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Wilhelm Reich, der Körper und der aktuelle Konflikt PDF

92 Pages·2017·1.99 MB·German
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Wilhelm Reich, der Körper und der aktuelle Konflikt  Historische und zeitgenössische Anmerkungen zum Verhältnis von   Tiefenpsychologie und Körperpsychotherapie       „Für Freud war der Mensch ein tragischer Irrtum, bei Jung konnte er Heiligkeit erlangen,  aber nur bei Reich erscheint er als ein letztendlich einfaches und anständiges Wesen, das dazu  bestimmt ist, in Liebe und Glück mit seinen Mitmenschen zusammenzuarbeiten.“ H. Mulisch1  ​   „Jeder hat auf diese oder jene Weise recht; die Frage ist, herauszufinden, auf welche Weise.“   2 W. Reich     1. Einführung. „Freud war ein großer Mann, ein sehr großer Mann.“ (W. Reich)    Freud, der Begründer der Psychoanalyse, war Reichs bewunderter Lehrer. Auch nachdem er  sich inhaltlich schon weit von seinem Mentor entfernt hatte hielt er ihn in Ehren. In einem  Interview, das er 1952 dem damaligen Sekretär des Sigmund Freud Archivs, Kurt Eissler,  gab, sprach Reich bei aller sachlicher Kritik voller Verehrung von Freud, den er mit  Kolumbus verglich. Er rühmte ihn als diejenige Person, die der Sexualität zur  Selbst­Bewußtwerdung verhalf.3 Bis zu seinem Tod 1957 blieb Reich voller Achtung für  seinen ehemaligen Lehrer. Eine durchaus bewundernswerte Haltung für einen Mann, den  Freud mehrere Male zurückgewiesen, ja verraten hatte.    In einer seiner letzten Veröffentlichungen beschrieb Reich 1956, welche Freudianischen  Prinzipien für ihn die bedeutsamsten waren, die seiner eigene Arbeit eine stabile Grundlage  gegeben hätten:  Sexuelle Ätiologie der Neurosen, die Existenz unbewußter Daseinsbereiche  (realms of existence), die Verdrängung, der Widerstand. Diesen „Freudianischen Prinzipien“  sprach er eine „rockbottom quality“ (Reich 1956, S. 3) zu.     Reichs epochales Lebenswerk ist ohne die Inspiration durch Freud nicht vorstellbar. Die  Diskussion des Zusammenhangs zwischen symbolischer und somatischer Welt, zwischen  Soma und Psyche, zwischen einem unbewußten Seelenleben und physiologischen Prozessen  ist in Freuds Schriften immer wieder spürbar. Sigmund Freud war studierter Arzt mit einer  fachlichen Spezialisierung in Neuroanatomie. Er gab zeitlebens die Hoffnung nicht auf, seine  Erkenntnisse über die unbewußten Wirkkräfte auf eine feste organische Grundlage zu stellen.4     Daß Freud enge Zusammenhänge zwischen Seelischem und Körperlichen offensichtlich  vermutete, beleuchtet folgendes Zitat:    „... fast alle seelischen Zustände eines Menschen äußern sich in den Spannungen  1 Mulisch 1973/1999, S. 96  2 Zitat bei Sharaf 1994, S. 379  3 „Die Sexualität wurde sich selbst bewußt in der Person von Sigmund Freud “ (Reich 1967, S. 105)  4 "Ich neige überhaupt nicht dazu, das Gebiet der Psychologie so wie bisher in der Luft hängen zu lassen. d.h.  ohne organische Begründung. Aber ich besitze weder theoretische noch therapeutische Kenntnisse  über die  bloße Überzeugung hinaus  also muß ich mich so verhalten, als hätte ich nur die Psychologie vor mir."  (Freud.  zit. bei E. Jones, S. 395) . 2    und Erschlaffungen seiner Gesichtsmuskeln, in der Einstellung seiner Augen, der  Inanspruchnahme seines Stimmapparates und in der Haltung seiner Glieder, vor  allem der Hände. Diese begleitenden körperlichen Veränderungen bringen dem  Betreffenden meist keinen Nutzen, sie sind im Gegenteil oft seinen Absichten im  Wege, wenn er seine Seelenvorgänge verheimlichen will, aber sie dienen dem  anderen als verläßliches Zeichen, aus denen man auf die seelischen Vorgänge  schließen kann und denen man mehr vertraut, als den etwa gleichzeitigen  absichtlichen Äußerungen in Worten.