Volker Kronenberg (Hrsg.) Zeitgeschichte,Wissenschaft und Politik Volker Kronenberg (Hrsg.) Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik Der „Historikerstreit“– 20 Jahre danach Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. . 1.Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VSVerlag für Sozialwissenschaften | GWVFachverlage GmbH,Wiesbaden 2008 Lektorat:Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werkeinschließlichallerseiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspei- cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen,Handelsnamen,Warenbezeichnungen usw.in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16120-4 Inhalt Vorwort Volker Kronenberg Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik: Der „Historikerstreit“ – 20 Jahre danach ..................................................... 7 I. Ernst Nolte und der „Historikerstreit“ Marc-Pierre Möll Historische Existenz und politische Ordnung – Zum Totalitarismusverständnis Ernst Noltes ............................................ 12 Pierluca Azzaro Augusto Del Noce, Ernst Nolte und der „Historikerstreit“ ....................... 27 Stéphane Courtois Das Werk von Ernst Nolte und das intellektuelle Klima in Frankreich .............................................................................................. 51 Enzo Traverso Der neue Antikommunismus. Nolte, Furet und Courtois interpretieren die Geschichte des 20. Jahrhunderts ................................... 67 6 Inhalt II. Der „Historikerstreit“ und das bundesrepublikanische Selbstverständnis Ulrich Herbert Der „Historikerstreit“ – Politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte ....................................................................................................... 92 Eckhard Jesse „Historikerstreit“ und Patriotismus – Politische Kultur im Wandel ....... 109 Volker Kronenberg „Verfassungspatriotismus“ – Zur Rezeption eines Begriffs im Lichte des „Historikerstreits“ ............................................................................... 123 Lazaros Miliopoulos Die Frage der Westbindung Deutschlands im so genannten „Historikerstreit“ – Das Verhältnis des Habermasschen Westverständnisses zu seiner Theorie kommunikativer Rationalität ...................................... 136 III. Die politische Deutungs- und Streitkultur im Lichte des „Historikerstreits“ Friedrich Pohlmann Der deutsche „Historikerstreit“ im Wandel des Zeitgeistes ..................... 154 Brigitte Seebacher Der Streit und seine Zeit ........................................................................... 171 Manfred Funke „Historikerstreit“ – Anregung zum Gedankenaustausch .......................... 188 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ........................................................ 203 Vorwort Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik: Der „Historikerstreit“ – 20 Jahre danach Die Verwunderung wäre groß, sehr groß. Zumindest bei all jenen Beobachtern der politischen Kultur in Deutschland, die heute, 20 Jahre nach der publizisti- schen Großkontroverse namens „Historikerstreit“, das erste Mal wieder einen Blick auf die Bundesrepublik werfen würden. Viel ist in der Zwischenzeit geschehen. Sowohl im politischen als auch im kulturellen Bereich. Sinnfälliges Zeichen: Aus der „Bonner“ ist inzwischen die „Berliner Republik“ (vgl. Baring 1999) geworden. Das, was zu Bonner Zeiten noch von größter Bedeutsamkeit schien, nimmt heute einen zum Teil ganz ande- ren, oftmals nachgeordneten Stellenwert ein. Anderes wiederum, was zu Bonner Zeiten noch undenkbar schien, ist heute, wenn nicht selbstverständlich, so doch möglich: Seien es, politisch, Auslandseinsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Bündnisgebietes, sei es, in Distanz zu den Vereinigten Staaten, ein von Rot-Grün proklamierter und beschrittener „deutscher Weg“ – „selbstverständlich und normal“ (vgl. Bahr 2003) –, oder sei es kulturell, jene durch Günter Grass, Jörg Friedrich und andere initiierte „Opfer-Debatte“ über das Leiden deutscher Zivilisten am Ende des Zweiten Weltkriegs. Wenn Günter Grass es rückblickend als ein „bodenloses Versäumnis“ (zitiert nach Fuhr 2005: S. 67) der Intellektuel- len bezeichnet, die Leidensgeschichte vieler Deutscher am Ende des Kriegs un- terschlagen zu haben und wenn auch in Teilen der 68er-Generation die Bereit- schaft „zu milderem Urteil, ja zur Revision“ wächst (Frei 2005), dann, so meinte Eckhard Fuhr jüngst, müssten 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, womöglich