ARBEITSGEMEINSCHAFT FÜR FORSCHUNG DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN GEISTESWISSEN SCHAFTE N 112. SITZUNG AM 17. FEBRUAR 1965 IN DÜSSELDORF ARBEITSGEMEINSCHAFT FÜR FORSCHUNG DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN GEISTESWISSENSCHAFTEN HEFT 126 ]OST TRIER Wortgeschichten aus alten Gemeinden HERAUSGEGEBEN IM AUFTRAGE DES MINISTERPRASIDENTEN Dr. PRANZ MEYERS VON STAATS SEKRETAR PROFESSOR Dr. h. c., Dr. E. h. LEO BRANDT JOST TRIER Wortgeschichten aus alten Gemeinden SPRINGER FACHMEDIEN WIESBADEN GMBH ISBN 978-3-663-01028-9 ISBN 978-3-663-02941-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-02941-0 © 1965 by Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen INHALT Jost Trier, Münster (Westf.) Wortgeschichten aus alten Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Diskussionsbeiträge Professor Dr. phil. josej Kroll; Professor Dr. phil. jost Trier; Professor Dr. phil. William Foerste; Professor Dr. jur. Hermann Conrad; Professor Dr. phil. Benno von Wiese und Kaiserswaldau; Frau Professor Dr. phil. Eleanor von Erdberg-Consten; Professor Dr. phil. Han~jakob Seiler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Das, was ich vorbringen möchte, kann man nirgends deutlicher machen als in dem Raum, in dem wir uns gerade jetzt befinden. Die Form, in der an geordnet wir hier sitzen, zeigt in einer das Ideal fast erreichenden Annähe rung den Ring einer alten Gemeinde. Es ist eine Gestalt der Versammlung, in welcher ein jeder Gemeindegenosse alles und alle zu sehen vermag und in welcher jeder von allen gesehen werden kann. Nicht in allen Punkten stim men wir mit diesem Ideal überein; indem wir hier die Reihen vervielfachen, verneinen wir zum Teil wieder das, was eben gesagt worden ist. Aber es bleibt eine sehr deutliche Erinnerung an eine uralte Form der Versamm lung, an den Ring, an die Form, in der Kad der Große 799 in Paderborn den Papst begrüßte-im Ring seines Heeres-, es ist die Form, um ein Beispiel aus geschlossenem Raum zu erwähnen, in der Otto I. in Aachen gekrönt wurde. Alle Genossen wenden den Rücken nach außen, wenden sich ab von einer profanen, nicht geordneten Welt, und gemeinsam einer Mitte zu. Noch deutlicher träte eine Altform zu Tage, wenn der Sprecher in der Mitte stünde, als ein Sprecher im Ring. Doch hat dies Nachteile, und man liefe Gefahr, die V orteile der ringförmigen Versammlung allzu teuer zu bezahlen. So sei es mir gestattet, meine harangue, meine arenga, meine 'Rede im Ring' - denn das bedeuten diese Wörter, sie sind germanischer Herkunft und ge hören zu der Sippe von deutsch Ring-vom Umkreis, vom Rand aus zu hal ten und mich dem Ausgleich anzupassen, aus dem der gestaltende Gedanke dieses Raumes hier und dieser Sitzordnung stammt. Die ringförmige Versammlung - germanisch heißt sie selbst einfach Ring, althochdeutsch hring-hat die Kraft, Raum zu bilden. In unserem Falle ist sie zwar von Wänden umschlossen, aber sie ist eine V ersammlungsform, welche die architektonischen Wände nicht unbedingt braucht, um Raum hervorzu bringen. Sie selbst als Versammlung schafft schon Raum. Sie bildet selbst die Wand, durch welche sie sich nach außen abschließt und nach innen den bergenden Hohlkörper baut. Wände sind Regung, sind also Zäune, denn bis in die Technik der Wand und die Technik des Zaunes läßt sich die Ähn- 8 Jost Trier lichkeit, ja von Haus aus Gleichheit zwischen Wand und Zaun zeigen. Wenn nun die Versammlung Wand bildet, sich selbst als abschließende und Raum hervorbringende runde, hegende Wand hat, sieht und empfindet, dann sind wortkundlieh faßbare Beziehungen zwischen Wörtern mit Zaunsinn und Wörtern für Versammlung zu erwarten. 