Jürgen Fohrmann Wilhelm Voßkamp H g. Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert Herausgegeben von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp Mit Beiträgen von Uwe Meves, Rainer Kolk, Herber! H. Egglmaier, Ulrich Hunger, Rüdiger Krohn, Nikolaus Wegmann, Hans-Martin Kruckis, Holger Dainat, Cornelia Fiedeldey-Martyn, Jürgen Fahr mann, Maximilian Nutz, Christian Grawe, Detlev Kopp Verlag J.B. Metzler Stuttgart ·Weimar Die Deutsche Bibliothek-CIP-Einheitsaufnahme Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert/ hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Mit Beitr. von Uwe Meves ... - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1994 ISBN 978-3-476-00990-6 NE: Fohrmann, Jürgen [Hrsg.]; Meves, Uwe ISBN 978-3-476-00990-6 ISBN 978-3-476-03523-3 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-03523-3 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 1994 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzlersehe Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1994 ~ EIN VERLAG DER. SPEKTRUM FACHVERLAGE GMBH Vorwort Die vorliegende Darstellung zur Geschichte der Germanistik ist weitgehend aus dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft über mehrere Jahre unterstützten Projekt zur »Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft im 19. Jahrhundert« hervorgegangen. Für die großzügige Förderung, die auch noch einen Zuschuß für die Drucklegung einschloß, sind die Herausgeber der DFG zu großem Dank verpflichtet. Daneben möchten wir auch jenen Kolle gen danken, die die Projektarbeit begleiteten und am Ende bereit waren, ihre Beiträge für den Band zur Verfügung zu stellen. Unser Dank gilt ebenfalls den Bielefelder und Kölner Universitätsbiblio theken, ohne deren kooperatives Verhalten eine solche umfassende For schungsarbeit nicht möglich gewesen wäre. Großer Dank ist schließlich Gerd Müller und Hedwig Pompe abzustatten, die die Drucklegung der Publikation besorgten und Petra Trösch, die das Personenregister erstellte. Der J. B. Metzlersehen Verlagsbuchhandlung sind wir für die Aufnahme in ihr Verlagsprogramm verbunden. Der nun vorliegende Band gibt in seinen bibliographischen Teilen den Stand der wissenschaftsgeschichtlichen Diskussion bis zum Jahre 1989 wieder. Für die nachfolgenden Jahre verweist er auf die »Marbacher Mitteilungen« des »Marbacher Arbeitskreises für die Geschichte der Germanistik«, die peri odisch eine jeweils umfassende Bibliographie zum Thema anbieten. Bann und Köln, im Dezember 1993 Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp VI Inhalt Einleitung JÜRGEN FüHRMANN Von den deutschen Studien zur Literaturwissenschaft ........... . WILHELM VossKAMP >Bildung< als Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Der Name UWEMEVES Zur Namensgebung >Germanistik< 25 Institutionengeschichte RAINER KOLK Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Vorbemerkung 48 · Zur Erforschung deutscher Sprache und Literatur vor 1800 49 · Anfänge und institutionelle Etablierung der Germanistik (1800-1840) 55 · Konsolidierung und Kontroverse 1840-1880 79 · Ak tualisierungen und Neuansätze ( 1880-1910) 97 UWEMEVES Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie: Die Periode der Lehrstuhlerrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Vorbemerkung 115 · Ausgangspunkt: Die Situation um 1810 118 · Eta blierungsphase: Von 1810 bis zum Ende der 40er Jahre 129 · Das Fach Deutsche Philologie und die Lehrerausbildung 150 · Der Beginn der Kon solidierungsphase: Die 50er Jahre 165 · Das Fach Deutsche Philologie auf dem Weg zur Brotwissenschaft 177 · Der Abschluß der Konsolidie rungsphase: Die 60er Jahre 186 · Schlußbemerkung 194 · Anhang: Tabellen 197 Inhalt VII HERBERT H. EGGLMAIER Entwicklungslinien der neueren deutschen Literaturwissenschaft in Österreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Altgermanistik ULRICH HUNGER Die altdeutsche Literatur und das Verlangen nach Wissenschaft. Schöpfungsakt und Fortschrittsglaube in der Frühgermanistik 236 RüDIGER KROHN » ... daß Alles Allen verständlich sey ... «. Die Altgermanistik des 19. Jahrhunderts und ihre Wege in die Öffentlichkeit . . . . . . . . . . 