Gerald Holton Wissenschaft und Anti -Wissenschaft SpringerW ienN ewYork Prof. Gerald Holton Harvard University, Cambridge, USA Titel der englischen Originalausgabe: "Science and Anti-Sciencef{ Published by the Harvard University Press, © Harvard University Press 1993 Ubersetzt: Mag. E. Martina Bauer, Bisamberg Das Werk ist urheberrechtlich geschutzt. Die dadurch begriindeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ahnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2000 Springer-Verlag/Wien Satz: Composition & Design Services, Minsk, Belarus Graphisches Konzept: Karin Kutsam Gedruckt auf saurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier - TCF SPIN: 10685535 Mit 2 AbbHdungen Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz fur diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhaltlich ISBN -13:978-3-211-83245-5 e -ISBN -13:978-3-7091-9485-0 DOl: 10.1007/978-3-7091-9485-0 Vorwort Woran erkennt man gute Wissenschaft? Welches Ziel - wenn ein solches uberhaupt existiert - zeichnet sich am Ende als der eigent liche Zweck jeder wissenschaftlichen Tatigkeit ab? Aufwelche legi timierende Autoritat konnen sich Wissenschaftler berufen? Diese aUen Fragen, fur die jede Epoche ihre eigenen Antworten sucht, werden heute wieder heftig diskutiert. Ich habe fur dieses Buch Antworten ausgewahlt, die hauptsachlich in unserem Jahr hundert entstanden sind und in erster Linie an den Worten und Handlungen von Wissenschaftlern und Wissenschaftsphilosophen ablesbar sind. Wie die Leser meiner fruheren Bucher erwarten wer den, verstehe ich Worte und Handlungen nicht im abstrakten Sinn, sondern im Rahmen konkreter historischer FaIle. So zeichnet das erste Kapitel nach, wie der Standpunkt der Empi riker des neunzehnten Jahrhunderts bezuglich der Frage, wie gute Wissenschaft sein soUte - vor all em die Darstellung, die wir in Ernst Machs Arbeiten finden -, die Gedanken von Wissenschaftlern und Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts, oft indirekt und in ver anderter Form, beeinfluBt hat, unter ihnen zum Beispiel Jacques Loeb, B. F. Skinner, Philipp Frank, P. W. Bridgmann, W. V. Quine und einige ihrer Kollegen. Die folgenden Kapitel behandeln auf ahnliche Weise die Kontroversen und die Rhetorik uber den richti gen Gebrauch, die Ziele und die Legitimation der Wissenschaft, die man bei richtungsweisenden Personlichkeiten wie Albert Einstein, Max Planck und Niels Bohr, aber auch bei weniger bekannten Ver tretern wie Joseph Petzoldt und Walter Kaufmann findet. Da mitt lerweile klar geworden ist, daB die beiden Standardmodelle, nach denen Forschung betrieben wird und die im allgemeinen auf New ton bzw. Bacon zuruckgefuhrt werden, nicht mehr den Bedurfnis sen unserer heutigen Zeit entsprechen, widmet sich Kapitel 4 dem VI Vorwort Aufstieg eines ddtten, neuen Losungsansatzes, der in der Art, wie Thomas Jefferson an die Wissenschaft herangeht, wurzelt. In der zweiten Hdlfte dieses Jahrhunderts werden von verschie denen Seiten vermehrt Stimmen laut, da£. "gute Wissenschaft" von Natur aus ein Oxymoron ist und da£. Wissenschaft, in der Form, in der wir sie kennengelernt haben, letztlich entweder sich selbst zerstOrt (Oswald Spenglers Position) oder das soziale Gleich gewicht beeintrdchtigt (zum Beispiel in den Passagen, die aus den Arbeiten V6clav Havels zitiert werden). Daher konzentriere ich mich in den beiden letzten Kapiteln auf die Frage, wie zwei Kon frontationen zu verstehen sind: zum einen der Konflikt zwischen der Ansicht, da£. die Wissenschaften von Natur aus schlie£.lich dem Verfall bestimmt sind, und der Gegenmeinung, da£. die Wis senschaften dazu bestimmt sind, in einem kohdrenten Ganzen des Verstdndnisses aller Phdnomene der Natur aufzugehen; zum an deren der bekanntere Kampf zwischen praktizierenden Wissen schaften und den Gegnern, die fur eine "alternative" oder Anti Wissenschaft eintreten, insbesondere in der Form, die auf einem Weltbild begriindet ist, innerhalb dessen Anti-Wissenschaft einen substantiellen Bestandteil einer politisch ambitionierten Bewe gung darstellt. In diesem Kapitel wird, wie ubrigens im gesamten Buch, ein deutliches Wechselspiel zwischen den Interessen der Wis senschaft und dem turbulenten Verlauf der offentlichen Debatte erkennbar; ich hoffe, da£. eine Weiterentwicklung der ersteren zu mehr Klarheit in der letzteren fuhren wird. Ich mochte mich sehr herzlich fur die Unterstutzung durch die Andrew-W.