Rheinisch -Westfälische Akademie der Wissenschaften Geisteswissenschaften Vorträge . G 194 Herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften MAX WEHRLI Wolframs >Titurel< Westdeutscher Verlag 189. Sitzung am 14. November 1973 in Düsseldorf ISBN 978-3-663-05324-8 ISBN 978-3-663-05323-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-05323-1 © 1974 by Westdeutscher Verlag GmbH Opladen Gesamtherstellung: Westdeutscher Verlag GmbH Inhalt Max Wehrli, Zürich Wolframs ,Titurel' 7 Diskussions beiträge Friedrich Oh!J,. Max Wehrli ,. Heinrich Lausberg ,. Fritz Schalk,. Karl Gustav Feilerer,· Walther Heissig,· Wolf-Dieter Lange,. Eleanor von Erdberg-Consten,· Gertrud Höbler,. Joachim Heinzle . . . . . . . . . . . . . . . .. 27 I Die beiden schlecht überlieferten Fragmente einer unvollendet gebliebe nen Dichtung Wolframs 1, zusammen rund 170 Strophen, sind in der mittel hochdeutschen Literatur ein Unicum, ja ein Curiosum. Es ist die erste höfische Erzählung in strophischer Form; es ist wahrscheinlich auch die erste selbsterfundene deutsche Dichtung zum Artuskreis, stofflich über haupt eines der wenigen Originalwerke der klassischen Zeit, in seltsamer, schwieriger Manier erzählt. Soweit wir sehen, liefert diese Titureldichtung (so genannt nach dem ersten vorkommenden Namen) nachträglich die Vor geschichte zu einer Szenenfolge im Parzivalroman, nämlich die Geschichte Sigunes und ihres im Kampf gefallenen Freundes Schionatulander; es ist somit die eigentümliche Wiederaufnahme, Ergänzung und sozusagen Kom mentierung eines bereits früher vom Dichter erzählten Geschehens. Was mit der Dichtung geplant war, ob sie also beispielsweise auch die Sigunen szenen des ,Parzival' am Schluß noch einbezogen hätte, ob sich der Dichter mit einzelnen lyrischen Szenen begnügt hätte oder ein eigentliches Erzähl werk plante, wie es dann zwei Menschenalter später Albrecht von Scharfen berg auf Grund der Wolfram-Strophen in seinem sogenannten ,Jüngeren Titurel' als gewaltiges Epos entwickelte, bleibt strittig. Die in der For schung wechselnde Bezeichnung der Fragmente als Lieder, als Novelle, als Romanfragment, als Skizze, Experiment, Studie, belegt nur unsere Hilf losigkeit. Schließlich ist auch die rangmäßige Bewertung schwankend: von Jacob Grimm2 als "herrliches Gedicht", hoch selbst über ,Parzival' und ,Willehalm', von Karl Müllenhoff3 als "das Höchste in mittelhochdeutscher 1 Wolframs Parzival wird zitiert nach der 5. Auflage von Karl Lachmanns Ausgabe (1891) = Gottfried Weber, Wolfram von Eschenbach, Parzival, Darmstadt 1963; Willehalm und Ti/urel nach Lachmanns 6. Auflage (1926) = W. J. Schröder und Gisela Hollandt, Wolfram von Eschenbach, Willehalm und Titurel, Darmstadt 1971. Grundlegend jetzt Joachim Heinzle, Wolframs Titurel, Stellenkommentar, Tübingen 1972 (Hermaea N.F. 30), ferner Joachim Bumke, Titurelüberlieferung und Titurel forschung. Vorüberlegungen zu einer neuen Ausgabe von Wolframs Titurelfrag menten, ZfdA 92 (1973), S. 147-188. Reproduktion der Handschriften durch Joachim Heinzle in: Litterae, Göppinger Beiträge zur Textgeschichte, 26, Göppingen 1973. 2 Jacob Grimm, Kleine Schriften VI, S. 118f. 3 Karl Müllenhoff, Zur Geschichte der Nibelunge Not, Braunschweig 1855, S. 15. 