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Zeit muß enden. Roman. PDF

375 Pages·1955·1.56 MB·German
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ALDOUS HUXLEY ZEIT MUSS ENDEN ROMAN DEUTSCHE BUCH-GEMEINSCHAFT BERLIN UND DARMSTADT Die Originalausgabe erschien 1945 im Verlag Chatto & Windus, London, unter dem Titel TIME MUST HAVE A STOP Übersetzung von HERBERTH E. HERLITSCHKA Lizenzausgabe. Copyright by Aldous Hu und H. E. Herlitschka Gesamtherstellung: A. Seydel Druck und Buchbinderei G.m.b.H., Berlin Printed in Germany 1955 Doch Denken ist des Lebens Sklav, das Leben Der Narr der Zeit; und Zeit, die messend schaut Die ganze Welt, muß enden. SHAKESPEARE 1. KAPITEL Sebastian Barnack kam aus dem Lesesaal der Bezirks- bücherei von Hampstead und blieb im Vestibül stehn, um seinen abgetragenen Mantel anzuziehn. Mrs. Ockham, die ihn da erblickte, fühlte ein Schwert im Herzen. Dieses schmächtige und wunderschöne Menschenkind mit dem seraphischen Gesicht und dem blaßblonden Lockenhaar war das lebende Abbild ihres eignen, ihres einzigen, ihres toten und entschwundenen Lieblings. Die Lippen des Buben, so gewahrte sie, bewegten sich, während er sich in seinen Mantel mühte. Sprach mit sich selbst — ganz wie ihr Frankie das immer getan hatte. Und nun wandte er sich dem Ausgang zu und kam an der Bank vorüber, auf der sie saß. “So ein rauher Abend!” sagte sie laut, einem jähen Im- puls folgend, dieses lebende Phantom zurückzuhalten, die schmerzend scharfe Erinnerung tiefer in ihr wundes Herz zu bohren. Aus seinen Gedanken gerissen, blieb Sebastian stehn, wandte sich ihr zu und starrte sie ein paar Sekunden ver- ständnislos an. Dann ging ihm die Bedeutung dieses sehn- süchtig mütterlichen Lächelns auf. Sein Blick wurde hart. So etwas geschah ihm nicht zum erstenmal. Sie behandelte ihn, als wäre er eins dieser entzückenden Kindchen in Kinderwagen, denen man den Kopf tätschelt. Der Funze wollte er's zeigen! Aber wie gewöhnlich fehlte es ihm an der nötigen Courage und Geistesgegenwart. Und so lächelte er nur schwächlich und sagte einfach, ja, es sei ein rauher Abend. Mrs. Ockham hatte mittlerweile ihr Handtäschchen ge- öffnet und einen kleinen weißen Karton hervorgezogen. “Möchten Sie nicht eine von mesen?” Sie hielt ihm den Karton hin. Es war französische Scho- kolade, Frankies Lieblingsmarke — ihre eigne auch, übri- gens. Mrs. Ockham hatte eine Schwäche für Süßigkeiten. Sebastian betrachtete sie ungewiß. Ihre Aussprache war einwandfrei und ihre Kleidung auf etwas saloppe, tweedige Art solid und von guter Qualität. Aber sie war dick und ältlich — mindestens vierzig, schätzte er. Er zögerte, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, diese lästige Person in die Schranken zu weisen, und einem nicht weniger starken Verlangen nach diesen köstlichen langues de chat. Wie ein Mops, sagte er sich, während er in dieses plumpe, weiche Gesicht da vor sich blickte. Ein rosiger, haarloser Mops mit schlechtem Teint. Worauf er das Gefühl hatte, daß er nun eine Katzenzunge annehmen könne, ohne seiner Integrität etwas zu vergeben. “Danke”, sagte er und schenkte ihr sein bezauberndes Lächeln, das Damen mittleren Alters immer ganz unwider- stehlich fanden. Siebzehn Jahre alt zu sein, einen Geist zu besitzen, von dem man fühlte, daß er alterslos erwachsen war, und dabei anzusehen wie ein Della-Robbia-Engel von dreizehn — es war ein widersinniges und erniedrigendes Schicksal. Aber letzte Weihnachten hatte er Nietzsche gelesen, und seither wußte er, daß er sein Schicksal lieben müsse. Amor fati — aber gemäßigt durch gesunden Zynismus. Wenn Leute bereit waren, einen dafür zu bezahlen, daß man jünger aussah, als man war, warum ihnen nicht geben, was sie wollten? “Wie gut die sind!” Wieder lächelte er sie an, und seine Mundwinkel waren braun von Schokolade. Das Schwert in Mrs. Ockhams Her- zen machte abermals eine schmerzhafte Umdrehung. “Nehmen Sie den ganzen Karton!” sagte sie. Ihre Stimme zitterte, ihre Augen glänzten von Tränen. “Nein, nein, das könnte ich nicht ...” »Nehmen Sie ihn”, beharrte sie, “nehmen Sie ihn doch!” Und sie drückte ihm den Karton in die Hand — in Frankies Hand. “Oh .. danke schön!” Es war genau, was Sebastian ge- hofft, ja erwartet hatte. Er hatte seine Erfahrungen ge- macht mit diesen sentimentalen