die „alten Geschichten neu erzählt werden“ (Fuhr 2005: S. 57). Norbert Frei wiederum konstatiert – „noch unausgegoren, aber unübersehbar“ (Ders. 2005: S. 363) – ein neues Geschichtsgefühl in Deutschland, mancher Intellektuelle entwi- ckelt gar ein neues, ein positives „Deutschlandgefühl“ (Mohr 2005). Droht nun, da die strikte Einteilung in Täter und Opfer angeblich nur noch im „deutschen Hausmärchen“ funktioniere, wie Günter Franzen (2003) spitz bemerkt, ein „Schlussstrich mit links“ (Jörges 2004)? „Historikerstreit reloaded“ (Jesse 2006) also – nunmehr unter verkehrten Vorzeichen? Nein. Niemand hat heute, da die „Kehrseiten“ (Winkler 1996) des geradezu „hysterisch“ (Geiss 1992) ausgetra- genen Streits offen zu Tage liegen, Interesse an einer neuerlichen Auseinander- setzung, in der die Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik derart unfruchtbar miteinander vermengt wurden, wie damals, im Vorfeld der friedlichen Revoluti- on jenseits von Mauer und Stacheldraht. 8 Volker Kronenberg Zwei Jahre lang, 1986 und 1987, wurde unter „geschichtspolitischen Vor- zeichen“ entlang der Frage nach der „Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung“ über die Zulässigkeit eines Vergleichs von „brauner und roter Diktatur“ (vgl. Funke 1988), über „Nolte“ und die „Totalitarismustheorie“, über die „Westbindung“, den „Verfassungspatriotismus“ bzw. ganz grundsätzlich über die historisch-kulturellen Fundamente der Bundesrepublik Deutschland gestritten. Mit der Tendenz, die Ebene der sachlichen Erörterung zu verlassen und stattdessen kollegiale Schelte bzw. mediale Verunglimpfung zu betreiben, was in der Etikettierung Andreas Hillgrubers als „konstitutionellem Nazi“ (Augstein 1991: S. 198) bzw. – im Nachhall – Ernst Noltes als „trübe“, „veräch- tliche Figur“ (Reich-Ranicki 1999: S. 545) der deutschen Zeitgeschichte gipfelte. Die Sorge um „die Hegemonie der linksliberalen Öffentlichkeit“, von Hans- Ulrich Wehler (2006: S. 200) jüngst als zentrales Antriebsmoment des „Histori- kerstreits“ unumwunden benannt, hatte manchen der damals am Streit Beteilig- ten weit über das Ziel eines seriösen Ringens um Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik hinausschießen lassen. Weiter noch als in nachfolgenden „ge- schichtspolitischen“ Kontroversen wie jener um Goldhagen und „Hitlers willige Vollstrecker“, um die „Wehrmachtsausstellung“ oder um Martin Walsers Frie- denspreisrede. Der „Historikerstreit“ markiert im Vergleich zu diesen Kontrover- sen einen Tiefpunkt in jenem intellektuellen Ringen, das sich bis heute und auch künftig mit einer Vergangenheit verbindet, „die nicht vergeht“ (Nolte 1991), weil sie konstitutiver Bestandteil des historischen Bewusstseins der Bundesre- publik Deutschland (Kronenberg 2006) ist. Ein intellektuelles Ringen, das gleichwohl – als Lehre aus dem „fruchtlosen, bitteren“ (Stölzl 2008) „Historiker- streit“ – diszipliniert und jenseits von „geschichtspolitischen“ Motivlagen oder gar kulturellen Hegemoniebestrebungen weitergehen muss. Einen bescheidenen Impuls dazu will der vorliegende Sammelband leisten, der wissenschaftlich- publizistische Beiträge vereint, die multiperspektivisch, teils mehr fragend als antwortend, teils pointiert und doch immer wieder argumentativ abwägend, ent- weder den „Historikerstreit“ als Ganzes oder wesentliche Aspekte desselben in den Blick nehmen. Beiträge, die keinen Zweifel daran lassen, dass „Zeitge- schichte als Streitgeschichte“ (Jessen/Sabrow/Grosse Kracht 2003) sich zwang- läufig einer verbindlichen, konsensuellen Interpretation in Wissenschaft und Politik entzieht und die doch, dem Ethos einer freiheitlichen Republik entspre- chend, niemals zu einem „Tabu“ des Fragens, Nachdenkens, Vergleichens und Interpretierens, gar zu einer „intellektuellen Sperrzone“ werden darf (Flaig 2007). Kein Zweifel: Am leidenschaftlichsten wurde im „Historikerstreit“ mit bzw. über Ernst Nolte gestritten, der – noch immer oder nun wieder – jüngst zu einem der zehn wichtigsten deutschen Historiker erklärt wurde (Stölzl 2008). Wie stark Vorwort 9 sich an Noltes Geschichtsdenken selbst im Abstand von 20 Jahren die Geister zu scheiden vermögen, zeigen die Beiträge von Möll, Azzaro, Courtois und Traver- so, die in einem ersten Abschnitt „Ernst Nolte und der Historikerstreit“ zusam- mengefasst sind. Während Marc-Pierre Möll das Totalitarismusverständnis Ernst Noltes einer eingehenden Analyse unterwirft, widmet sich Pierluca Azzaro der Nolte-Rezeption in Italien, vor allem entlang des katholischen Philosophen Au- gusto Del Noce. Wendet sich