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Wozu braucht der Mensch Dichtung?: Anthropologie und Poetik von Platon bis Musil PDF

307 Pages·2017·2.18 MB·German
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Ulrich Gaier Wozu braucht der Mensch Dichtung? Anthropologie und Poetik von Platon bis Musil Ulrich Gaier Wozu braucht der Mensch Dichtung? Anthropologie und Poetik von Platon bis Musil J. B. Metzler Verlag Der Autor Ulrich Gaier ist emeritierter Professor für Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-476-02508-1 ISBN 978-3-476-05361-9 (eBook) Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Ein- speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. J. B. Metzler Verlag GmbH, Stuttgart © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017 Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Foto: akg-images) Satz: pp030 – Produktionsbüro Heike Praetor, Berlin J. B. Metzler ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer-Verlag GmbH Deutschland www.metzlerverlag.de [email protected] Inhalt I. Einleitung II. Gorgias von Leontinoi III. Platon: Theorien der Poesie und der Literatur 1. Dichtung als Problem Platons 19 2. Der Mensch, die geteilte und die ganze Seele 20 3. Poetik, Kritik und Pragmatik der inspirierten Dichtung 25 4. Poetik, Kritik und Pragmatik mimetischer Dichtung 30 5. Die literarische Theorie des platonischen Dialogs 33 IV. Aristoteles: Poetik der Polis 1. Anthropologie 39 2. Psychologie und Handlungstheorie 40 3. Anthropologisch begründete Poetik 51 V. Plotin: Hieroglyphische Poetik 1. Denkstrukturen 64 2. Die Stufen der Wirklichkeit und der Mensch 66 3. Das Schöne 73 4. Sprache und Zeichen 75 VI. Proklos: Negative Ästhetik und integrative Poetik 1. Metaphysik, Kosmologie 81 2. Anthropologie, Psychologie 84 3. Mousikê, Dichtung 91 VII. Figurale Denkform in mittel alterlicher Anthropologie und Poetik 1. Einleitung 101 2. Figurale Denkform 102 3. Adelger, Poetik der »bele conjointure« und Poetik der inneren Form 107 4. Adelger als hermeneutisches Modell 112 VI Inhalt 5. Laienkultur / Geistlichenkultur 124 6. Geistliche Tiersatire 128 7. Ysengrimus 129 8. Höfische Menschensatire, anthropologischer Aspekt 135 9. Neidharts Poetik der Ikonizität 144 VIII. Marsilio Ficino: Mikrokosmische Anthropologie und Poetik 1. Übersetzungen 151 2. Makrokosmos 153 3. Mikrokosmos 156 4. Anthropologische Kunst, Musik, Poesie 164 IX. Der Narr Sebastianus Brant: Satirische Anthropologie und Poetik 1. Leben und Werk 168 2. Mittelalter? Neuzeit? 169 3. Narrheit: anthropologisch, theologisch, soziologisch 170 4. Rhetorik 182 5. Satire 185 6. Literarische Bilder 187 7. Holzschnitte 189 X. Emblematik: Befreiende Kunst und Dichtung 1. Emblema 193 2. »Emblematisieren«. Beispiele 196 3. Geschichtliche Situation 201 4. Literarische Formen 202 XI. Anthropologien und Poetiken 1. Inspirationspoetik 204 2. Regelpoetik 205 3. England 207 4. Italien 213 5. Einbildungskraft 214 6. Neue Anthropologie und Poetik 217 XII. Europäischer Roman 1. Frühbürgerlich 223 2. Adlig 224 3. Schelmenroman 226 4. Englischer Roman 229 5. Französischer Roman vor 1750 235 6. Deutscher Roman 237 Inhalt VII XIII. Europäisches Drama 1. Bürgerliches Trauerspiel, drame bourgeois 243 2. Gottsched und seine Schüler 246 3. Lessing 248 XIV. Ausblick 269 XV. Anhang 296 Personenregister 296 I. Einleitung (1) Was ist der Mensch? – Was ist und tut Dichtung? – Wozu braucht der Mensch Dich- tung? Genau genommen genügt die erste Frage, denn der Mensch braucht Sprache und, wie sich zeigen wird, Dichtung, um Mensch zu sein. Anthropologie, d. h. Wissenschaft vom Menschen, und Poetologie, d. h. Wissenschaft von der Dichtung, sind die Themen dieses