1. Etymologische Beziehungen zwischen Zaunwörtern und Versammlungs wörtern-das enthält aber zugleich in sich auch Beziehungen zwischen Zaun wörtern und Wörtern für Gemeinden, Körperschaften, Genossenschaften. Denn Menschengruppen pflegen sich nicht nach den Zuständen zu benennen, in welchen sie zerstreut, aufgelöst und formlos sind, vielmehr nennen sie sich gerade nach den Zuständen, in welchen sie in Form, in Verfassung sind und sich und anderen eine überschaubare Gestalt darbieten. Kurzum, sie nennen sich nach ihren Versammlungen. Dort sind sie in vollem Sinne sie selbst. Etymologischen Beziehungen zwischen Zaun und Gemeinde - um es ver kürzend einmal so auszudrücken - sollte man in großem Maßstab nachgehn. Hier kann nur ganz weniges gebracht werden. Die indogermanische erschließbare Lautfolge *mei- ist eine Wurzel. Sie genügt der Wurzeldefinition von Emile Benveniste. I~ der gegebenen Form haben wir Hochstufe. Die Abtönungsstufe wäre *moi- und die Schwund stufe *mi-. Nehmen wir nun an, es trete zu dieser Wu;zel ein basisbildendes Suffix -en-, so erhalten wir bei Akzent auf der Wurzel - und demgemäß Schwund des e im Suffix - die Basis *mein - das wäre die Hochstufe, *moin - das wäre die Abtönung, *min - das wäre die Schwundstufe. Von den drei Stufen sollen uns hier nur zwei beschäftigen, nämlich die Abtönung *moin und die Schwundstufe *min. Wenden wir uns zunächst der Abtönungsstufe zu, und zwar in ihrer latei nischen Erscheinungsweise. Da bieten sich gleich zwei lateinische Wörter dar: das Verbum münire 'befestigen' und das pluralische Substantivum moenia 'Stadtmauer'. Im Lateinischen ist nämlich indogermanisches oi zu ü geworden, wie man aus altlateinisch oinos, klassisch-lateinisch unus leicht er kennt. So also stammt auch münire aus einem älteren *moinire. Daß das oi in *moinia, später moenia in einem archaischen Zustand verharrt und den Weg von 1nünire nicht mitgemacht hat, liegt daran, daß die Sprachgemeinschaft es nicht zulassen wollte, daß moenia 'Stadtmauer' und münia 'Dienstleistun- Wortgeschichten aus alten Gemeinden 9 gen' in eins zusammenfielen. Wir haben da einen sehr schönen Fall von Homonymenmeidung. Stadtmauer - das ist ein Begriff, der sich erst in verhältnismäßig späten Zeiten herausbilden kann. Er setzt stadtartige Siedlung und entwickelten Steinbau voraus. Man tut gut daran, sich zu fragen, wie denn eine Siedlungs wehr vor der Entwicklung höherer Mittel aussah. Nun, sie bestand ganz ein fach aus einem Zaun von mehr oder weniger fester Art, der annähernd kreis förmig die Siedlung umgab. Es war nicht sehr viel mehr als ein Dorfetter. Wir möchten hinter der Sache von lat. moenia im Grunde denselben Zaun an nehmen, den kelt.-lat. dunum 'befestigter Platz, oppidum', engl. town 'Stadt', ndl. tuin 'Garten' und deutsch Zaun uns unverkennbar darbieten. So hieße also lat. münire von Haus aus 'mit einem Zaun umgeben' und so befestigen. Wir sind berechtigt, für die abtönende indogermanische Basis *moin- den Anwendungsbereich 'Zaun, zäunen' anzusetzen, den substantivischen so gut wie den verbalen und beide noch ungeschieden. Diese indogermanische Basis *moin- lebt nun auch im Germanischen und gerade auch im Deutschen bis zum heutigen Tage. Um sie im Deutschen wiederzufinden, muß man sich klarmachen, daß idg. oi im Germanischen ganz regelmäßig als ai und später als ei erscheint, die Basis *moin im Deut schen daher als mein auftreten muß. So begegnen wir ihr in den deutschen Wörtern gemein, Gemeine, Gemeinde, Gemeinheit, Gemeinschaft und einigen an deren. Alte kleine, übersehbare Menschengruppen treten in ringförmig geschlos senen, zäunenden Versammlungen zusammen und nennen sich nach eben diesen hegenden Zäunen