264 Sicherung des Überlieferten 267 · Poetische Wiedergewinnung 276 · Rückkehr zu den Originalen 286 · Kommentare als Verständnishil- fen 292 · Mehrstufige Annäherung 301 · Selbst-Verständlichkeit des Textes 309 · Verständlichkeit als Programm 319 Philologie, Neugermanistik, Selbstreflexion NIKOLAUS WEGMANN Was heißt einen >klassischen Text< lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 >Philologie<, >Germanistik<, >deutsche Literaturwissenschaft< ... 334 · Ge lehrte Philologie. Krise und Neuformierung 337 · Positiver Wert und didaktischer Zweck. Philologie als finale Einheit ( Friedrich August Wolf) 353 · Philosophie der Philologie. Philologie als operative Einheit ( Friedrich Schlegel und August Boeckh) 371 · Selbstreflexion als Klassi ker-Philologie? Philologische Lektüre zwischen Moral und Epistemologie (Kar/ Lachmann) 399 · >Wissenschaft< vs. >Bildung<. Selbstreflexion als disziplinäre Selbstkritik (Friedrich Nietzsche) 419 · Bibliographie 441 HANS-MARTIN KRUCKIS Goethe-Philologie als Paradigma neuphilologischer Wissenschaft im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Frühe neuphilologische Programme 451 · Empirismus und Erbauung: Danzels Programm einer kommenden Goethe-Philologie 455 · Goethe Philologie als nationale Bildung 463 · Institutionalisierungsschwierigkei ten und Autopoiesis der Mikrologie 472 · Scherer und das Ende der >klassischen< Goethe-Philologie 480 HOLGER DAINAT Von der Neueren Deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissen- schaft. Die Fachentwicklung von 1890 bis 1913/14 . . . . . . . . . . . . . . 494 VIII Inhalt HOLGER DAINAT/CORNELIA FIEDELDEY-MARTYN Literaturwissenschaftliche Selbstreflexion. Eine Bibliographie, 1792-1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 Wissenschaftliche Genres HANS-MARTIN KRUCKIS Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 JÜRGEN FüHRMANN Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 Öffentlichkeit und Klassikerrezeption MAXIMILIAN NUTZ Das Beispiel Goethe. Zur Konstituierung eines nationalen Klassikers . 605 Zur Genese des Ruhms: Repräsentant und Projektionsfigur 609 · Arbeit am eigenen Denkmal613 · Lehrmeister personaler Bildung 617 · Von der negativen Symbolfigur zum nationalen Klassiker 621 · Identitäts/in- dung und Besitzerstolz 624 · Institutionalisierung und lnstrumentalisie- rung eines >Kults< 629 · Die Etablierung einer Wissenschaft als Goethe Philologie 633 CHRISTIAN ÜRAWE Das Beispiel Schiller. Zur Konstituierung eines Klassikers in der Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 Literaturwissenschaft und Deutschunterricht DETLEV KOPP (Deutsche) Philologie und Erziehungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 Klassische Philologie, Lateinunterricht und Deutschunterricht bis 1800 669 · Philologie(n) und gymnasialer Unterricht im 19. Jahrhun- dert 695 Bibliographien CüRNELIA FIEDELDEY-MARTYN Bibliographie zur Wissenschaftsgeschichte der deutschen Literatur wissenschaft 1973-1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 42 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768 Einleitung: Von den deutschen Studien zur Literaturwissenschaft JüRGEN FüHRMANN (Bonn) Eine Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur gewinnt Konturen mit dem Humanismus. Seit der Wiederentdeckung der Taciteischen Germania um 1500 und seit ihrer Ummünzung für patriotische Ziele durch Celtis, Wimpfeling, Aventinus, Beatus Rhenanus u.a. entsteht ein Diskurs, der es ermöglicht, auch die Bedeutung deutscher Poesie zu bestimmen. Sie erscheint als Teil einer großen, gemeinsamen Anstrengung. Diese Anstrengung ist die erste Stufe >germanistischer< Wissenschaft. Die kulturelle Suprematie vor nehmlich der Italiener und Franzosen, die als Verdopplung politischer Hege monie auftrat und noch von der Parole zehrte, die Germanen seien >barbari<, wird nun im Nachweis relativiert, daß auch die Deutschen über eine schöne Sprache, eine kulturelle Tradition und damit auch über gelungene (poetische) Artefakte verfügten. Alle Belege dafür sollen möglichst vollständig gesammelt (deutsche Namen, deutsche Poesie, deutsche Rechtsaltertümer ...) und sollen später-nach italienischem Vorbild-eine >Germania illustrata< ergeben, ein topographisches Verzeichnis germanischer Leistungen.' Diese Leistungen sind noch nicht oder nur in Ansätzen intern differenziert. Zwischen Poesie, Grammatik, Namenforschung