“ (Freud 1905, S. 20, zit. in: Siegel 1997, S.  40)    Schon bevor er seine Lehre des Unbewußten vorlegen sollte, hatte er mit anderen  Therapieformen experimentiert. Es ist bekannt, daß er sich als Hypnotiseur versuchte und  dabei auch eine Art Druckmassage einsetzte, um die Wirkung seiner hypnotischen  Botschaften zu verstärken. Er bewegte sich damit im Rahmen einer recht autoritär  eingesetzten Hypnosetechnik in der Tradition von Liebault und Bernheim, zu der er offenbar  weder Begabung noch Neigung mitbrachte. Er gab diese Versuche bald wieder auf und  wandte sich anderen Dingen zu.    Mit der Konversion war von Freud schon 1894 ein Mechanismus bestimmt worden, mit dem  unbewußte Triebwünsche mit Hilfe von körperlichen Symptomen gebunden werden konnten.  Abgewehrtes emotionales Material konnte, so Freud, über die Bindung in Körpersymptomen  der Ich­nahen Willkürmotorik und Wahrnehmungsorgane unschädlich gemacht werden. Der  Konversionsmechanismus stand im Zentrum der Überlegungen Freuds zu hysterischen  Abwehrmechanismen. Am Anfang der psychoanalytischen Theoriebildung standen somit  Überlegungen zur gegenseitigen Ersetzung von psychischen Mechanismen und körperlichen  Strategien.    1896 hatte Freud in seiner berühmten Schrift „Zur Ätiologie der Hysterie“ eine Traumatheorie  der Hysterie vorgelegt.  Die  hysterische Symptomatik sei demnach die Folge realer sexueller  Verführung oder objektiven sexuellen Mißbrauchs. Im September 1897 bereits distanzierte er  sich von seiner „Verführungstheorie“ in seinem so genannten „Widerrufsbrief“ an seinen  Freund Wilhelm Fließ. Freud rückte nun die kindliche „sexuelle Phantasie“ ins Zentrum  seiner pathogenetischen Überlegungen. Freuds Haltung in dieser Frage war jedoch Zeit seines  Lebens nie ganz eindeutig.5     Dennoch wurde die ätiologische Rolle der Phantasie für die psychoanalytische Gemeinde  entscheidend und prägte die kommenden Jahrzehnte: „Während der oralen und narzißtischen  Konfliktdynamik (...) in der Genese hysterischer Störungen in den vergangenen Jahren mehr  Aufmerksamkeit zuteil wurde, so ist der Bedeutung der äußeren Realität [in  psychoanalytischen Darstellungen der Mißbrauchsthematik] bis zumindest in die Mitte der  achtziger Jahre hinein nur marginal Beachtung geschenkt worden.“ (Brunner & Meyer 1997,  S. 122)    Mitten in diese Zeit des theoretischen Umbruchs bei Freud fiel die Geburt Wilhelm Reichs.  Im Gegensatz zum psychoanalytischen Mainstream sollte er ein engagierter Verfechter des  traumatischen Ursprungs und der sexuellen Ätiologie der Neurosen werden.     5  In Hamburg hat 1996 ein Kongress stattgefunden, der die schwankende Haltung Freuds zum Ausgangspunkt  der Diskussion um „Verführung, Trauma, Mißbrauch“ nahm. (Vgl. Richter­Appelt 1997) 3    Ich will Reichs Kindheit und Jugend etwas ausführlicher schildern, da sie erst durch neue  Veröffentlichungen in jüngster Zeit bekannt geworden ist. 4    2. Das Leben von Reich bis zum Treffen mit Freud. 1897­19196    Reich wurde im März 1897 in Galizien, im östlichsten Teil des österreichisch­ungarischen  Kaiserreichs geboren. Kurz nach seiner Geburt zog die Familie um in die nördliche  Bukowina, damals ebenfalls eine Provinz der Donaumonarchie. Reichs Muttersprache war  Deutsch. Reichs Eltern waren jüdischer Abstammung, doch spielten – anders als in der  Erziehung Freuds ­ jüdisch religiöse Gebräuche und Riten in der Familie keine Rolle. Und  anders als Freud wuchs Reich in vermögenden Verhältnissen auf. Reichs Vater, Leon Reich,  war Großgrundbesitzer und regierte über ein recht profitables Landgut von immerhin 2000  Morgen Land. Leon Reich war ein klassischer autoritärer Patriarch, der der unumschränkte  Herrscher auf seinem Gutshof war. Er soll ein ehrlicher, vitaler und kluger Mann gewesen  sein, von großer körperlicher Kraft, aber auch herrschsüchtig und sehr cholerisch mit einer  Neigung zu starken Temperamentsausbrüchen und starker Eifersucht. Reichs Erinnerungen  sind zwiespältig: Einerseits imponiert er ihm als „kräftige, lebensfrohe, energische“  Erscheinung (Reich 1994, S. 67). Andrerseits charakterisiert er ihn als „Mensch mit ziemlich  ausgeprägtem Narzißmus (der sich jedoch mehr auf das Geistige als auf das Körperliche  bezog) und Sadismus“ (Reich 1994, S. 22), der in des Vaters jähzornigen Ausbrüchen zur  Geltung komme.    