch die stärkere Verwendung von Knochen, Geweih und '? Stein Knochen usw. Keramik Bronze Eisen 2 Millionen Jahre 1 Million Jahre Abb.2: Auftreten wichtiger Materialien in der Urgeschichte: Versuch einer Darstellung nach Art eines Koordinatensystems, bei dem für das Auftreten dieser Materialien schematisch jeweils gleiche Abschnitte gewählt werden. 10 Bei der ersten Anlage dieser Graphik (1968) wurde, dem damaligen Forschungsstand ent sprechend, von> 1,5 Mill. Jahren Gesamtdauer ausgegangen, doch wäre eine Korrektur nur möglich gewesen entweder bei einer Zumessung von 30000 oder 40000 Jahren an jeden Serpentinenzug, was die jüngeren Perioden zu undeutlich zusammengedrängt hätte, oder bei einer wieder ein Buchformat sprengenden Verlängerung des Ganzen. - Original: K. J. NARR, Kulturleistungen des frühen Menschen, in: G. ALTNER (Hg.), Kreatur Mensch. München 1969, 39 (auch dtv-Taschenbuchausgabe München 1973, zw. 64 u. 65). 10 Karl J. Narr Elfenbein, und davor bliebe dann für uns erkennbar nur der zurechtgeschla gene Stein. Tragen wir dies auf eine Art Koordinatensystem einll, zeigen sich deutlich - oder vielmehr für die jüngeren Perioden bis zur Undeutlichkeit zusammengeschoben - die unterschiedlichen Zeitmaße (Abb.2). Natürlich kann man dagegen sofort zweierlei einwenden: Zum einen wird ja etwas im Grunde Unmögliches getan, wenn man derart qualitative Schritte als gleiche Quantitäten darstellt, wobei es aber zunächst einmal um der Veranschau lichung willen bleiben mag; zum anderen jedoch ist zu bezweifeln, daß man damit Merkmale wirklich entscheidender Natur gewählt hat und nicht eher solche mehr äußerlicher Art, wie das in den Anfängen der Forschung ange bracht und nicht anders möglich war. Inzwischen aber müssen wir - nicht zuletzt für die Beurteilung unterschiedlicher Zeitmaße - fordern, daß für die E pochenmarken Wandlungen und Erscheinungen von entsprechendem Rang verwendet werden. 11 Zunächst aber stellt sich für dje Urgeschichte insgesamt die Frage nach ihrem Anfang schlechthin. Verstehen wir Urgeschichte als den ältesten Teil der Menschheitsgeschichte, läßt sich die Festlegung des Beginns zunächst scheinbar einfach formulieren: Er ist dort anzusetzen, wo der Mensch erst mals in Erscheinung tritt. Indes bedarf es wohl kaum besonderer Erörterun gen darüber, daß man sich auf solche Art leicht im Kreise drehen kann und daß außerdem gleich wieder ein ganzes Bündel von weiteren Problemen in dem Stichwort "Anfang der Menschheit" steckt. Nur eines davon mag hier als Anknüpfungs- und Ausgangspunkt dienen: Wenn wir die Entwicklungs lehre und die Einbeziehung des Menschen in die Evolution ernst nehmen, wo sollen wir dann noch in einem gleitenden übergang den Menschen in seinen Anfängen erkennen? Aus der kritischen Zeitspanne, in der wir nach der ältesten Menschheit suchen, kennen wir heute eine Fülle von aussagefähigen Skeletteilen, die gleichwohl nicht mehr ohne weiteres eine Aussage darüber zulassen, ob wir es dabei mit Menschen zu tun haben oder nicht12• Gewiß kann man sich auf 11 Um des Formates und der Lesbarkeit willen um 90° gedreht. 12 übersichten bieten: J. PIVETEAU, Primates, Paleontologie Humaine (Traite de Paleonto logie 7) Paris 1957; G. HEBERER, Fossilgeschichte der Hominoidea, in: H. HOFER, A. H. SCRULTZ u. G. STARCK (Hg.), Primatologia 1. Basel u. New York 1956, 464-550; G. HEBERER (Hg.), Die Evolution der Organismen. Stuttgart 21959; W. E. LE GROS CLARK, History 0/ the Primates: An lntroduction to the Study 0/ Fossil Man. Chicago 51966; D. PILBEAM, The Ascent 0/ Man: An lntroduction to Human Evolution. New York u. London 1972. - Zu neueren Funden vg!. oben Anm. 1-3 u. verschied. Beiträge in: PR. V. TOBlAS u. Y. COPPENS (Ed.), Les plus anciens hominides (Union Internat. Sc. Prehist. et Protohist. IX Congr., Col!. VI - Pretirage) Nizza 1976.

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