-Mellon-Foundation bei den Recherchen fur einige Pas sagen dieses Buches bedanken und mochte nochmals Fr. Joan Laws fur die fachkundige Untersttitzung bei allen Aufgaben, die bei der Umsetzung von Gedanken in gedruckte Seiten bewdltigt wer den mussen, meinen Dank aussprechen. Herr Dr. Gerhard Sonnert hat die Dbersetzung dieses Buches ins Deutsche sorgfdltig uberarbei tet und verbessert; dafur gilt ihm meine besondere Anerkennung. Inhaltsverzeichnis 1. Ernst Mach und die Geschichte des Positivismus .................... 1 2. Mehr tiber Mach und Einstein ................................ ................ 61 3. Quanten, Relativitat und Rhetorik ......................................... 83 4. Das Jeffersonsche Forschungsprogramm ................................ 123 5. Die Kontroverse tiber das Ende der Wissenschaft ................... 143 6. Das Antiwissenschafts-Phanomen .......................................... 167 Quellenverzeichnis ..... .... ................ ... .................. ....................... 219 Index .......................................................................................... 221 1 Ernst Mach und die Geschichte des Positivismus G. Holton, Wissenschaft und Anti-Wissenschaft © Springer-Verlag/Wien 2000 Zwischen 1910und 1914langten beim Nobelpreiskomitee in Stock holm zahlreiche Briefe und Petitionen von Wissenschaftlern ein, die Ernst Mach fur den Nobelpreis in Physik vorschlugen. Ein Brief stammte von H. A. Lorentz, der Machs "schone Arbeiten", beson ders auf den Gebieten der Akustik und der Optik, deren Glanz auch tatsochlich bis zum heutigen Tage nicht verblaBt ist, lobte und hin zufugte, daB "aUe Physiker" Machs historische und methodologi sche Bucher kennen und "zahlreiche Physiker ihn als Lehrer und als Leitfigur fur ihre Gedanken verehren". (Einige Jahre spoter for mulierte es Albert Einstein, in seinem Nachruf auf Mach aus dem Jahr 1916, noch eindrucksvoUer: "Ich glaube sogar, daB diejeni gen, welche sich fur Gegner Machs halten, kaum wissen, wieviel von Machscher Betrachtungsweise sie sozusagen mit der Mutter milch eingesogen haben.") Ferdinand Braun wies in seinem No minierungsbrief darauf hin, daB der Nobelpreis wohl bald fur die neue Theorie uber Raum und Zeit verliehen werden musse, und folglich der Preis zuerst an Mach, als When Verfechter der Ideen, die in diese Richtung weisen, und als bedeutenden Experimental physiker, gehen soUte; auch Braun betonte den weitreichenden Ein fluB, den Mach durch "seine klaren und profunden historisch physikalischen Studien" und seine philosophischen Erlouterungen ausubte.! Wie allgemein bekannt ist, signierte Einstein - der spoter in seiner Autobiographie eingestand, daB Machs Mechanik tief greifenden EinfluB auf ihn ausgeubt hatte, und daB Machs Vor bild des kritischen Denkens eine Voraussetzung dafur war, daB er den Schlussel zur Relativitat entdeckte -, nur wenige Jahre be vor diese Briefe in Stockholm einlangten, eines seiner Schreiben an Mach mit den Worten "Ihr Sie verehrender SchUler".2 Auch die nochste Physikergeneration, die mit den Problemen der neu en Quantenmechanik befaBt war (z.B. Werner Heisenberg und Wolfgang Pauli), fand in Mach eine Orientierungshilfe fur ihre Gedanken. 4 Wissenschaft und Anti-Wissenschaft Zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte der Wissenschaft finden wir einige Einzelpersonen, von denen ihre Zeitgenossen der Ansicht sind, daB sie neue Antworten auf die alten Fragen tiber die eigentli che Aufgabe der wissenschaftlichen Arbeit und den Platz, den die Wissenschaft in der Kultur einnehmen solI, aufzeigen. Zwischen den 1880er Jahren und den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahr hunderts war Mach einer dieser wenigen. Zumindest unter Wissen schaftlem war Mach anerkannt ills einer der erfolgreichsten Mit streiter im Kampf der Empiriker gegen Vorstellungen, die "absolute GroBen implizierten, welche die Wissenschaft des neunzehnten II Jahrhunderts durchdrungen hatten (z.E. absolute GroBen fur Raum, Zeit, Materie, Lebenskraft). In Philosophenkreisen wurde Mach ent weder bewundert oder angegriffen, wei! er energisch an seiner em pirischen Vorstellung von der Wissenschaft festhielt, deren wahr scheinlich