Über Reichs Mutter, Cäcilie Reich, geborene Roninger, ist außer Reichs eigenen Aussagen  wenig bekannt. Sie heiratete mit 19 den um etwa zehn Jahre älteren Leon Reich. Im selben  Jahr wurde ihr erstes Kind, eben Wilhelm Reich, geboren.7 Wilhelm Reich sprach später  immer voller Zärtlichkeit über sie. Er betonte ihre Milde, ihre Sanftmut und „unermeßliche  Güte“ und vermerkte ihre „gütigen Augen“. Sie sei für Reich „eine sehr schöne Frau“ (zit. in  Sharaf 1994, S. 56) gewesen, deren Kochkünste, hausfraulichen Fleiß und Ordnungssinn  Reich zeitlebens ­ zum Leidwesen seiner Ehefrau Ilse Ollendorff­Reich – rühmte. Kurz: Reich  hat seine Mutter innigst geliebt (Vgl. Sharaf 1994, Reich 1994). Hören wir eine Beschreibung  über seine Mutter als junge Frau von 33 Jahren: Sie „ (...) war schlank gewachsen, hatte einen  runden Kopf mit wunderschönem weichen Profil und zarten Zügen, schweres rabenschwarzes  Haar, das, aufgelöst, bis an die Kniekehlen reichte, ebenso schwarze Augen, eine gerade,  schmale Nase und einen schneeweißen Teint.“ (Reich 1994, S. 41) Auch sein „Sehnen nach  streichelnder Frauenhand“, das ihn als jungen Erwachsenen oft bedrängt habe, führt er auf die  Berührung durch die Mutter zurück, die ihm oft „streichelnd über mein langes Jahr“  (Reich  1994, S. 19) gefahren sei. Sie sei allseits beliebt gewesen und insbesondere von Reichs  Großvater väterlicherseits geradezu „vergöttert“ (Reich, ebd., S. 41) worden.     Diesem Großvater kommt wohl auch in Reichs Leben eine besondere Rolle zu. Er dürfte  maßgeblich an der ungewöhnlich freigeistigen und liberalen Haltung beteiligt gewesen sein,  die die Atmosphäre  im Hause der Reichs prägte. Reich schreibt über ihn in der  Autobiographie seiner frühen Jahre: „Der Vater meines Vaters wurde als „sehr weiser Mann“  gerühmt. Auch er war Freigeist [wie Reichs Eltern], ein >Denker<, als solcher von den  orthodoxen Juden scheu betrachtet, doch von den ukrainischen Bauern sehr geschätzt. Er  führte ein Landwirtshaus, doch eigentlich überließ er die geschäftlichen Angelegenheiten  6 Ich orientiere mich im folgenden vor allem an der Darstellung durch Reichs Biographen M. Sharaf (Sharaf  1994). Ergänzend habe ich Reichs bereits 1919 und 1937 verfaßte, aber erst 1988 in englisch und 1994 in  deutsch veröffentlichte Autobiographie über sein Leben zwischen 1897 und 1922 herangezogen (Reich 1994),  die Sharaf bei der Abfassung seines Buchs noch nicht vorliegen konnte: Die englische Originalausgabe erschien  bereits 1983. Einige Lücken in Sharafs Text lassen sich durch die Neuveröffentlichung erklären und schließen.  7 Reich hatte zwei Geschwister. Ein 1898 geborenes Mädchen starb schon kurz nach der Geburt. Reichs Bruder  Robert wurde 1900 geboren. Er starb 1926 an Tuberkulose. 5    seiner Frau. Er selbst las viele Bücher, beriet die Bauern, half den Frauen, so gut er konnte,  mit Ratschlägen. Er war, wie man sagte, >Kosmopolit< und >gütiger Menschenfreund<. Er  hielt sich zwar an die jüdischen Regeln, doch nur, um kein Aufsehen zu erregen.“(Reich  1994, S. 13f.)8    Reichs Erziehung durch den Vater war streng.  Reich schreibt, daß er als Kind „große Angst  vor Prügeln hatte, die mir von Seiten meines strengen Vaters reichlich zuteil wurden.