Heidrun Abromeit Wozu braucht man Demokratie? Heidrun Abromeit Wozu braucht man Demokratie? Die postnationale Herausforderung der Demokratietheorie Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2002 Gedruckt auf säurefreiem und altersbeständigem Papier. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufahme ISBN 978-3-8100-3350-5 ISBN 978-3-663-11894-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-11894-7 © 2002 Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 2002 Das Werk einschließlich aIler seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung au ßerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages un zulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrover filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhaltsverzeichnis vorwort.................................................................................................. 7 Einführung............................................................................................. 9 I. Das Demokratiedefizit: Bestandsaufnahme einer europäischen Debatte. ........................ 15 1. Input- versus output-Legitimierung........................................... 15 2. Wege zur Behebung des Demokratiedefizits............................. 19 a. Parlamentarisierung .............................................................. 21 b. Post-Parlamentarismus.......................................................... 30 c. Deliberative Gremien ............................................................ 33 d. Ein ,demokratischer Funktionalismus' ................................. 40 e. Warum nicht ,direkt' ... ?....................................................... 48 3. Die Defizite der Debatte ............................................................ 54 11. Ein Theoriedefizit? Demokratietheoretischer Rück-und Überblick .......... ............... 61 1. Leerstellen und ungelöste Fragen ........ ................ ...................... 61 2. Was ist Demokratie?.................................................................. 68 a. Definitionsprobleme .... ........................... ....... ............ ........... 68 b. Die Antwort(en) der liberalen Klassiker ............................... 72 c. Die Geschichte der Demokratietheorie als Geschichte des Zweifels ................................................................................ 81 d. Die Antwort der ,empirischen' Demokratietheorie .............. 89 e. Die Antwort der ,deliberativen' Demokratietheorie ............. 100 3. Ungelöste Fragen und unbestimmte Antworten ........................ 112 a. Die Frage nach dem Zweck .................................................. 113 b. Welchen Demos braucht die Demokratie? ............................ 115 c. Das Individuum und seine Autonomie.................................. 122 d. Die Tücken der Repräsentation............................................. 131 5 e. Mehrheitsregel und Minderheitenrecht..... ......... .... ......... ...... 141 f. Wann sind politische Entscheidungen legitim? ... ... ......... ..... 146 g. Partizipation und Prozedur.................................................... 150 4. Demokratie, Staat und Grenze: ein vorläufiges Fazit ................ 154 III. Ein neuer Minimalismus..... .......... ......... ....... .... ... ... .... ... .... ..... ... ... 163 1. Zweck und Maß von Demokratie .............................................. 163 a. Was ist wesentlich? Ein minimalistisches Konzept........ ... ... 164 b. Zur Relevanz des Kontexts ................................................... 168 c. Zurück zum Prozeduralismus.......... ............. ........ .... ......... .... 173 d. Exkurs: Nutzen und Risiken direkter Demokratie ................ 177 e. Ein Maß für Demokratie ...... ...... ....... ............... .... ... ......... ..... 190 2. Anwendungsfall "Demokratisierung der Europäischen Union" 194 Fazit ....................................................................................................... 205 Literaturverzeichnis ... ........ ........ ...... .......... ........... ........ ...... ...... ........ ..... 