Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.) Zeit fiir Veranderungen Zur Bedeutung des Zeitfaktors bei geplanten Veranderungen im staatlichen Schulsystem Mit Beitragen von Volker Briese, Hans-Dieter Haller, Uwe Hameyer und Wilhelm Heitmeyer Eine Verbffentlichung des FEoLL, Paderborn Leske Verlag + Budrich GmbH, Opladen 1982 CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Zeit fUr Veriinderungen : zur Bedeutung d. Zeit faktors bei geplanten Veriinderungen im staat!. Schulsystem ; e. Vertiff. d. FEoLL, Paderborn / Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.). Mit Beitr. von Volker Briese ... - Opladen : Leske und Budrich, 1982. ISBN-13: 978-3-8lO0-04lO-9 e-ISBN-13: 978-3-322-84185-8 DOl: 1O .l 007/978-3-322-84185-8 NE: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.); Briese, Volker (Mitverf.); Forschungs-und Entwicklungszentrum fUr Objektivierte Lehr-und Lemverfahren (Paderborn) @ 1982 Leske Verlag + Budrich GmbH, Opladen Softcover reprint of the hardcover 1st edition 1982 Inhaltsverzeichnis Vorwort 3 Wilhelm Heitmeyer Einleitung: Zeit und geplante Veranderungen 5 Volker Briese Die Zeitperspektive bei der Implementation bildungs 9 politi scher MaBnahmen 1. Die Bestimmung des verwendeten Implementations 9 begriffes 2. "Politische" und "padagogische" Zeit 13 3. Ursachen fOr die Knappheit "politischer" Zeit: 17 Staat und kapitalistische 5konomie 4. Konsequenzen fOr die Implementation bildungs- 27 politischer MaBnahmen 5. Partizipation und Implementation 29 6. SchluBbemerkung 30 7. Literatur 31 Wilhelm Heitmeyer Folgen unterbewerteter Formbestimmtheit von Ver 32 anderungsversuchen im staatlichen Schul system 1. Einleitung 32 2. Auspragungen des Implementationsbegriffes 37 3. Formbestimmtheit des "missing link" 46 4. Skizze einer typischen Verlaufsform auf poli 52 tischer und administrativer Ebene 5. Verlaufsform im Zusammenhang mit Curriculum 55 arbeit und Bildungsadministration: Einmaliger "Machtwechsel"? 6. Stichworte zu einem verschwiegenen Interessen 61 gleichlauf 7. Dilemmata im VermittlungsprozeB 69 8. Literatur 76 Uwe Hameyer Die Ordnung der Zeit in den Erwartungen an die 79 Curriculumforschung 1. Zeit und Wissenschaftsentwicklung 80 2. Erwartungen an die Wissenschaft 87 3. Erwartungen als Ausdruck von Zeitordnungs 91 schemata 3.1 Erwartungen an die Curriculumforschung in der 95 Take-off-Phase (Prospektiverwartungen) 3.2 Erwartungen wahrend der Elaborationsphase der 110 Curriculumforschung 3.3 Post-Ex-Facto-Kritik an der Curriculumforschung 118 als Ausdruck zeitspezifischer Erwartungen und Bedeutungsurteile (Retrospektiverwartungen) 4. Zusammenfassender Uberblick 127 5. Anhang 132 6. Literatur 148 Hans-Dieter Haller Die Bedeutung des Zeitfaktors fur die Veranderung 156 des Lehrerverhaltens durch Curriculumentwicklung 1. Implementation als Interaktion zwischen Produzenten 156 und Rezipienten 2. Rezeptionsanalysen als Beitrag zur Erhellung des 160 Synthesevorgangs bei Lehrpersonen 3. Zeit als Bedingungsfaktor im BildungsprozeB 167 4. Die Bedeutung des Zeitfaktors im ProzeB der 171 Curriculumentwicklung und -implementation 4.1 Makro-Innovationszeit 171 4.2 Mikro-Innovationszeit 172 4.3 Individuelle Innovationszeit 173 4.4 Der 'Time-lag' aufgrund der Entwicklungszeit 174 4.5 Einarbeitungszeit zur intentionsgerechten 175 Aneignung der Innovation 4.6 Curriculumimmanente Realisationszeit 175 4.7 Fazit 176 5. Einzelne MaBnahmen zur Implementation des 177 Curriculum "Kinder und ihre naturliche