“ (Reich  1994, S. 15) Sein Vater sei sehr ehrgeizig gewesen und habe viel von ihm gefordert. Der  jüngere Bruder Robert sei bevorzugt worden. Von Kontakten mit der Dorfjugend hält ihn  Reichs Vater fern, der sehr auf Standesunterschiede achtet. „Es war mir als Kind streng  verboten, mit den Bauern­ und Angestelltenkindern zu spielen. Ich war bis zu meinem 12.  Lebensjahr, den Bruder ausgenommen, ohne Spielkameraden.“ (Reich 1994, S.21)  Reichs  Urteil über den Vater fällt in jüngeren Jahren bitter und feindselig aus; im späteren Leben  wird Reich er mehr und mehr die positiven Qualitäten des Vaters betonen.    Dennoch ist Reichs Darstellung seiner Kindheitsjahre sehr positiv, geradezu überschwenglich.  Er spricht von seiner Sehnsucht nach „jener überglücklichen Kindheit“ (Reich 1994, S. 19). In  der Zeit zwischen seinem fünften und zehnten Lebensjahr sei das „Familienleben (...),  abgesehen von Zwischenfällen, wie sie wohl in jeder Gemeinschaft vorkommen müssen,  wirklich ideal“ gewesen (Reich 1994, S. 23). Trotz der harten Hand des Vaters genoß der  Sohn viele Freiheiten. Schon als Kind lernte er reiten und fischen; später begleitete er den  Vater mit Begeisterung auf die Jagd und ist stolz, wenn die Mutter das von ihm erlegte  Wildbret „köstlich“ (s.o.) zubereitet.     Seine Autobiographie dieser Zeit strotzt nur so von der starken Naturverbundenheit und  animalisch­sexuellen Kraft eines unter gesitteter Oberfläche freizügigen,  körperlich­lustvollen und teilweise recht derben Landlebens. Die ‚Tatsachen des Lebens‘  waren einem aufgeweckten Jungen natürlich durch die große Nähe zu den Tieren des  Gutshofs und den Kontakt mit den bäuerlichen Kindermädchen schnell bekannt. Mit vier  Jahren sah er heimlich einem Kutscher und einem Dienstmädchen bei deren leidenschaftlicher  Umarmung zu. Er habe es kurz darauf als Viereinhalbjähriger selbst mit dieser Magd probiert  ­ „ich wollte koitieren“ (Reich 1994, S. 16) ­ und sich auf sie gelegt, was sie auch habe  geschehen lassen. Leider sei jedoch der kleine Bruder dabei erwacht, der Wilhelm beim Vater  verpetzt habe. Mit knapp 12 Jahren macht er selbst seine erste (vollständige) Koituserfahrung.  Das war – sicher nicht ungewöhnlich für den Sohn eines Gutsbesitzers in damaliger Zeit –  erneut eine Frau aus dem Gesinde des Hauses Reich, eine Köchin, die ihm diese Erfahrung  wiederholt gewährte. Dennoch geschah diese erste Erfahrung  einer ‚vollständigen genitalen  Umarmung‘ (wie er den Intimkontakt später nennen sollte) unter besonderen Umständen, in  der die pubertäre Phantasie des Jungen durch eine offenbar stark erotisch aufgeladene  Atmosphäre zusätzlich angefeuert wurde. Dazu später mehr.    Den Umgang mit der Sexualität in seinem Elternhaus schildert Reich, bei aller üblichen  Sittsamkeit, recht locker; der Vater habe mit der Erzieherin seiner Söhne geschäkert, die  wiederum Reichs erwachende pubertäre Phantasie stimuliert habe. Auch die Mutter habe in  diesen Dingen ein recht entspanntes Verhältnis gehabt. Cäcilies Attraktivität für das andere  8 Reich erzählt im Anschluß an diese Textstelle folgende Anekdote: “Bei einem Besuch zur Zeit des Sühnetages,  an dem der orthodoxe Jude fastet, erhielt ich, damals etwa sechs Jahre alt, den Auftrag, ihn aus dem Bethaus zum  Essen zu holen. Man vergaß mir einzuschärfen, daß ich es nur leise sagen dürfe. Ich rief ihn laut vor allen zum  Essen. Es gab einen Skandal und ich wurde vom Vater verprügelt.“ (Reich 1994, S. 14) 6    Geschlecht scheint (zumindest in der Darstellung Wilhelm Reichs) durch ihre Mutter  gefördert worden zu sein, die sie damenhaft herausgeputzt und mit „allerlei Tand“ (Reich)  beschenkt habe. Der Vater habe auf diese Einflußnahme der Großmutter stets zornig und mit  Eifersucht reagiert.    