207 6 Vorwort Some people are in ecstasy About the true democracy. But on ce you look dose They c1early expose: It' s nothing but hypocrisy. Die Verantwortung ist eindeutig zuzuordnen: Meine Mitarbeiter sind schuld, daß ich dieses Buch geschrieben habe - an Stelle eines anderen, ursprünglich geplanten. Sie haben mich nicht nur überredet, sondern mir vielfältig gehol fen, mich in der Vorbereitung unterstützt, mir bei einigen Kapiteln zugear beitet. Vielleicht haben sie mich zu wenig kritisiert (Thomas ausgenom men!). Ihr Versuch allerdings, mich zu einer Umstrukturierung zu bewegen, scheiterte an meiner Hartnäckigkeit. So ist auch die Verantwortung für die Schwächen des Buches eindeutig zurechenbar: nämlich mir selbst. Mein Dank gilt also zuvörderst: Tobias Auberger, Uwe Heinisch, Tanja Hitzel-Cassagnes, Simone Ruppertz-Rausch, Christina Sianides, Thomas Schmidt und Sebastian Wolf. Auch einigen Kollegen verdanke ich (mehr oder weniger kritische) hilf reiche Kommentare und eine Reihe wertvoller Anregungen, nämlich Beate Kohler-Koch, Rainer Schmalz-Bruns und Klaus Dieter Wolf. Und natürlich muß ich mich bei Moritz bedanken. Er hat unter meiner Arbeit am meisten gelitten; und ohne die langen Spaziergänge mit ihm wäre ich auf keinen einzigen guten Gedanken gekommen. Darmstadt, Dezember 2001. H. Abromeit 7 Einführung I. Es gibt mindestens 1000 Bücher über die Demokratie; warum nun das 1001. schreiben? An Büchern über die Demokratie in Europa herrscht ebensowenig Mangel; im Gegenteil: Seit Mitte der 90er Jahre muß man hier geradezu von einer Schwemme sprechen. Kaum ein politikwissenschaftlicher Autor, der auf sich hält, der nicht seinen Beitrag zur europäischen Demokratiedebatte leisten zu müssen glaubt. Da in dieser Debatte aber scheinbar schon längst alles Wesentliche gesagt ist, lesen die Beiträge sich inzwischen unvermeid lich arg redundant. Und schließlich ist auch die Kombination von demokra tietheoretischem Gründeln und Anwendung auf den europäischen Fall als solche nicht neu, ungewohnt oder gar überraschend. Warum also dieses Buch? Nehmen wir die Europa-Debatte als Aus gangspunkt: Sie bleibt unbefriedigend - ja bleibt selbst so defizitär wie nach verbreiteter Auffassung das europäische ,Regieren' im Hinblick auf demo kratische Standards - , weil die Beiträge auf die entscheidende Frage nach der Möglichkeit supranationaler oder auch ,postnationaler' Demokratie na hezu ausnahmslos keine überzeugende Antwort parat haben. Die Debatte scheint sich totzulaufen und droht in allgemeiner Resignation zu versanden, weil die verschiedenen Versuche, eine Lösung des Problems zu finden, an immer dieselben theoretischen Grenzen stoßen. Was offenbar nottut in dieser Situation, ist es, eben diese theoretischen Grenzen zu problematisieren und ggf. aufzubrechen. Das wiederum geht wohl nur, indem man sich vom demo kratietheoretischen mainstream und von der Verhaftung an bestimmte demo kratietheoretische Schulmeinungen löst und sich bemüht, einen quasi unbe fangenen Blick auf den Kern und vor allem auf den Zweck von Demokratie zurückzugewinnen. Auf die Frage nämlich "why is democracy desirable anyway?" (Dahl 1998: 4) liefern uns Rousseau, Kant, Madison oder Mill im konkreten Hier und Heute nur noch bedingt die passende Antwort. Die gän gigen demokratietheoretischen Schulen dagegen, die sich auf diese (und andere) Klassiker stützen, liefern zumeist gar keine Antwort mehr, da sie die Frage für längst geklärt halten. So kann denn als demokratisch erscheinen, was an der Erfüllung des eigentlichen Zwecks demokratischer Veranstaltung weit vorbeigeht. 9 Die Frage nach dem ,Warum' des 1001. Buches über die Demokratie ist damit im Ansatz schon beantwortet. Ursprünglich sollte nur eine Art Be standsaufnahme entstehen: ein Bericht über den ,state of the art', der zusam menfaßt - und kritisiert -, wie die europäische Disziplin Politikwissenschaft mit dem europäischen Demokratiedefizit umgeht (v gl. schon Abromeit 2001a). Doch zunehmend drängte sich die Ratlosigkeit der Disziplin als ei gener Gegenstand der Untersuchung in den Vordergrund. Nun geht es also in zumindest gleichem Maße um das ,Elend der Demokratietheorie' angesichts des Phänomens transnationalen-supranationalen-postnationalen Regierens, was unglücklicherweise eine Art Bestandsaufnahme auch der Geschichte der Demokratietheorie sowie der beiden