Stéphane Courtois, der Hauptherausgeber des „Schwarzbuchs des Kommunismus“ (Courtois u.a. 1998), in seinem Beitrag der Nolte-Rezeption in Frankreich zu und bettet diese in eine Analyse des dortigen intellektuellen Klimas ein, so setzt Enzo Traverso dem mit seiner Betrachtung eines „neuen Antikommunismus“ in den Werken Noltes, Furets und Courtois einen prononcierten Kontrapunkt entgegen. Unter der Rubrik „Der Historikerstreit und das bundesrepublikanische Selbstverständnis“ nimmt Ulrich Herbert die politischen, wissenschaftlichen und biographischen Aspekte der Kontroverse in den Blick, während sich Eckhard Jesse und Volker Kronenberg in ihren Beiträgen dem Patriotismus-Diskurs im Lichte des „Historikerstreits“ zuwenden. Lazaros Miliopoulos wiederum widmet sich in seinem Beitrag dem Begriff der „Westbindung“ und untersucht das Ver- hältnis des Habermasschen Westverständnisses zu Habermas’ Theorie kommu- nikativer Rationalität. Drei stärker essayistisch gehaltene Betrachtungen der politischen Deutungs- und Streitkultur während und infolge des „Historiker- streits“ aus der Perspektive des Soziologen Friedrich Pohlmann, der Historikerin Brigitte Seebacher und des Politikwissenschaftlers Manfred Funke runden den Band ab. Dem Beck Verlag (München) sei für die Abdruckgenehmigung des Beitrags von Ulrich Herbert aus dem Band „Zeitgeschichte als Streitgeschichte“ (Beck Reihe, Band 1544) gedankt. Der Neue ISP Verlag (Karlsruhe) hat dankenswerterweise dem Abdruck des Beitrags von Enzo Traverso zugestimmt. Dem Verlag Duncker & Humblot (Berlin) sei für die Abdruckgenehmigung des Beitrags von Eckhard Jesse aus dem Band „Deutsche Identität“ (2008) gedankt. Der Erich und Erna Kronauer-Stiftung (Schweinfurt) gilt ein besonderer Dank für die finanzielle Unterstützung des vorliegenden Bandes. Schlussendlich danke ich meinen stu- dentischen Mitarbeitern, voran Christoph Weckenbrock und Philipp Lerch, für ihre tatkräftige und umsichtige redaktionelle Unterstützung des Projekts. Volker Kronenberg 10 Volker Kronenberg Literaturverzeichnis: Augstein, Rudolf, 1991: Die neue Ausschwitz-Lüge, in: „Historikerstreit“. Die Dokumen- tation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenver- nichtung, 8. Aufl., München. Bahr, Egon, 2003: Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal, München. Baring, Arnulf, 1999: Die Berliner Republik. Erwartungen und Herausforderungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 32-33, S. 9-15. Courtois, Stéphane u.a. (Hrsg.), 1998: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrü- ckung, Verbrechen und Terror, München. Flaig, Egon, 2007: Das Unvergleichliche, hier wird’s Vergleich. Reflexion über die mora- lisch erzwungene Verdummung, in: Merkur Nr. 10. Franzen, Günter, 2003: Links, wo kein Herz ist. Über einen gefühlsarmen Konsens des Gedenkens, in: Der Spiegel Nr. 44. Frei, Norbert, 2005: 1945 und wir. Wie aus Tätern Opfer werden, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3, S. 356-364. Fuhr, Eckhard, 2005: Wo wir uns finden: Die Berliner Republik als Vaterland, Berlin. Funke, Manfred, 1988: Braune und rote Diktatur – zwei Seiten einer Medaille?: Histori- kerstreit und Totalitarismustheorie, in: Landeszentrale für politische Bildung Nord- rhein-Westfalen (Hrsg.): Streitfall Deutsche Geschichte. Geschichte und Gegen- wartsbewusstsein in den 80er Jahren, Essen, S. 161-170. Geiss, Imanuel, 1992: Der Hysterikerstreit. Ein unpolemischer Essay, Bonn. Jesse, Eckhard, 2006: Historikerstreit reloaded, in: Cicero Nr. 10. Jessen, Ralph/Sabrow, Martin/Grosse Kracht, Klaus (Hrsg.), 2003: Zeitgeschichte als Streitgeschichte, München. Jörges, Hans-Ulrich, 2004: Schlussstrich mit links, in: Stern Nr. 46. Kronenberg, Volker, 2006: Patriotismus und politische Kultur. Eine deutsche Debatte – 20 Jahre nach dem Historikerstreit, in: Berliner Republik 1, S. 66-75. Mohr, Reinhard, 2005: Das Deutschlandgefühl. Eine Heimatkunde, Reinbek bei Ham- burg. Nolte, Ernst, 1991: Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte, in: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, 8. Aufl., München. Reich-Ranicki, Marcel, 1999: Mein Leben, Stuttgart. Stölzl, Christoph, 2008: Unsere Vergangenheitsdeuter, in: Cicero Nr. 1. Wehler, Hans-Ulrich, 2006: Eine lebhafte Kampfsituation. Ein Gespräch mit Manfred Hettling und Cornelius Torp, München. Winkler, Heinrich August, 1996: Kehrseitenbesichtigung. Zehn Jahre danach: Ein Rück- blick auf den deutschen Historikerstreit, in: Frankfurter Rundschau vom 29. Okto- ber. Kapitel I Ernst Nolte und der „Historikerstreit“