Überhaupt scheint Reichs Vater zu Anfällen rasender Eifersucht geneigt zu haben. Die  unverkennbare Attraktivität seiner Frau nahm Reichs Vater zum Anlaß für lautstarke und  gewalttätige Eifersuchtsszenen, die die glückliche (und vermutlich idealisierend verklärte)  Atmosphäre von Reichs Kindheit erheblich überschatteten. Denn obwohl Wilhelm beiden  Eltern große Liebe füreinander attestiert, scheint die Ehe insgesamt „unglücklich“ (Vgl.  Sharaf 1994, S. 57ff) gewesen zu sein und endete in einer Tragödie, die Reich mit 17 Jahren  als Vollwaisen zurückließ.     Reichs Grundschulbildung wurde ihm durch Privatunterricht beider Eltern zuteil. Mit zehn  Jahren stellte ihn der Vater vor die Wahl, ob er aufs viele (etwa 100) Kilometer entfernte  Gymnasium gehen oder lieber Privatunterricht haben wolle. (Das Gut war so rentabel, daß für  Wilhelms schulische Erziehung Privatlehrer engagiert werden konnten.) Angesichts der  weinenden Mutter, der der Abschied von ihm schwer gefallen sei,  entschied sich Wilhelm für  den häuslichen Unterricht. Reich war ein begeisterter, hochintelligenter und wißbegieriger  Schüler; der den umfassenden Unterricht bei seinem ersten Hauslehrer, einem Jurastudenten,  sehr genoß. Dieser Hauslehrer stimulierte offenbar auch Reichs Interesse für Biologie und  Naturwissenschaft: „Schon seit dem achten Jahr unterhielt er [W.R.] eine eigene Sammlung  sowie ein Zuchtlabor für alle möglichen Insekten­ und Pflanzenarten unter den Anleitung  seines Privatlehrers.“ (Reich 1976, S. 10, zit. in Sharaf 1994, S.60)    Mit diesem Studenten nun begann Reichs Mutter eine intime Affäre, deren Zeuge der  12­jährige  wurde, was ihn tief erschütterte.9 Der Vater scheint von dieser Affäre nichts  bemerkt zu haben. Reich war offenbar innerlich hin­ und her gerissen, ob er dem Vater davon  erzählen sollte. Als Leon Reich im folgenden Jahr wieder denselben Studenten engagieren  wollte, habe sich die Mutter entschieden dagegen ausgesprochen. Der Vater habe daher einen  anderen Hochschüler eingestellt, mit dem die Mutter, weiter Reichs Darstellung folgend,  erneut im Begriff gewesen sei, eine Affäre zu beginnen.     Eines Abends im Winter des Jahres 1910 sei es zur Krise (vgl. Reich 1994, S.46ff)  gekommen: Der vor Zorn und Eifersucht tobende Vater habe die Mutter des Ehebruchs mit  dem jetzigen Hauslehrer­Studenten verdächtigt, was diese abgestritten habe. Daraufhin habe  der Vater die Jungen ausgefragt und Wilhelm habe geantwortet, daß er vom jetzigen Lehrer  nichts wisse, doch hätte er „Mutters Verhältnis mit S. von A bis Z angesehen.“ (Reich 1994,  S. 46) Er habe dann stockend sämtliche Details erzählt.10 Kurz danach habe man ein  „Aufschluchzen“ aus im Zimmer der Mutter gehört; die Mutter habe man auf dem Bett  liegend vorgefunden, sich in heftigen Krämpfen windend. Reichs Mutter hatte sich mit Lysol  (einem stark ätzenden Mittel) vergiftet.  9 Reich hat in seinem Aufsatz „Über einen Fall von Durchbruch der Inzestschranke in der Pubertät“ (Reich 1920)  den verschlüsselten Bericht über die Selbstanalyse seiner damaligen emotionalen Erschütterungen vorgelegt.  Außer seiner Tochter Eva wußte jahrzehntelang niemand davon (Vgl. Sharaf 1994, S. 61), daß er in diesem  Aufsatz von sich selbst sprach.  10 Mulisch (1973) hat in seinem ­ ansonsten nicht unsympathischen  ­ Buch über Reich versucht, sämtliche  Theorien Reichs als Ergebnis und Verarbeitungsversuch dieses einen Schlüsselereignisses zu deuten. Ich glaube,  daß eine solche Deutung dem Genie Reichs nicht gerecht wird. 7      Zwar sei ihre Rettung an diesem Abend durch beherztes Eingreifen des Vaters gelungen.  