alten Schachteln. “Ich habe einen Buben gehabt ...”, sagte Mrs. Ockham mit gebrochener Stimme. “Ganz so wie Sie war er. Die glei- chen Haare und Augen ...” Die Tränen flössen ihr über die Wangen herunter. Sie nahm die Brille ab und wischte die Gläser; dann schneuzte sie sich, erhob sich und eilte in den Lesesaal. Sebastian stand und sah ihr nach, bis sie seinem Blick entschwunden war. Mit einmal fühlte er sich schrecklich schuldig und gemein. Er blickte auf den Karton in seiner Hand. Ein Bub war gestorben, so daß nun er, Sebastian, diese Katzenzungen bekam; und wenn seine eigene Mutter am Leben wäre, wäre sie jetzt fast so alt wie diese armselige bebrillte Person. Und wenn er gestorben wäre, wäre seine Mutter genauso unglücklich und sentimental gewesen. Im- pulsiv machte er eine Bewegung, um die Schokolade weg- zuwerfen; dann hielt er sich zurück. Nein, das wäre einfach dumm und abergläubisch. Er ließ den Karton in seine Man- teltasche gleiten und trat in das nebelige Zwielicht hinaus. “Millionen und Millionen”, flüsterte er vor sich hin; und die Ungeheuerlichkeit des Jammers schien mit jeder Wie- derholung des Wortes zu wachsen. Überall auf der Welt lagen Millionen von Menschen in Schmerzen; Millionen star- ben in diesem selben Augenblick; noch mehr Millionen trau- erten um sie, die Gesichter verzerrt wie das dieser armen alten Person, und die Tränen rannen ihnen über die Wan- gen. Und Millionen hungerten, Millionen waren einge- schüchtert und krank und bekümmert. Millionen wurden beschimpft und gestoßen und geschlagen von andern, bru- talen Millionen. Und überall der Gestank von Abfall und Fusel und ungewaschenen Körpern, auf allem der Mehltau der Dummheit und Häßlichkeit. Der Greuel war stets da, auch wenn man sich zufällig wohl und glücklich fühlte, — stets da, gleich um die Ecke und hinter fast jeder Haustür. Während er die Straße hinabging, fühlte sich Sebastian von einer Ungeheuern unpersönlichen Traurigkeit über- kommen. Nichts andres mehr schien Dasein zu haben oder von Bedeutung zu sein als nur Tod und Qual. Und dann kamen ihm diese Worte von Keats in Erinne- rung: “The giant agony of the world!” Die Riesenqual der Welt. Er wühlte in seinem Gedächtnis, um die andern Zei- len zu finden. “None may usurp this height...” Wie ging es nur? None may usurp this height, returned that shade, But those to whom the miseries of the world Are misery, and will not let them rest... Wie recht der Schatten hatte! Nur denen war die höchste Höhe erreichbar, die das Elend der Welt elend machte und nicht ruhen ließ. Und vielleicht war es Keats eines kalten Frühlingsabends eingefallen, als er, genau so wie jetzt er selbst, die Anhöhe von Hampstead hinabging; hier hinab- ging und bisweilen stehnblieb, um ein Bröcklein seiner Lungen herauszuhusten und an seinen und auch an den Tod andrer Menschen zu denken. Sebastian begann abermals und sagte es sich vor. None may usurp this height, returned that shade, But those ... Aber, du gütiger Himmel, wie grauenhaft schlecht es klang, wenn man es laut sprach! None may usurp this height, returned that shade, but those ... Wie hatte er sich nur so etwas durchgehn lassen können! Aber natürlich war der gute Keats manchmal recht nachlässig gewesen. Und ein Genie zu sein, hatte ihn nicht vor den fürchterlich- sten Geschmacklosigkeiten bewahrt. Es standen Sachen in Endymion, die einen schaudern machten. Und wenn man bedachte, daß es ein Äquivalent für Griechisch sein sollte ... Sebastian lächelte mit mitleidiger Ironie in sich hinein. Eines Tags würde er der Welt zeigen, was sich mit grie- chischer Mythologie tun ließ! Mittlerweile kehrte sein Geist zu den Wendungen zurück, die ihm grade vorhin in der Bibliothek eingefallen waren, während er dieses Buch von Tarn über die hellenistische Kultur las. “Vergiß der trocke- nen Feigen!”, so sollte es beginnen. “Vergiß der trocke- nen Feigen ...” Aber getrocknete Feigen konnten immer- hin gute Feigen sein. Für Sklaven gäbe es nie etwas andres als die Mißfrüchte und den Abfall der Ernte. Also: “Ver- giß der fauligen Feigen.” Überdies hatte in dieser Klang- verbindung “faulig” den passenderen Vokal und ergab Alliteration. Vergiß der fauligen Feigen, des muffigen Mehls, Der Sklavenpeitsche, der Greise voll Todesfurcht ... Aber das war scheußlich