derzeitigen mainstream-Richtungen der Demokratietheorie impliziert. Ich sage ,unglücklicherweise', weil ein solches Vorhaben eigentlich ein mehrbändiges Werk erfordert (was nicht geplant ist) und natürlich bei den diversen Vertretern der diversen demokratietheoreti schen Schulen auf heftigste Kritik stoßen wird, da sich alle falsch verstanden fühlen werden. Das gilt um so mehr, als ich - auf der Suche nach dem Kern und dem Zweck von Demokratie - mich der demokratietheoretischen Tradi tion als einer Art Steinbruchs bedienen werde, was mir unvermeidlich den Vorwurf des Eklektizismus eintragen wird. 11. Anlaß und Aufhänger des vorliegenden Buches ist also das europäische De mokratiedefizit. Dieses scheint in der Zunft so unbestritten, daß man sich hierzu bereits auf eine ,Standardversion' (Weiler et al. 1995) berufen kann, ohne sich noch die Mühe machen zu müssen, es im einzelnen zu beschreiben (s. aber u., 1.2.). Innerhalb der Politikwissenschaft impliziert dies genauge nommen einen bemerkenswerten Perspektiven wechsel, nämlich von der Wahrnehmung der Europäischen Gemeinschaft als einer intergouvernemen talen Veranstaltung - und insofern einem Gegenstand der Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen - hin zu ihrer Einstufung als staatsähnliche Politie, die im Zeitalter des ,demokratischen Verfassungsstaates ' gewisse Mindestanforderungen an demokratischer Legitimation zu erfüllen hat. Trotzdem las man in den vergangenen Jahren in politikwissenschaftlichen Analysen allenthalben, daß die Europäische Union kein Staat sei und auch keiner werden wolle. Das hatte den Vorteil, daß man sich bei ihrer Beurtei lung als Politie auf die Position zurückziehen konnte, ,nationalstaatliche' Modelle und Legitimationsstandards seien auf sie nicht anwendbar - und andere, so scheint es, gibt es nicht. In den europäischen Institutionen selbst ist man sich der Sache weit weniger sicher. Gespräche mit Vertretern der Kommission oder mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments fördern 10 zutage, daß im selben Maße, in dem die Politikwissenschaft das Modell ,Staat' als ungeeignet zurückweist, den Zustand der EU angemessen zu erfas sen, deren offizielle Vertreter den Endpunkt ,Staat' für so unvermeidlich wie zwingend und wünschbar halten. Nur auf Seiten mitgliedstaatlicher Politiker trifft man in dieser Hinsicht noch auf Zögern oder gar Abwehr. Die Dänen und die Briten z.B. wollen diesen Endpunkt partout nicht ins Auge fassen, Frankreich schwankt, während deutsche Politikerl offen den europäischen Bundesstaat propagieren - nach Möglichkeit nach deutschem Modell. Das Demokratiedefizit bleibt damit unvermeidlich auf der Tagesordnung. Genaugenommen geht es um ein dreifaches Defizit: ein Legitimationsdefizit, ein Repräsentationsdefizit und ein Partizipationsdefizit. Was das erstere be trifft, so ist eine Reihe von Autoren inzwischen übereingekommen, daß es grundsätzlich mehrere Quellen oder Ressourcen der Legitimation von Ent scheidungssystemen gibt, zwischen denen ein trade-offbesteht. Wenn es z.B. an demokratischer (oder input-) Legitimation mangeln sollte, kann die Effek tivität und Problemlösungsfähigkeit des Entscheidungssystems - die ,output Legitimation' - in die Bresche springen; d.h. dieses Defizit erscheint prinzi piell als lösbar (aber s. dazu u., 1.1.). Dagegen ist das Repräsentationsdefizit unlösbar, solange der Adressatenkreis eines Regelungssystems unbestimmt bleibt, weil wir es - z.B. - mit, variablen Geometrien' (opt-outs, unterschied lichen Reichweiten der beschlossenen Regelungen, unterschiedlichen Ge schwindigkeiten der Integration, usw.) zu tun haben, also das System ,offen' ist und seine Regelungen in ihrer Wirkung nicht eindeutig zuordenbar sind. Repräsentation nämlich ist nur möglich und sinnvoll, wenn man die zu reprä sentierenden Grundgesamtheiten kennt. Dieses spezielle Defizit ist in der derzeitigen Europa-Debatte unterbelichtet, überwiegend deshalb, weil im Hinblick auf die Union Repräsentation nach wie vor einseitig territorial ver standen wird.2 Unser Hauptinteresse gilt allerdings dem dritten, dem Partizipationsdefi zit. Der Kern dieses Defizits ist die Inkongruenz von Entscheidungsbetrof fenheit und Entscheidungsbeteiligung: Die