Doch Leon Reich habe die Mutter in den folgenden zehn Monaten durch Gewalttätigkeit, üble  Mißhandlungen und Beschimpfungen in den Tod getrieben. Fast täglich habe es schreckliche  Szenen gegeben: Vorwürfe und Anschuldigungen und „Tätlichkeiten, die stets entsetzlicher  wurden“ (Vgl. Reich 1994, S. 50ff). Ein zweiter Versuch der Selbstvergiftung durch die  Mutter, die die Attacken ihres Mannes weinend über sich habe ergehen lassen und eine  Scheidung abgelehnt habe, sei mißlungen. Ein dritter Selbsttötungsversuch, erneut mit Gift,  beendete schließlich im Oktober 1910 das Martyrium von Cäcilie Reich mit ihrem Tod.    Reich hat in seinem späteren Leben sehr an seinem Verrat der Mutter gelitten, „der sie das  Leben kostete“ (Reich 1994, S. 48). Er schrieb 1944: „Ich wünschte, meine Mutter würde  heute leben, um das Verbrechen, das ich in jenen Tagen (...) an ihr beging, wieder  gutzumachen. (...) Was für ein nobles Geschöpf, diese Frau – meine Mutter! Mag mein  Lebenswerk meine Missetat wieder gutmachen. Angesichts der Brutalität meines Vaters hatte  sie völlig recht.“ (Reich, ebd.) Man kann in diesen Sätzen eine wesentliche emotionale  Triebfeder für Reichs späteres radikales für sexuelles Glück und die Gleichstellung der Frau  erkennen. Die tragischen Ereignisse und die daraus resultierenden psychischen Verstörungen  mögen in der Tat für manches Überschießende in Reichs Werk verantwortlich sein. In keiner  Weise rechtfertigt diese Sicht jedoch eine Entwertung der Reichschen Erkenntnisse und  Theoriegebilde. Ein Kennzeichen des Genies scheint mir zu sein, den Mut und die Größe zu  haben, gerade die biographischen Traumatisierungen mit Bewußtsein zu durchdringen und  daraus allgemeingültige Erkenntnisse zu destillieren, die neues Wissen in die Welt bringen.    Die Tragödie der Cäcilie Reich ging an Wilhelm und seinem Vater natürlich nicht spurlos  vorüber. Mit 13 traten bei Wilhelm Reich zum ersten Mal „psoriatische Plaques“ (Reich 1994,  S. 85) auf. Psoriasis, gemeinhin Schuppenflechte genannt, sollte ihn das ganze Leben  hindurch quälen. Reichs Vater kam nie über den von ihm verschuldeten Tod seiner Frau  hinweg. Er erkrankte an einer offenbar selbst provozierten Lungenentzündung, die er sich  beim ausgedehnten Angeln im eiskalten Fluß zugezogen hatte. 1914 wurde bei ihm eine  „galoppierende Schwindsucht“ (Reich 1994, S. 65) diagnostiziert. Dazu kamen massive  Geldsorgen. Der Vater bekannte, „unglückliche Unterschriften“ geleistet zu haben. Dazu sei  der „Bankrott eines Onkels“ (Reich, ebd.) gekommen. Beides hätte den Vater in den  finanziellen Ruin getrieben. Wilhelm Reich schreibt, er habe sich daraufhin unter erheblichen  Mühen Geld borgen können, um den Vater in ein entferntes Lungensanatorium zu bringen.  Dort starb Reichs Vater 1914.     Unter diesen schwierigen Vorzeichen übernahm der siebzehnjährige Wilhelm die Leitung des  Guts.     Im ersten Weltkrieg wurde die Bukowina von den Russen besetzt. In den Wirren des  Einmarschs der russischen Soldaten im Jahre 1915 ging Reichs Gutshof verloren. Reich  wurde von den Russen verhaftet ­ er war ja ein Kulake ­ und sollte nach Sibirien in die  Gefangenschaft gehen. Mit Hilfe seines Gutsverwalters, der den russischen Gendarmen  bestach, der Reich bewachte, gelang ihm die Flucht. Zusammen mit diesem Verwalter  organisierte Reich in großer Eile die Rettung seines Besitzes. Getreidesäcke und seine  Habseligkeiten ließ er auf Fuhrwerke laden. Auch die Tiere des Hofes wurden im Treck mit  getrieben, um mit dieser „Karawane“ (Reich 1994, S.78) den näher rückenden Russen über  die „Brücke über den Pruth“ (Reich ebd.) zu entkommen. Durch einen plötzlichen Angriff  feindlicher Kosaken wurde er jedoch von seinem Verwalter, den er mit seinem Besitz und 8    seinem gesamten lebenden „Inventar, Kühe, Ochsen und Pferde“ (Reich 1994, S. 78)  vorausgeschickt hatte, abgeschnitten. „Ich habe Heimat und Eigentum nie wiedergesehen.  Von den Resten einer wohlhabenden Vergangenheit blieb nichts übrig.