Umwelt" 6. Literatur 183 135 Anhang: Die Autoren 2 vorwort Das yom Land Nordrhein-Westfalen gegrUndete und getragene "For schungs- und Entwicklungszentrum fUr objektivierte Lehr- und Lern verfahren" (FEoLL) ist in mindestens zweifacher Weise mit dem Fak tor "Zeit" im Bildungswesen besonders verbunden. Zum einen kann die GrUndung des FEoLL an der Wende von den 60er zu den 70er Jahren als Ausweis einer fUr Reformvorstellungen und -versuche im Bildungswe sen besonders gUnstigen Zeit angesehen werden. Zum anderen sollte durch die GrUndung die wechselseitige EinfluBzeit zwischen wissen schaftlich-technischer sowie sozialwissenschaftlicher Entwicklung und dem Bildungswesen, zwischen Reformerfordernissen und Reform prozessen, zwischen ReformmaBnahmen und ihrer Wirkungsfeststellung verklirzt werden. Aufgrund dieser doppelten Beziehung zum Faktor "Zeit" konnen die in diesem Band vorgelegten Analysen zur Bedeu tung der Zeit bei geplanten Veranderungen im staatlichen Bildungs wesen auch als Folie fUr die Reflektion der Wirkungsbedingungen, der Wirkungen und der Fehlwirkungen von Institutionen wie dem FEoLL angesehen werden. Den Beitragen dieses Bandes unterliegt ein gesellschaftliches Grundverstandnis, daB es ein entscheidendes Merkmal demokratischer Organisationen ist, zu jeder Zeit Verbesserungen fUr "an der Zeit" zu halten. Zu dieser Auffassung bekennen sich - zumindest deklama torisch - auch die politischen Entscheidungstrager und die Bil dungsadministration. Jedoch kommt es in der Praxis von Reformbe mlihungen zum staatlichen Schulsystem haufig zu Friktionen, die nicht zuletzt durch unterschiedliche Interessen zum Faktor "Zeit" begrlindet sind oder durch unterschiedliche Instrumentalisierungen des Zeitfaktors in Erscheinung treten. Indem solche differierenden Interessen und die ihnen zugeordneten BemUhungen und Praktiken herausgearbeitet werden, leisten die Au toren einen wichtigen Beitrag zur Erhohung von Realisierungschancen fUr ReformbemUhungen im Bildungswesen. Das gilt auch dann, wenn nicht jeder Leser den Ergebnissen der engagierten Analysen in jedem Punkt zuzustimmen vermag. Prof. Dr. W. Hagemann Leiter des FEoLL-Instituts fUr Medienverbund-Medien didaktik 3 Wilhelm Heitmeyer Einleitung: Zeit und geplante Veranderungen Dem "Zeitfaktor" wird in der wissenschaftlichen Diskussion eine merkwtirdig widersprtichliche Gewichtung zuteil. Einerseits wird die Wichtigkeit hoch betont, andererseits wird ihm kaurn ausftihr liche wissenschaftliche Aufmerksamkeit gewidmet. Dies gilt zu mindest ftir den Bereich der Bildungsforschung und dort im spe ziellen zum gesarnten Bereich der sogenannten "Bildungsreform". Es bleibt bei knappen Hinweisen, ohne genauer zu klaren, was eigentlich an Bedeutungsvarianten darunter verstanden wird, und wie real und konkret die Aktionen und Reaktionen der Beteiligten davon bestirnrnt wurden und werden. Zurneist wird die Bedeutungsvariante der Zeitknappheit eingeftihrt: die enge politische Zeit zwischen vierjahrigen Wahlakten, die schon fast "nattirlichen" 45-Minuten-Zeittakte in den Schulen, tibervolle Terminkalender, die Verktirzung von Problementstehungs zeiten. Schon aus dieser Zusarnrnenstellung wird deutlich, daB "Zeit" nicht· nur als eine einfache Rechnungseinheit begriffen werden kann, sondern einen wichtigen politischen Kern enthalt: Politische oder bildungsreformerische Aktivitaten sind zu be stirnrnten Zeiten erfolgversprechend, wahrend sie zu "anderen" Zeiten auf ungtinstigere Umstande