Buches. Es ist nicht möglich, die Fragen auf einmal zu beantworten, denn die Menschen ändern sich, ihr Verhältnis zu Umwelt, Welt, andern Menschen und sich selbst wird durch äußere und innere Umstände beeinflusst und hat damit Geschichte, die sich in der Art und dem Gebrauch von Sprache und Dichtung abbildet. An ein paar Beispielen soll das deutlich werden. In ihren Uranfängen erfuhren die Menschen Leid, Krankheit und Tod offenbar viel einschneidender als wir heute, die wir uns durch allerlei Versicherungen, Medizin, Kran- kenhäuser diese störenden Zustände möglichst vom Leib halten. Sie sahen in dem, was ihnen Leid zufügte, unbekannte Mächte, von denen sie bei Unangenehmem bestraft, bei Angenehmem belohnt wurden. Ein dunkles Bewusstsein der Schuld wegen eines unbe- kannten Verbrechens, für das man zu büßen hatte, begleitete die unangenehmen, ein dunkles Bewusstsein des Glücks, für das man Dank schuldete, die angenehmen Erfah- rungen. Um die Erscheinung dieses dunklen Bewusstseins auch bei anderen Menschen zu erfragen, musste man reden, Sprache, Vorstellungen, Bilder erfinden, mit denen man sich darüber verständigen konnte: man personalisierte die wirkenden Mächte zu Göt- tern, sah die Schuld als Verbrechen, die Strafe als Austreibung, Trennung, Nahrungs- und Glücksentzug. (2) Diese Vermutungen bestätigt das Alte Testament: die Menschen seien zuerst im Pa- radies gewesen, ohne Gefahr, Krankheit und Tod, mit den köstlichsten Genüssen, und das alles für ein wenig Gartenarbeit (1Mos 2, 15). Durch ein Gebot schafft Gott, der das Paradies gepflanzt und die Menschen hineingesetzt hat, eine Grenze. Gebot fordert Verbot, Grenze fordert Überschreitung, was so ist, fordert eine Alternative. An einer Grenze wird re-flektiert, entsteht Bewusstsein der Begrenzung und Verlockung der Überschreitung, Bewusstsein des Reflektierens und der Verlockung: Selbstbewusstsein, Schuldbewusstsein, denn schon der Gedanke, die Grenze zu überschreiten und der Ver- lockung nachzugeben, schafft schlechtes Gewissen. »Sünde« heißt das dann; es braucht eine satanische Schlange, die die Verlockung verdoppelt, es braucht eine zum zweiten Mal geschaffene Frau, die sich von der Schlange beschwatzen lässt. Denn es geht ja nicht an, dass der Gott, der Gebot/Verbot gegeben, Grenze und Verlockung zur Übertretung gesetzt, Sünde und Todesstrafe verkündet hat, dass dieser Gott zugleich Satan und seine Schlange ist. Im Mythos muss die Totalität des Unbekannten in zwei entgegengesetzte Lager auseinandergenommen werden. Mythos heißt Erzählung, durch Erzählen werden Verhältnisse geordnet und vorstellbar gemacht, Mythos sucht immer die bestmögliche Erklärung für das Unbekannte und nicht Vorstellbare. Mythos ist Dichtung und gibt hier U. Gaier, Wozu braucht der Mensch Dichtung?, DOI 10.1007/978-3-476-05361-9_1, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017 2 I. Einleitung Anweisung für das richtige Verhalten, erklärt Leid, Schmerz, Arbeit, Tod, denn ganz konsequent werden Sünder ja über die Grenze in die Wüste geschickt – das Paradies ist ein Garten in Eden, und Eden heißt Wüste. (3) Ähnlich genial sind die mythischen Konstrukte bei den Griechen, zunächst bei den Göttern. Nach Hesiods Theogonie trennt Kronos Himmel und Erde, indem er seinem Vater Uranos Penis und Hoden absichelt, wozu ihn Mutter Erde angestiftet hat; nun muss er selbst fürchten, abgesägt zu werden, und frisst seine Kinder. Wiederum ist es die Frau, der das nicht passt; sie füttert ihm einen Stein und, da Kronos alles im Himmel und auf Erden weiß, hängt die Wiege des Neugeborenen in einer Höhle auf, engagiert eine Ziege für die Milch und eine Gruppe Schlagzeuger, die das Geschrei von Baby Zeus übertönen sollen. Dieser