8 MaxWehrli Poesie" und wieder von Hugo Kuhn4 als "das genialste Stück deutscher Literatur im Mittelalter" angesprochen, gelten die Fragmente auch wieder als mißglücktes Experiment, das, so sagt Helmut de Boors, nur soweit ge führt wurde, bis sich seine Undurchführbarkeit zeigen ließ; es sei uns "durch die Unvollendetheit" nicht sehr viel verlorengegangen. Sibyllini scher schließlich Karl Bertau 6: "Spätstil-Gestammel, das sich dem bloßen Schmecken verweigert." Methodisch ist es wohl richtig und überhaupt ge ziemend, der Genialität Wolframs keine Grenzen zu setzen und den rätsel haften Zauber der abseitigen Strophen zunächst einmal gelten zu lassen. Schließlich wird aber jede Interpretation, auch die vorliegende, nur immer versuchen können, die innere Folgerichtigkeit dieses Unvollendet-Seins nachzuweisen und das Werk gerade als Fragment, ja vielleicht als bewußtes Bruchstück oder gar Dokument eines Vers agens zu begreifen. Es sei denn, es könne eine rein äußere Ursache des Abbrechens bewiesen werden. Daß die Entstehungszeit der Fragmente unklar ist, erschwert das Verständnis zusätzlich; nur der terminus post, das dritte Buch des ,Parzival' (d. h. die erste Sigunenszene), ist gegeben, somit etwa das Jahr 1203 (spätestens). Man kann allenfalls, wie Fourquet7, annehmen, das Gedicht sei gleichzeitig mit dem ,Parzival' (nach Buch VI) entstanden. Ein Indiz für späte Ent stehung wäre eine Strophe, die den verstorbenen Landgrafen Hermann von Thüringen preist (der 1217 gestorben ist), doch ist diese Strophe 82a in ihrer Echtheit bestritten8; daß Wolfram nicht so lange lebte, damit er das Werk vollenden konnte, berichtet der schon genannte Bearbeiter Albrecht9; einzelne Namen scheinen die Kenntnis des ,Willehalm' vorauszusetzen, doch ist dann eine Wiederaufnahme des Parzivalstoffes lange Zeit, d. h. sieben Jahre nach Abschluß des ,Parzival', nicht leicht verständlich. Die äußeren und inneren, die biographischen, quellengeschichtlichen, stilistischen, geistesgeschichtlichen Argumente greifen so sehr ineinander, daß jede Beweisführung den Charakter einer petitio principii annimmt. Meine folgenden Betrachtungen wollen keine neue These entwickeln; sie , Hugo Kuhn, in: Annalen der deutschen Literatur, herausgegeben von Heinz Otto Burger, Stuttgart 1952, S. 166. 5 Helmut de Boor und Richard Newald, Geschichte der deutschen Literatur7 2, S. 125. 6 Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter II, München 1973, S.1168. 7 Je an Fourquet, Wolfram d'Eschenbach et le Conte del Graal, Paris 1938, S. 190; ders., L'ancien et le nouveau Titurel, in: Lumiere du Graal, sous la direction de Rene Nelli, Paris 1951, S. 231. 8 Von Heinzle, S. 132, wird die Echtheit wieder wahrscheinlich gemacht. 9 Erste Strophe des sog. Verfasserbruchstücks. Albrecht von Scharfenberg, Der jüngere Titurel, ausgewählt und herausgegeben von Werner Wolf (Altdeutsche übungstexte 14, Bern 1952), S. 78. Wolframs >Titurel< 9 möchten nur versuchen, möglichst unbefangen und zunächst vom formalen Äußeren her die Gesamterscheinung dieser Fragmente neu zu umschreiben und damit die Würdigungen des Werks, wie sie u. a. Julius Schwietering, Ludwig Wolff, Bernhard Rahn, Margaret Richey, H. de Boor und Werner Simon10 gegeben haben, ein wenig zu vertiefen oder zu korrigieren. Über aus hilfreich für ein solches Unternehmen ist heute die übersichtliche Dar stellung der Forschungslage und der Überlieferungs probleme durch Joa chim Bumkell und vor allem der ausgezeichnete "Stellenkommentar" von Joachim Heinzle12• II Im Gralsroman des Chrestien de Troyes13 begegnet Perceval, unmittelbar nach dem Versagen auf der Gralsburg, einer Jungfrau, die unter einer Eiche sitzt und unter Wehklagen einen toten Ritter, dem der Kopf abgeschlagen, auf ihren Knien hält. Es ist ihr Freund, der kurz vorher in einem Zweikampf getötet worden ist. Perceval, nach seinem Namen befragt, weiß antwortend zum erstenmal, wie er heißt; das namenlos