treffen k6nnen. Dies deutet darauf hin, daB der Zeitfaktor im Zusarnrnenhang mit anderen Hand lungsfaktoren gesehen werden muB, etwa wenn im Zusarnrnenhang mit den Rtickblicken zu Bildungsreformversuchen dar auf verwiesen wird, "daB man in zu kurzer Zeit zu viel auf einrnal gewollt habe". Andererseits wird aber auch argumentiert, daB gtinstige Zeiten ausgenutzt werden muBten, "urn Fakten zu schaffen". Dabei wech selten sich hinsichtlich des "gtinstigen" Zeitraums zwei unter schiedliche Einschatzungen abo Die eine besagte, daB eine lange Zeitspanne ftir Veranderungsprozesse offenstehen wtirde. Belege verschaffte sich diese Annahrne etwa mit darn Schlagwort "Mehr Demokratie wagen" und konnte dabei auf folgende Tatbestande verweisen (ohne Rticksicht zu nehrnen auf die uberlagerungen und 5 Verwerfungen von politischer Zeit und tatsachlichen BewuBtseins lagen in der Bevolkerung): o Offnung von Raumen flir politisches Engagement o Progressive Interpretation des Grundgesetzes o VertrauensvorschuB flir reformerische Aktivitaten o Hoffnung auf gesellschaftliche Veranderungen durch Bildung o Aktive Reformpolitiken. Die andere Annahme beflirchtete Zeitknappheit etwa unter Hinweis auf die Geschwindigkeit politischer, wissenschaftlicher und tech nologisc~er Umwalzungen, die sich dann auch bald im Schlagwort von dem "Ende der Fahnenstange" verdichteten und als Re5trik- t j.()nen einste] heen: o Verstarkung staatlicher Reglementierungen in Schule und Hochschule o Verschlechterung der okonomischen Situation im Bildungsbereich o Hinweis auf okonomische Zwange im Bildungsbereich o Einschrankung von Handlungsraumen durch Verrechtlichung o Technokratische Herrschaftssicherung statt Reformplanung o Unsichere Ausbildungs- und Berufsperspektiven o Anpassung oder "Ausflippen" o Restriktive Interpretation des Grundgesetzes o MiBtrauen gegen Sozialwissenschaften o Offentliche Abwertung des Reformbegriffes Fehleinschatzungen auf Seiten der "Bildungsreformer" liegen wohl in beiden Bereichen. Die Ersteren liberzogen das Verhaltnis von Zeit und Zielen, d.h. flir sie spielte Zeit keine Rolle, da sie euphorisch neue Zeiten von den Politikern avisiert bekamen. Sie ignorierten gewisser maBen den Zeitfaktor und muJ3ten spater urn so heftiger mit den Ent tauschungen und dem Abgebrochenen kampfen. Diejenigen, die frlih zeitig oder gar standig das "Ende der Fahnenstange" vor Augen sahen - und ins of ern vielleicht enttauschungsfester waren - ge rieten ebenfalls unter Zeitdruck und hinterlieBen Unfertiges und Halbfertiges. In beiden Fallen haben zeitliche Fehleinschatzungen, die sich am illustrativsten am Verhaltnis von Zielen und Zeit darstellen 6 lassen, dazu beigetragen, Reformansatze von vornherein zu diskre ditieren. Andererseits haben aber auch politische und administra tive Gremien daran mitgewirkt, genau diese Fehleinschatzungen mit den ganzen resignativen Folgeerscheinungen zu produzieren, urn sich vor allem mit den besonders weitreichenden Zielvorstel lungen zu schmticken, die selbst unter den gegebenen politischen und gesellschaftlichen Zeitzustanden (apokalyptische Prognosen beiseite gelassen) illusorisch waren. Wissenschaftler oder ganze Forschungsgruppen haben sich in vie len Fallen v61lig naiv in diesen ProzeB hineinziehen lassen, urn von Forschungs- und Ent wicklungsgeldern zu profitieren. Eine andere Variante politischer oder administrativer Taktik stellt sich tiber eingebaute (ver ordnete) Zeitknappheit als "gewollte" Planungsfehler ein, in