essentiellster Punkt in einem knappen Absatz des Phi losophen Moritz Schlick festgehalten wurde: Mach war Physiker, Physiologe und auch Psychologe, und seine Philosophie ist ... dem Wunsche entsprungen, einen prinzipiellen Standpunkt zu finden, auf dem er bei jeder Forschung verharren konnte, den er also nieht zu wechseln brauchte, wenn er aus dem Gebiete der Physik in dasjenige der Physiologie oder der Psycholo gie hinubertrat. Solch einen festen Ausgangspunkt gewann er da durch, daB er zuriickgriff auf dasjenige, was var aller wissenschaft lichen Betatigung gegeben ist: das ist aber die Welt der Empfindungen ... Da aIle unsere Aussagen uber die sogenannte AuBenwelt sieh nur stutzen auf Empfindungen, so konnen und mussen nach Mach diese Empfindungen und Komplexe von solchen auch als einzige Gegenstande jener Aussagen aufgefaBt werden, und es bedarf nieht noch der Annahme einer hinter den Empfindungen verbor genen unbekannten Wirklichkeit. Damit wird die Existenz der Din ge an sieh als eine ungerechtfertigte, unnotige Annahme abge tan. £in Korper, ein physischer Gegenstand ist niehts anderes als ein Komplex, ein mehr oder weniger fester Zusammenhang von Empfindungen, das heiBt von Farben, Tonen, Warme-und Druck empfindungen usw.3 Obwohl Mach wiederholt leugnete, eine systematische Philosophie zu vertreten, ergriff er jede sich bietende Gelegenheit, urn seinen EinfluB weit tiber die Physik hinaus zu sichem, ebenso wie er ouch beabsichtlgte, seinen EinfluB tiber die Grenzen seines Heimatlan des hinaus auszudehnen. Und tatsachlich stellte sich heraus, daB sich seine Ideen - und zwar ofter durch den Machschen Geist als Ernst Mach und die Geschichte des Positivismus 5 durch eine direkte Ubertragung rein positivistischer Thesen - fUr viele in ganz Europa und Amerika, die sich in einem breiten Spek trum von intellektuellen Bestrebungen nach Modernismus sehn ten und die die unerschiitterliche Uberzeugung einer Minderheit vertraten, welche metaphysische und hierarchische Systeme zu Gunsten eines einheitlichen, sich auf Empirie stiitzenden Weltbildes offen ablehnte, fUr die Ubernahme oder die Adaption eigneten. Nachdem Mach im Jahre 1867 seiner Berufung auf den Lehrstuhl fUr Experimente11e Physik in Prag gefolgt war, bildete sich ein weit verzweigtes Netzwerk von Bewunderern und Kritikern seiner Ideen, die ihn, innerhalb weniger Jahrzehnte, zu einer der richtungwei senden Personlichkeiten bei der Ausgestaltung des modernen Weltbildes machten.4 Sein Werk wurde gelesen, diskutiert und an gewandt, nicht nur von Physikem, sondem auch von bedeutenden Denkern aus Mathematik, Logik, Biologie, Physiologie, Psychologie, Volkswirtschaft, Wissenschaftsgeschichte und -philosoph ie, Rechts wissenschaften, Soziologie, Anthropologie, Literatur, Architektur und padagogik.5 Anfangs noch langsam, doch nach und nach immer rascher wurde Machs Lehre, oft in stark modifizierten Versionen, in die Denkgebaude von Wissenschaftlem in ganz Europa und, wie wir noch sehen werden, insbesondere in jenem Land, das ihm zu sei nem groil.en Bedauern nie zu besuchen vergonnt war, das er je doch das "Land meiner tiefsten Sehnsucht" genannt hatte, in den Vereinigten Staaten von Amerika, integriert.6 Man kann durchaus behaupten, und dies wird spater in diesem Buch durch Beispiele be legt werden, dail. es langfristig keinen fruchtbareren Boden fUr die Entwicklung und die Umformung von Machs Ideen gab als die Vereinigten Staaten, ein Land das traditionsgemail. offen ist fUr Empirismus und Pragmatismus. Die Bereitschaft amerikanischer Wissenschaftler im neunzehnten Jahrhundert, einige Version en des europaischen Positivismus und Empirismus aufzunehmen, wurde bereits beispielsweise im Zusammenhang mit J. B. StalIo und C. S. Peirce untersucht. Ihnen fehlte es nicht an unabhangigen Ideen, und sie gaben oft ihrer offenen Ablehn ung Ausdruck; als Bestatigung da fUr muil. man nur den ursprunglichen Gedanken in Sta110s Concepts and Theories in Modem Physics folgen oder die schonungslosen Passa gen in Pierces Rezension von Machs Mechanik nachlesen. Aber Ame rika war bereit fUr Mach. Darin liegt eine gewisse poetische Gerech tigkeit. Wie wir aus Machs verschiedenen Autobiographien wissen, waren die Benediktinermonche seines Gymnasiums der Ansicht,
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