flach. Dampfgewalzt und maka- damisiert wie schlechter Wordsworth. Wie wär's mit “vom Sterben geschreckt”? Vergiß der fauligen Feigen, der Trebern und Prügel, Der Greise, vom Sterben geschreckt, der Frauen ... Er zögerte, fragte sich, wie dieses trostlose Leben des Gynaikeions zusammenfassen. Dann sprang aus dem ge- heimnisvollen Quell von Licht und Energie hinten in sei- nem Schädel die vollkommene Phrase hervor: “ ... Frauen in Zwingern.” Sebastian lächelte über das Bild, das da auftauchte,— ein ganzer Zoo wilder, undomestizierbarer Mädchen, eine ohrenbetäubende Voliere adeliger Witwen. Aber die ge- hörten in ein andres Gedicht — ein Gedicht, mit dem er Rache nehmen würde an dem ganzen weiblichen Geschlecht. Im Augenblick hatte er sich mit Hellas zu befassen — mit der historischen Jämmerlichkeit, die Griechenland war, und mit der imaginären Herrlichkeit. Imaginär selbstverständ- lich nur, was ein ganzes Volk betraf, aber gewiß verwirk- lichbar von einzelnen, von einem Dichter vor allen. Eines Tags, irgendwie, irgendwo, würde diese Herrlichkeit in seiner Reichweite sein; davon war Sebastian überzeugt. In- zwischen aber war es wichtig, keinen Narren aus sich zu machen. Die Leidenschaftlichkeit seiner Sehnsucht müßte im Ausdruck durch eine gewisse Ironie gemildert werden, die Pracht des ersehnten Ideals durch die Würze des Ab- surden. Den toten Buben und die Riesenqual der Welt völlig vergessend, gönnte er sich eine Katzenzunge aus dem Vorrat in seiner Manteltasche und nahm mit vollem Mund die berauschende Arbeit des Dichtens wieder auf. Vergiß der fauligen Feigen, der Trebern und Prügel, Der Greise, vom Sterben geschreckt, der Frauen in Zwingern. Das genügt fürs Geschichtliche. Nun zum Imaginären! In ewigem Frühling ... Er schüttelte den Kopf. “Ewiger Frühling”, das klang wie der Schulleiter, wenn er in einem dieser asininen Geo- graphievorträge, die er hielt, vom Klima Ekuadors redete. “Chronischer Mai” bot sich als Alternative. Die Assozia- tionen mit Katarrh und Krampfadern entzückten ihn. In chronischem Mai welche Alkibiadesse Umdrängen Piatos Bart... Pfui Teufel! Dies war nicht der Ort für Eigennamen. “Muskelprotze” vielleicht? Dann fiel wie Manna “Schwer- gewichtler” vom Himmel. Ja, ja: “Welch schöngeistge Schwergewichtler.” Er lachte laut auf. Und wenn man “Weisheit” für “Plato” setzte, erhielt man: In chronischem Juni welch schöngeistge Schwergewichtler Umdrängen den Bart der Weisheit! Genießerisch wiederholte sich Sebastian die Worte ein paarmal. Und nun zum andern Geschlecht! Horch, ganz nah, Dies Klimpern und Flöten! Stirnrunzelnd vor sich hin starrend, ging er weiter. Diese einherspringenden Bacchen, diese praxiteleischen Brüste und Popos, diese Tänzerinnen auf den Vasen — wie höllisch schwierig, irgendeinen Sinn aus ihnen herauszuholen! Kom- pression und Expression. Quetsche alle diese wollüstigen Visionen zu einem Klumpen und dabei ein Likörglas voll Wörtersaft aus ihnen heraus, zugleich herb zusammenzie- hend und süß zu Kopf steigend, zugleich ein Adstringens und ein Aphrodisiakum! Leichter gesagt als getan. Endlich begannen sich seine Lippen zu bewegen. “Horch”, murmelte er wiederum. Horch, ganz nah, Dies Klimpern und Flöten! Voraus, hinterdrein, Kreisel nach Kreisel, welch globische Elastoplastik Entfinstert, letzte Schleier gelöst, ihre Monde! Er seufzte und schüttelte den Kopf. Noch nicht ganz rich- tig; aber immerhin, vorläufig müßte es genügen. Und in- zwischen war hier schon die Ecke. Sollte er geradenwegs heimgehn oder den Umweg über Bantry Place machen, Susan abholen und sie das neue Gedicht hören lassen? Se- bastian zögerte einen Augenblick, entschied sich dann für das zweite und wandte sich nach rechts. Er fühlte sich in der Stimmung für ein Publikum und Applaus. ... welch globische Elastoplastik Entfinstert, letzte Schleier gelöst, ihre Monde! Aber vielleicht geriete das Ganze zu kurz. Es wäre viel- leicht notwendig, noch drei oder vier Zeilen einzuschieben zwischen diese globische Elastoplastik und eine abschlie- ßende brillante Explosion bengalischer Lichter. Irgend et- was über den Parthenon, zum Beispiel. Oder vielleicht wäre etwas über Äschylos amüsanter. Tragisch auf Stelzen, Sublimitäten brüllend Durch ein verzerrtes Mundloch ...

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