oder Rechtsaltertümern wird im Rahmen des gemeinsamen Wertnachweises kein Unterschied gemacht; sie alle dienen nämlich dem Ziel, zum Ruhm der Deutschen beizutragen, und ganz unabhängig davon, welcher Sparte sie angehören, spricht aus ihnen - in Herders berühmter Formulierung-derselbe »Genius der Nation«. Ziel ihrer Präsentation ist es also nicht, die besondere Bedeutung der Poesie zu betonen, sondern ihr Sinn ergibt sich erst in der einen verbindenden, nationalen Aus richtung, für die es gilt, ein möglichst umfassendes Belegreservoir bereitzustel len. Vollständigkeit, einheitliche Darbietung und programmatische Sakralisie rung sind dann die Techniken, die es ermöglichen sollen, in der Querelle der Nationen die Ehre der als Barbaren belächelten Deutschen zu retten. Dieses agonale Projekt bleibt bestehen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Noch Gottsched etwa bietetallseinen Sammeleifer aufund präsentiert seinen »Nö- Siehe dazu und zum folgenden Jürgen Fohrmann, Das Projekt der deutschen Litera turgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1989. 2 Jürgen Fohrmann thigen Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst«, um im Nachweis deutschen dramatischen Fleißes die Nachbarn, vornehmlich die Franzosen, entschieden zu »demütigen«.2 Die Gegenstände, die auf diese Weise ihrer Vergessenheit entrissen werden, unterliegen damit einer einsinnigen Referentialisierung. Sie werden nicht ein gebaut in ein Netz variierender Sinnbezüge, sondern werden stets verpflichtet auf die eine agonale Strategie. Es liegt auf der Hand, daß auf diese Weise weder eine Auskopplung des poetischen Gegenstandsbereiches noch eine im modernen Sinn verstandene Geschichtsschreibung (der Literatur) möglich wurde. Agent dieses Wertnachweises war daher nicht der dann von Herder be schworene Historiograph der menschlichen Geschichte, sondern der sam melnde und ordnende Literator. Seine Betätigung ruhte noch ganz in der gelehrten und noch nicht in der disziplinären Gemeinschaft. Vom Gelehrten adel bevölkert, beanspruchte diese Iiterale Sozietät, das gesamte Gebiet des Wissens zu umfassen. Mithin gab es keine funktionale Differenzierung, die die Kenntnisse nach autonomen Fächern aufteilen würde, sondern nur die hierar chische Ordnung der oberen und unteren Fakultäten. In diesem Sinne bildete die alteuropäische Gesellschaft sich in ihrem Wissenschaftssystem noch ein mal ab.3 Den unteren Fakultäten oblag es, das ganz ungeordnete Feld der historia für das Gedächtnis (memoria) festzuhalten. Des Gedächtnisses wie derum, als einem Reservoir für Exempel und Belege, bedurften dann die oberen Fakultäten, die für ihre allgemeinen Sätze verschiedene, aber stets beispielhafte Illustrationen benötigten. Dem Literator in der gelehrten Ge meinschaft, dem die Beschäftigung mit Polyhistorie oder historia literaria zukam, ging es daher darum, die gesamte Geschichte des Wissens - und das hieß auch: die Geschichte des Wissens über das Wissen-klassifikatorisch zu erfassen und im Aufschreiben jenem Vergessen, das immer auch Rückfall in ungebildete Zeiten, in Barbarei, bedeutete, entgegenzuwirken. Schon im Auf weis des Wissens begründete sich die Bedeutung der gelehrten Kultur. Von deutscher Sprache und Literatur Kenntnis zu haben, meinte so auch, etwas Wertvolles der corruptio entwunden, und die Wohlgeformtheit deutscher Rede und Poesie zu betonen, hieß, dem Anspruch anderer >Nationen< etwas gegenüberzustellen zu haben. Je mehr man wußte, desto besser; gerade die Menge der Kenntnisse differenzierte dann einen Literatorenstand, der noch keine fachspezifische, den Zugang zur Gelehrsamkeit disziplinär regulierende Beobachtersemantik hervorgebracht hatte. Auch wenn in diesem Modell die Produktion von Wissen noch ungeordnet und weitgehend diskontinuierlich verlief, war seit dem Anfang des 18. Jahr hunderts eine Zunahme an Kenntnissen zu verzeichnen, die in der Litterärge- 2 Johann Christoph Gottsched, Vorrede zum Nöthigen Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst, 2 Thle., 1757-1765, in: Ders., Schriften zur Literatur, hrsg. von Horst Steinmetz, Stuttgart 1972, S. 279. 3 Vg l. dazu Rudolf Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftli cher Disziplinen-Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt a. M. 1984.