aber stürzt seinen Vater und sperrt ihn mit den andern Titanen, Giganten und Urwesen in den untersten Tartaros, wo sie eine ständige Bedrohung für die Olympier bilden und immer wieder vulkanisch ausbrechen. Alle diese Usurpatoren sind »gut« und »böse« zugleich, gelangen zur Herrschaft und erhalten sich an der Regie- rung durch Gewalt, schaffen aber immer bessere Ordnung in der Welt. List und Betrug sind es, die auch den Menschen Selbständigkeit und Wahlfreiheit verschaffen. Der Titan Prometheus, der Vorausdenker, kämpft in Voraussicht der Niederlage nicht direkt gegen die Olympier, will aber auf längere Sicht ihre Macht schwächen und töpfert Menschen- figuren, kann aber diese Armee von Tonkriegern nicht beleben. Athene haucht ihnen Leben ein und übt damit Verrat an ihrem Vater Zeus. Der lacht sich in die Faust, weil die Menschen ohne Feuer wie Tiere vegetieren. Athene lässt Prometheus durch ein Hin- tertürchen in den Olymp, wo er eine glühende Kohle klaut und sie am Portier vorbei in einem Riesenfenchel zur Erde bringt. Das Feuer macht die Menschen zu Menschen, sie können Suppe kochen, Fleisch braten, Waffen schmieden, einander umbringen und Licht machen. Götter und Menschen hatten seit langem zusammen gegessen und jedes Mal einen Stier geschlachtet. Einmal gab es Streit, welchen Teil des Stiers die Götter und welchen die Menschen essen durften. Prometheus sollte verteilen; er stopfte alles Fleisch in den unansehnlichen Magen und wickelte die Knochen in das schöne weiße Fett. Zeus durfte wählen, griff nach dem weißen Paket und war wieder betrogen. Seither bekom- men die Götter auf dem Olymp nur Nektar und Ambrosia serviert und müssen sich auch noch den Duft von frisch brutzelndem Fett anriechen, denn die Menschen opfern ihnen Fett und Knochen. Natürlich rächt sich Zeus wieder: Prometheus hatte seinem Bruder Epimetheus, dem Nachherdenker, ein Kästchen zur Aufbewahrung gegeben, das er nicht öffnen sollte. Zeus ließ die Götter eine Frau mit Namen Pandora, All-Geberin, konstruieren, wunderschön, neugierig, zänkisch, faul, und schickte sie dem Epimetheus als Geschenk zu. Der wusste zwar nicht wofür, behielt es aber vorläufig. Prometheus, mittlerweile von Zeus an einen Felsen im Kaukasos geschmiedet und unfähig, den seine Leber fressenden Geier von sich zu halten oder auf seinen Bruder aufzupassen, hatte Epimetheus gewarnt, Geschenke von Zeus anzunehmen, aber da Prometheus ausblieb und sie so schön war, heiratete er sie halt. Damit hatte sie auch Zugang zum Kästchen, öffnete es, und heraus flogen alle Leiden, Krankheiten, Leidenschaften, Laster und die trügerische Hoffnung, dass alles schon wieder gut werden würde. Zeus war der bessere Vorausdenker, kannte die Frauen und sorgte dafür, dass sie an allen Übeln Schuld haben wie in der Bibel, die er zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht lesen konnte. Durch Ver- brechen kommt man an die Herrschaft, durch Betrug zu einem kostengünstigen Essen und befreit sich von ungebetenen Gästen, die dann Rache nehmen. Für deren Auswir- kungen werden praktischerweise wieder die Frauen beschuldigt und verdienen deshalb I. Einleitung 3 in der Gesellschaft nur einen untergeordneten Platz, dürfen nicht am öffentlichen Leben teilnehmen und sitzen auch zuhause in einem chambre séparé. Das alles wissen wieder die Mythen glaubhaft zu erzählen; das Verhältnis zu den unbekannten bedrohenden und begünstigenden Mächten wie auch die Rangordnung in der Gesellschaft wäre ohne Dichtung nicht plausibel zu machen und als Machtapparat zu stabilisieren. (4) Platon der Aufklärer sucht die Schuld nicht bei unbekannten Mächten, sondern beim Menschen selbst, seiner Trägheit und seinen Leidenschaften. Im