bleibende Fräulein stellt sich als seine germainne eosine vor, berichtet ihm den Tod seiner Mutter und gibt Auskunft über Gral und Gralsgeschlecht. Es ist eine Szene, die nur ad hoc erscheint, märchenhaft nur eine Etappe auf Percevals Weg zum Gral und - mit dem Namenmotiv! - zu sich selbst bezeichnet; vielleicht, daß über diese Figur wie auch die des toten Ritters in Chrestiens unvollendet abge brochenem Roman noch etwas erzählt worden wäre. In Wolframs ,Parzival' erscheint die Gestalt viermal14: zuerst bereits beim ersten Auszug, dann wie bei Chrestien nach dem Besuch beim Gral; viel später dann, an entscheiden der Stelle vor der Einkehr Parzivals bei Trevrizent, trifft er sie als K.lausne- 10 Julius Schwietering, Deutsche Dichtung des Mittelalters, Potsdam (1932-1941), S. 180f. - Ludwig Wolff, Schionatulander und Sigune, in: Studien zur deutschen Philologie des Mittelalters, Friedrich Panzer zum 80. Geburtstag, Stuttgart 1950, S. 116-130. - Bernhard Rahn, Wolframs Sigunendichtung (= Geist und Werk der Zeiten 4), Zürich 1958. - Margaret Richey, The ,Titurel' of Wolfram von Eschen bach: structure and character, Modern Language Review 56 (1961), S. 180-193. - Helmut de Boor (Anm. 5), S. 122-125. - Werner Si mon, Zu Wolframs ,Titurel', in: Festgabe für Ulrich Pretzel, Berlin 1963, S.184-190. 11 Joachim Bumke, Die Wolfram von Eschenbach Forschung seit 1945, Bericht und Bibliographie, München 1970. - Ders., Wolfram von Eschenbach (= Sammlung Metzler 64), Stuttgart 21966. 12 V gl. Anm. 1. 13 Christian von Troyes, Der Percevalroman, herausgegeben von Alfons Hilka, Halle 1932, V. 3428ff. 14 Parzival138,9-141,28; 249,11-255,30; 435,1-442,25; 804,8-805,15. 10 Max Wehrli rin, die über dem Grab ihres Geliebten in asketischer Andacht trauert, und schließlich, nach seiner Berufung zum Gral, findet Parzival sie als Tote, um sie zu bestatten. Sie trägt nun einen Namen: Sigune; ihr toter Freund heißt Schionatulander; er ist von Orilus, einem auch bei Chrestien - in anderer Funktion - erscheinenden Ritter, erschlagen worden. Mit rätselhafter An deutung wird die Ursache von Schionatulanders Tod genannt: ein brackenseil gap im den ptn (141,16), und Sigune klagt sich an: ich hete kranke sinne, daz ich im niht minne gap (141,20f.). Die vier berühmten Siguneszenen, die sich nun durch den Parzivalroman ziehen, ergeben einen kleinen Roman, eine Seelen geschichte - Leit- und Gegenbild vielleicht zur Figur und zum Weg Parzi vals. Zugleich mit dieser Vervollständigung ist aber auch eine weitere Ver fremdung eingetreten, ganz abgesehen von der bleibenden Statik der vier Momentaufnahmen: Sigune sitzt vor eines felsen orte bei der ersten Begegnung, dann, merkwürdig genug, mit dem einbalsamierten Leichnam auf einer Linde; sie ist es, die beidemal Parzival erkennt und bei Namen nennt; sie verkörpert die kühne Vorstellung einer Inkluse, die nicht etwa ihr Welt leben büßt, sondern die Treue zum toten Freund (nu minne i'n also tOten 141,24) zugleich als Gottesdienst, als lebenslange venje, übt. Sigune auf der Linde : Vor allem dieses Bild fasziniert mit seiner traumhaften Symbolik - wie immer man es erklären mag, als Folge eines sprachlichen Mißverständ nisses, als Hochsitz, als Reminiszenz an Baumkult, Baumheilige, Baum bestattung oder als eine frühe dichterische Erscheinungsform des Vesper bildes, der Marienklage. Für letzteres spräche, daß Chrestiens Motiv vom abgehauenen Kopf beseitigt ist und eine allerdings späte Parzival-Hand schrift die Szene mit einer pietaartigen Darstellung versieht15• Wahrschein licher ist allerdings, daß mit der erst