Bürger der Mitgliedstaaten der EU sind (in unterschiedlicher Weise) europäischen Regelungen unterworfen und in durchgängig unzureichender Weise an ihrem Zustandekommen betei ligt. Das liegt nicht nur an der - zumeist als erstes ins Feld geführten - defi zitären Parlamentarisierung des europäischen Entscheidungssystems, sondern quasi vorgängig und von ihr ggf. unabhängig am Auseinanderfallen von ter- S. z.B. Bundesaußenminister Joschka Fischer in seiner Humboldt-Rede vom Mai 2000, Bundespräsident Johannes Rau in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament am 4.4.2001 sowie Bundeskanzler Gerhard Schröder in einem Papier vom 7.5.2001; ähnlich Wolfgang Schäuble in der Frankfurter Rundschau vom 9.3.2001. 2 Die große empirische ,Europan Representation Study' der Jahre 1994ff. macht al1erdings ein völlig anders geartetes Repräsentationsdefizit aus: Da keiner der tatsächlichen Reprä sentanten (z.B. im EP) das ,allgemeine europäische Interesse' in den Blick nehme, gebe es kein "truly European system of political repJ;esentation" (Schmitt und Thomassen: 257). 11 ritorialer Repräsentanz und funktionaler Politik (und Betroffenheit). Im Sinne demokratischer Standards bedarf auch europäische Politik der ,input-Legiti mierung'. Wie aber ist die zu gewährleisten, wenn die Dimensionen von Mitbestimmungsrechten (territorial) und Betroffenheit (funktional) nicht zur Deckung gebracht werden können? Dieses Dilemma charakterisiert nicht nur das Regieren in Europa, son dern genereller alles trans- bzw. supranationale Regieren; es wird in den letzten Jahren unter den Stichworten ,Regieren in entgrenzten Räumen' oder auch ,Demokratie ohne Grenzen' diskutiert (s. z.B. Kohler-Koch 1998; Land fried 2002). Allenthalben steht man ratlos vor dem Befund, daß Probleme zur Lösung drängen, die sich innerhalb von Nationalstaatsgrenzen nicht erfolg reich lösen lassen. Effektive Politik ist in einer Reihe von Politikfeldern nur noch grenzüberschreitend möglich (man denke etwa an den Umweltschutz und die Klimakatastrophe); d.h. Politik wandert in steigendem Umfang aus den innerstaatlichen Entscheidungszusammenhängen aus und verlagert sich stattdessen in internationale Kooperation. Diese wiederum ist quasi naturge mäß Sache der Exekutive, die sich auf solche Weise innerstaatlich von par lamentarisch-demokratischer Kontrolle zu emanzipieren vermag (s. bes. Wolf 2000a; Zürn 1998). Demokratische Bürgerrechte dagegen werden - auch innerstaatlich - insofern entwertet, als sie zunehmend ins Leere laufen. Und das Rad ist kaum zurückzudrehen: "The question is not whether effective policy-making can be confined within national borders; it cannot. The real question is whether transnational decision-making can be made democratic" (Schmitt und Thomassen 1999: 11). Befund wie Dilemma sind allseits (nahezu) unbestritten. Aber natürlich gibt es verschiedene Wege, mit dem Dilemma umzugehen. Man kann sich damit aus der Affäre ziehen, daß man Demokratie qua definitionem an den Nationalstaat koppelt; dann ist eine Lösung des Problems schlichtweg un möglich und weiteres Grübeln witzlos. Oder man kann versuchen, sich die betreffenden Entscheidungszusammenhänge quasi-staatlich umzudeuten (was speziell im europäischen Kontext naheliegt; s.o.), und staatliche Demokrati sierungsformen, mehr oder weniger modifiziert, auf sie übertragen. Damit handelt man sich nicht zu Unrecht den Vorwurf ein, am Kern des Problems vorbeizugehen. Man kann natürlich auch die überkommenen demokratischen Standards relativieren und reduzieren: etwa die Beteiligung einiger weniger Bürger - die Hinzuziehung einiger Vertreter von Nichtregierungsorganisatio nen zu internationalen Verhandlungen beispielsweise - zum Ausweis ,mach barer' demokratischer Qualität erklären. Und schließlich kann man eben diese überkommenen, an den Nationalstaat gebundenen demokratischen Standards selbst hinterfragen und nach neuen, alternativen Standards suchen (vgl. Eriksen und Fossum 2000: 5f.; Majone 1998: 6). Die Suche kann leicht in einer Falle enden: Wer vom Pfad der mainstream-Tugend abweicht, ris kiert in sumpfiges Gelände zu geraten, in dem demokratisch und nicht-demo kratisch sich nicht mehr recht unterscheiden lassen. Und da ist es dann eben 12