Phaidros erzählt er, dass die Seelen auf einem mit zwei Pferden bespannten Wagen im Ideenhimmel dem Konvoi der Götter nachfahren. Das eine Pferd ist munter und eifrig, das andere träge und bockig und bremst den Wagen. Der kommt nicht mehr mit, sinkt, und die dreifaltige Seele, ent- fiedert, stürzt in einen erdigen Leib, in dem sie wie in einem Kerker gefangen ist. Nur der Anblick des Schönen erinnert die Seele, woher sie gekommen ist; aus Liebe zum Schönen wachsen ihr neue Federn, mit denen beflügelt sie wieder zu ihrem Ursprung zurück- zukommen sucht. Auch der Philosoph erzählt Mythen, aber sie illustrieren nur seine Lehre von den Ideen und der schlechten Wirklichkeit. Sein Lehrer Sokrates hält aber trotz seiner Gattin Xanthippe viel von Frauen, lässt er doch im Symposion die Diotima ihn über die Liebe belehren – wahrscheinlich war die arme Xanthippe nur eifersüchtig. Die philosophischen Mythen braucht Platon allerdings, um der Öffentlichkeit plausibel zu machen, dass seine Philosophie leicht zu verstehen sei, etwas tauge und gesellschaft- liche Probleme löse. (5) Hier soll ja gezeigt werden, dass sich sowohl das Bild vom Menschen wie von der Dichtung historisch ändert. Wir springen deshalb in dieser Übersicht etwa zehn Jahr- hunderte zu Giovanni Boccaccio (1313–1375), der in seinem Decamerone (um 1350) den Ausbruch der Pest in Florenz (1349) benutzt, um das Chaos in der spätmittelalterli- chen oberitalienischen Gesellschaft darzustellen, einen radikalen Neuanfang zu fordern und diesen gleich in den gesellschaftlichen Grundstrukturen darzustellen. Die Pest bricht aus, die Existenzangst bricht aus, keiner darf aus der Stadt, damit der schwarze Tod nicht weiter verbreitet wird. Hunger, Durst, Raub, Mord, Sittenlosigkeit, religiöser Fanatismus, Unfähigkeit der Ärzte, plötzliche Krankheit, schneller Tod, Gerassel der Leichenwagen, Rauch von der Verbrennung der Körper: Panik, Chaos, Verspottung der Ordnungshüter und Herrschaft. Diese Phänomene sind historisch real und konnten, wo Boccaccio sie nicht aufzählt, von jedem Leser ergänzt werden, denn seit 1349 suchte die Pest oder eine andere verheerende Epidemie etwa alle 6 Jahre ganz Europa heim. Zehn junge Aristokraten schaffen es, der Pest zu entkommen, wohnen zehn Tage auf einem Landgut und beschließen, einander zur Unterhaltung Geschichten zu erzählen. Von den sieben Damen und drei Herren wird jeden Tag ein König oder eine Königin gewählt, von denen das Thema der Geschichten bestimmt wird. Jeder und jede erzählt jeden Tag eine Geschichte, so dass hundert Geschichten zusammenkommen, so wie Dantes Divina commedia hundert Gesänge hat; man hat mit Recht von einer Commedia humana ge- sprochen. In der Tat wird kein Stand ausgespart, von Adel und Geistlichkeit bis herab zu den Dienstboten und Bettlern sind alle dabei; auch keine Verhaltensweise, moralisch oder unmoralisch, wird verschwiegen. Es ist ein genaues Bild der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Wie diese geändert werden soll, macht der Rahmen deutlich: Wahl eines Königs oder einer Königin auf Zeit mit beschränkter Befehlsgewalt; alle Untertanen kön- nen gewählt werden, ihr Beitrag zur Gesellschaft ist ebenso wichtig wie jeder andere, alle hören zu, wenn einer seinen Beitrag leistet. Damit wird Demokratie empfohlen oder, da

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Dieses Buch geht einer anthropologischen Frage nach: „Wozu braucht der Mensch Dichtung?“ Die Antworten von Philosophen und Dichtern von der Antike bis ins 20. Jahrhundert stehen im Mittelpunkt. Theoretiker der Antike wie Gorgias, Platon, Aristoteles, Plotin, Proklos kommen zu Wort. Geistliche un
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