aus Menschenleibern. Das ist der Grund des Zu sammenhangs zwischen den lateinischen Befestigungs- d. h. Zaunwörtern und den deutschen Wörtern aus dem Bereich politischer Einrichtungen. Wir zögern nicht, die deutsche Wortgruppe gemein, Gemeine, Gemeinde, Gemein schaft der lateinischen Gruppe von moenia und munire aus eben diesem Grunde zu verbinden, und so ergibt sich ganz von selbst auch die richtige Lösung für lat. communis, communio, conJinunitas. Meringer hat geglaubt, die Gemeinde heiße nach der Dienstleistung, die sie tun müsse, um Stadtmauern aufzu bauen, oder umgekehrt: die Stadtmauern hießen nach der Dienstleistung und der Arbeit der Gemeinde. Ich glaube, der Weg ist viel einfacher; es ist eine Gestalt-Entsprechung, die hier zugrundeliegt. Nun haben aber Gemeinden kein Leben, wenn nicht ihre Glieder Beiträge für die Bedürfnisse des Ganzen leisten. Geben wir dem Begriff Steuer nur die nötige Ausweitung und befreien wir ihn von den Zügen moderner, zwingen- 10 Jost Trier der Staatlichkeit und von geldwirtschaftlichen Vorstellungen, so werden wir sagen dürfen: es gibt keine Gemeinde ohne Steuern. In urtümlichen V er hältnissen besteht diese Steuer in Arbeit, in Dienstleistungen niederer und höherer Art, in hofgebundenen Verpflegungslasten, in Naturallieferungen an den Haupthof. Deklariert wird das als Ehrengabe, aber es ist dabei ganz klar, daß diese Ehrengabe auch den Bedürfnissen (necessitatibus) dient, wie es in der Germania cap. 15 mit schöner Deutlichkeit heißt. Die Arbeit kann so vor sich gehn, daß die ganze Gemeinde gemeinsam und zugleich ein schweres Werk unternimmt. Darauf geht frz. corvee 'Ar beitsdienst', 'Frondienst' zurück. Das Wort stammt aus lat. corrogata 'zu sammengebetene Gruppe'. Die ata-Wörter sind alle menschliche Kollektiva; ich halte es für methodisch nicht zulässig zu sagen, corrogata heiße die er betene Arbeit, es ist vielmehr die zusammengebetene Menschengruppe, die jetzt antritt und gemeinsam eine schwierige Arbeit übernimmt, Flußein dämmung oder Straßenbau und dergleichen. Uns aber soll jetzt die andere Art beschäftigen, bei der Einzelne sich für das Ganze nützlich machen, etwa bei nächtlichen Wachdiensten oder beim Hüten der Gemeindeherde oder auch bei höheren verantwortlichen und politischen Tätigkeiten. Das wird dann so geregelt, daß die Pflicht des Dienstes in einer festen Ordnung von Mann zu Mann reihum durch die Gemeinde geht. Der geschlossene Ring oder doch die Vorstellung davon - was auf dasselbe hinausläuft - ist durch aus nötig und bestimmend. Denn es ist ein endloser Umlauf. Es gibt keinen ersten und keinen letzten Mann, mit dem es anfinge und mit dem es auf hörte, sondern es gibt nur den Ring, der endlos durchlaufen wird. Solche Dienstleistungen nennt man im Deutschen Reihedienst oder Reihendienstl. So geht das Amt des Dorfschulzen, des Burrichters, des Alpmeisters, des Vorstehers einer Deichgenossenschaft im Jahreswechsel fortlaufend durch den Kreis der Vollbauern. Oder in Gemeinden, die keinen eigenen Vieh hirten einstellen, geht die Pflicht, das Vieh zu hüten, von Hof zu Hof, wie man in der Schweiz sagt: "nach der Cher", d. h. reihum. Haben sie aber einen eigenen Berufshirten, so geht eben die Pflicht, diesen zu beherbergen und zu ernähren, in vorbestimmter Folge von Hof zu Hof. Dies ist ein sehr wichtiger Punkt, auf den wir zurückkommen werden. Die Zahl der Tage aber, die der Hirt auf dem Hofe verweilt, ergibt sich nach Proportion aus der Zahl der Viehhäupter, die der einzelne Hof im Verhältnis zur Gesamtzahl des Dorfviehs auf die Weide schickt. So führt der Reihendienst zu immer er neuten gar nicht einfachen Rechenaufgaben. 1 Verf: Reihendienst, Münster 1957.