denen der Zeitfaktor der Keirn zum Scheitern wurde. Ein solches Verhal ten laBt sich am ehesten an den (widerruflichen) Modellversuchen belegen und fuhrte dann als "Gegenreaktion" dazu, daB alles als "Erfolg" ausgegeben wurde. Deutlich geworden sind solche Prozesse u.a. auch in der Politi schen Bildung. Zu denken ware da insbesondere an die Hessischen Rahmenrichtlinien fur Gesellschaftslehre oder an die nordrhein westfalischen Richtlinien fur den Politischen Unterricht. Die eigenen Arbeiten in diesem Bereich haben die Anst6Be zur speziellen Frage nach der Bedeutung des Zeitfaktors bei ge planten Veranderungen im staatlichen Schulsystem geliefert. Die vier Beitrage dieses Bandes setzen auf unterschiedliche Ebenen an: Volker Briese geht von gesamtgesellschaftlichen Aspekten aus und untersucht den Faktor "Zeit" im Rahmen bildungspolitischer MaBnahmen. Auf das Verhaltnis von Curriculumentwicklung und burokratisch uberformten Schul system gehe ich im zweiten Beitrag ein. Der Beitrag von Uwe Hameyer zeigt Entwicklungen in der Curriculumforschung auf. 7 H.-D. Haller analysiert den Zusammenhang zwischen Verwissen schaftlichung von Unterrichtskonzepten und Lehrerverhalten an einem Curriculumentwicklungsbeispiel. Die Intentionen dieser Beitrage gehen allesamt dahin, verstarkte Aufmerksamkeit auf die Prozesse und Aufgaben zu lenken, die ab seits der groBen reputationstrachtigen Programmatiken liegen, die aber wohl weit mehr als bisher angenommen das bestimmen, was letztlich an geplantem Wandel Ubrigbleibt. 8 Volker Briese Die Zeitperspektive bei der Implementation bildungspolitischer MaBnahmen 1. Bestimmung des verwendeten Implementationsbegriffes Nachdem Renate Mayntz (1977, 51 - 6~) noch von einem neuen Forschungsgebiet sprechen konnte, in sozialwissenschaftlichen Fachworterblichern das Wort 'Implementation' in Deutschland vor 1978 vergeblich gesucht wird, auch die Dokumentation des Infor mationszentrums Sozialwissenschaften liber Forschungsarbeiten in den Sozialwissenschaften dieses Stichwort erst im Band von 1978 aufflihrt, kann man in der letzten Zeit fast von einer (allerdings schon wieder abflauenden) Inflation der Verwendung des Wortes sprechen. Implementationsforschung ist "in". Anders ausgedrlickt: Unter der Flagge der Implementationsforschung glauben viele Forschungsprojekte gut segeln zu konnen, wobei man in einigen Fallen den Eindruck hat, daB zu diesem Etikett gegriffen wird, urn schon alteren Forschungszweigen ein modernes Image zu verpas sen. Andert sich die Mode so kann leicht ein neues Etikett liber geklebt werden. Bezeichnend flir diese Neuetikettierung sind einerseits die im Forschungsverbund der deutschen Forschungsge meinschaft vereinigten Projekte, von denen wohl vergeblich eine Implementationstheorie erwartet wird, allein schon deshalb weil es wohl die eine Implementationstheorie nicht geben kann, oder aber auch die Beitrage (sie stammen zum Teil aus den gleichen Zusammenhangen) im Sonderband der Zeitschrift "Leviathan", die vor wenigen Jahren liberwiegend noch als lokale Politikforschung oder "Politikverflechtung" firmierten. So kommt es, daB der Begriff "Implementation" eine ungeheure Breite erhalt, zum Beispiel in einer Studie des "Wissenschaftli chen Zentrums flir Berufs- und Hochschulforschung" der Gesamthoch schule Kassel zur Implementation von Hochschulreformvorstellungen (von der Idee bis zur Realisierung), Fallstudie: Gesamthochschule in der Bundesrepublik. Oder er wird extrem eng gefaBt und nur 9