wesentlich später faßbaren Pieta-Figur nur die symbolische Haltung der Treue und der Trauer gemeinsam ist und daß in beiden Fällen das Klagebild aus dem erzählerischen Ablauf eines Geschehens herausgelöst und fixiert erscheint16• Im allgemeinen sieht man in Wolfram selbst den Urheber dieses Sigunen zyklus, wie immer man sonst die verzweifelte Quellenfrage des ,Parzival' beantwortet. Die Neuerungen liegen durchaus im Rahmen Wolframs eher Grundtendenzen der Stoffkonzeption; die eigentümliche Statik der Sigunen szenen, d. h. die Technik einer Erzählung als Kette von Einzelbildern, kann 15 Vgl. Elisabeth Reiners-Ernst, Das freudvolle Vesperbild und die Anfänge der Pieta Vorstellung, München 1939, Abbildung vor S. 73. 16 Klagegebärde: Rolandslied 7516f., Wigalois 7737ff.; vgl. Julius Schwietering, Sigune auf der Linde (1920), in: Philologische Schriften, herausgegeben von F. Ohly und M. Wehrli, München 1969, S.136-140. Jetzt Erich Wimmer, Maria im Leid, Diss. Würzburg 1968. Wolframs >Titurel< 11 später auch in den Titurel-Fragmenten wiedererkannt werden. Anregungen aus anderer Quelle sind allerdings nicht auszuschließen: in der französischen Prosa der ,Queste'17 erscheint auch eine Inkluse, die sich als Tante Percevals vorstellt und ihm den Tod seiner Mutter berichtet. Schwer begreiflich ist der im ,Parzival' fallende, isolierte Satz: ein brackenseil gap im den pfn - und die Anspielung, Schionatulander habe in unser zweier dienste den Tod erjagt (141). Friedrich Ohly sieht darin den "dichterischen Funken, der auf blitzt und verlischt"18, eine von V eldekes Aeneasroman (1766-90) ange regte Motivationsidee. Glaubt man nicht an eine mit dem ,Parzival' gleich zeitige Entstehung des ,Titurel', so macht die Vorstellung Mühe, Wolfram habe erst längere Zeit nachher auf diesen ersten Einfall zurückgegriffen. Man kann Wolframs Bemerkungen im ,Parzival' allerdings auch dahin ver stehen, als ob sie auf einen dem Hörer bekannten Tatbestand verweisen. Mit andern Worten: für die Sigune-Schionatulanderhandlung stellt sich schon in ,Parzival' die Quellenfrage; auch wenn der ,Titurel' quellenmäßig weithin aus der Substanz des ,Parzival' sowie aus weiteren Anregungen durch deutsche Werke abgeleitet werden kann, bleibt doch prinzipiell die Mög lichkeit eines präexistierenden Schionatulanderromans, sei es im Rahmen der Parzival-Vorlage ("Ky ot"), sei es unabhängig davon. III Doch nun endlich zu diesen Titurel-Fragmenten selbst. Die erste Stro phenfolge (rund 130 Strophen) bildet wohl den Anfang der geplanten Komposition: der Gralskönig Titurel übergibt im Alter sein Reich den Nachkommen; eine Urenkelin ist Sigune, Tochter der an der Geburt ster benden Gralsprinzessin Schoisiane und des katalanischen Fürsten K yot, der darauf der Welt entsagt und zum Klausner wird. Sigune, an verwandten Höfen zunächst mit Kondwiramurs, dann mit Parzival erzogen, trifft auf einen Pflegesohn Gahmurets, Schionatulander; es entspinnt sich, in extrem höfischen, empfindsamen Formen ein Jugend-Minneverhältnis: gegenseiti ges Geständnis, in feierlich-klagenden Reden Abschied Schionatulanders, der mit Gahmuret in den orientalischen Krieg zieht, Billigung der Minne seitens Herzeloydes und Gahmurets. Das zweite Stück, rund 40 Strophen, 17 Queste del Saint Graal: ed. H. O. Sommer (The Vulgate Version of the Arthurian Romances VI). Inhaltsangabe bei J. D. Bruce, The Evolution of Arthurian Romance II, Göttingen 1924, S. 362, und Adolf Birch-Hirschfeld, Die Sage vom Gral, Leipzig 1877, S. 40f. 18 Friedrich Ohly, Die Suche in Dichtungen des Mittelalters, ZfdA 94 (1965), S.179.