“ (Reich, ebd., S. 79)  Der Landstrich, in dem Reich aufgewachsen ist, wurde nach dem 1.Weltkrieg Rumänien  zugesprochen.     Reich hatte mit 18 Jahren seine Eltern, seinen Besitz und seine Heimat verloren.    Mittellos geworden, meldete sich Reich zum Militärdienst. Ab 1916 ‚diente‘ er als Zugführer  eines Bataillons. Eine akute Verschlimmerung seiner Hautprobleme durch die dauernde Nässe  in den Schützengräben führte 1917 zu einem neunmonatigen Aufenthalt in einem Wiener  Krankenhaus. Zurück an der Front, ertrug W. Reich den Stumpfsinn der militärischen  „Maschinerie“ (Reich,1994, S. 89) nicht mehr. Er beantragte „einen dreimonatigen  Studienurlaub“ vom Militär. Der Antrag hatte Erfolg und Reich schrieb sich, nach einem  kurzen Zwischenspiel an der juristischen Fakultät, schließlich im Fachbereich Medizin der  Universität Wien ein. Er zog bei seinem Bruder Robert ein, der ihm über die erste Not  hinweghalf. Von anderen Verwandten in Wien wurde er ebenfalls unterstützt, doch scheint  die Unterstützung nur sehr kurz und widerwillig gewährt worden zu sein.    Im Januar 1919 regte Reichs medizinischer Studienkollege Otto Fenichel die Bildung eines  „Sexologischen Studentenseminars“ an. Fenichel hatte sich schon 1915 an der Wiener  Universität immatrikuliert. Er hatte zu den zwölf Interessenten gehört, die Freuds „Einführung  in die Psychoanalyse“ besucht hatten, die „...Freud jeden Samstag von 7 bis 9 Uhr im Hörsaal  der Psychiatrischen Klinik abhielt“ (Fallend 1997, S. 15). Fenichel hatte Freuds Werk studiert  und pflegte Kontakte zu den Psychoanalytikern. Ab Februar 1919 wurde Fenichel als Gast der  „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ geführt (Fallend, ebd.). Freud galt zwar bis dahin  immer noch wenig in medizinischen Kreisen , doch sein Stern war im Aufsteigen begriffen.  Seine revolutionäre Theorien über das Unbewußte und die Existenz und die Bedeutung der  kindlichen Sexualität sollten den theoretischen Rahmen für das Studentenseminar abgeben.     Über Fenichel fand Reich schnell Anschluß an die Wiener Jugendbewegung.11 Reich, der  sichtlich entgeistert war über die damals an der medizinischen Fakultät übliche Vorstellung,  die Sexualität des Menschen setze erst mit der Pubertät ein, die so gar nicht seinem eigenen  Erleben entsprach, stimmte sofort zu. Irritierend fand er auch die damals gängige Vorstellung,  die Sexualorgane dienten nur der Fortpflanzung. In den Gedanken Freuds zur infantilen  Sexualität, die dieser in den „Drei Abhandlungen...“ (1904/1905) entwickelt hatte, fühlte er  sein eigenes kindliches Erleben  wohl besser aufgehoben und verstanden. „Außer Freud  glaubten alle, daß die Sexualität in der Pubertät wie aus blauem Himmel über den Menschen  hereinstürzt.“ (Reich 1942/1981, S. 30f)    Anfangs referierte Fenichel12 im Seminar, der bereits über fundierte psychoanalytische  11 Intellektueller und organisatorischer Anführer der Jugendbewegung war Fenichels Freund Siegfried Bernfeld,  der ebenfalls ein linker Psychoanalytiker werden sollte. Bernfeld hatte 1913 ein „Akademisches Comite für  Schulreform“ (A.C.S.) gegründet, in dem viele neue und ‚aufrührerische‘ Themen diskutiert wurden: Freie  Liebe, Prostitution, Suffragettenbewegung, Schulgemeinden, die Gründung einer Schülerberatungsstelle etc.  (Fallend 1997, S. 14). 1914 wurde der A.C.S. verboten.   12 Sharaf schrieb nur, die Studenten hätten „...einen Psychoanalytiker zu mehreren Lesungen...“ eingeladen.  (Shraf 1994, S. 77) Die Identität dieses Analytikers blieb unklar. Aufgrund eines Tagebucheintrags von Reich  am 1. März 1919 scheint es begründet, anzunehmen, daß es sich dabei um Fenichel handelte: „Heute beendete 9    Kenntnisse verfügte. Man studierte neben Freud die Werke von Forel, Bloch, Jung,  Krafft­Ebbing, Hirschfeld. Reich, arm und heimatlos, wie er war, fühlte sich zunächst  sichtlich unwohl im Kreis der Studenten und Studentinnen, die hauptsächlich aus  gutbürgerlichen und gesicherten Verhältnissen stammten. Doch schon bald erarbeitete er sich  eine angesehene Position. Als Fenichel zu einem längeren Praktikum verreiste, wurde Reich  zum Leiter des Seminars gewählt. Als Abgesandter des Seminars machte er sich schließlich  auf, Freud selbst um ideelle Unterstützung für die Studenten zu bitten.    So kam es zur ersten Begegnung der beiden Männer, vermutlich schon im Februar 1919. Das  Treffen war ein voller Erfolg. Reich war  voller Enthusiasmus über Freuds Ausstrahlung,  seine einfache, echte und lebendige Natürlichkeit. „Er war voller Begeisterung und Freude.“  (Reich 1967/1975, S. 2) Auch Freud war sehr von Reich angetan13 und gab ihm einige seiner  Schriften mit. Reich nahm 1919 eine Lehranalyse bei Isidor Sadger auf. Freud begann nach  kurzer Zeit, Reich Patienten zu überweisen. Schon am 15. September 1919 begann der  damalige Medizinstudent Wilhelm Reich seine erste eigene psychoanalytische Behandlung.14    Reich hat uns eine Beschreibung seiner ersten Begegnung mit Freud und anderen Wiener  Größen hinterlassen:    „Als Leiter des sexuologischen Studentenseminars mußte ich Literatur  beschaffen. Ich besuchte Kammerer, Steinach, Stekel, Bucura, einen Professor der  Biologie, Alfred Adler und Freud. Den entschieden stärksten und dauerhaftesten  Eindruck machte Freuds Persönlichkeit. Kammerer war klug und liebenswürdig,  doch nicht weiter interessiert. Steinach klagte über seine Schwierigkeiten. Stekel  versuchte zu gewinnen. Adler war enttäuschend. Er schimpfte auf Freud.  Eigentlich hatte er es geleistet. Der Ödipuskomplex wäre ein Unsinn, der  Kastrationskomplex eine wüste Phantasie und überdies in seiner Lehre vom  männlichen Protest weit besser enthalten. Aus seiner finalen »Wissenschaft«  wurde später eine kleinbürgerliche Reformgemeinde.    Freud war anders, vor allem einfach im Auftreten. Die anderen spielten im  Gehaben irgendeine Rolle, den Professor, den großen Menschenkenner, den  distinguierten Wissenschaftler. Freud sprach mit mir wie ein ganz gewöhnlicher  Mensch und hatte brennend kluge Augen. Sie durchdrangen nicht die Augen des  andern in seherischer Pose, sondern schauten bloß echt und wahrhaft in die Welt.  Er erkundigte sich nach unserer Arbeit im Seminar und fand sie sehr vernünftig.  Wir hätten recht, meinte er. Es wäre bedauerlich, daß man der Sexualität gar kein  oder nur falsches Interesse entgegenbringt. Er wollte uns gerne mit Literatur  helfen. Er kniete vor seinen Bücherschrank hin und suchte, eifrig in den  Bewegungen, einige Bücher und Broschüren heraus. Es waren Sonderdrucke von  Triebschicksale, Das Unbewußte, eine Traumdeutung, eine Psychopathologie des  Alltagslebens etc. Freud sprach rasch, sachlich und lebhaft. Seine  Handbewegungen waren natürlich. Ironie klang durch alles hindurch. Ich war  ängstlich gekommen und ging froh und glücklich weg. Von da ab schrieben sich  14 Jahre intensivster Arbeit in der Psychoanalyse und für sie. Am Ende erlebte ich  [sic] Kollege Fenichel seinen Vortrag über >Klitorissexualität<.“ Die Formulierung legt nahe, daß es sich um  mehrere einzelne Vorträge handelte.  13 So sagte Reich im Eissler­Interview. (Vgl. Reich 1967)  14 Es gelang ihm übrigens, dem Mann zu helfen. (Vgl. Reich 1942/1981) 10    schwere Enttäuschung durch Freud...“ (Reich 1942/1981, S. 36)    Im Eissler Interview von 1952 erzählte Reich folgendes:    „Als ich Freud zum ersten Mal traf, gab es sofort Kontakt, sofortiger Kontakt  zweier Organismen, und Lebendigkeit, Interesse, und ein Zur­Sache­Kommen.  Die gleiche Erfahrung hatte ich mit Einstein als ich ihn 1940 traf. (...) Ich wußte,  daß Freud mich liebte. Ich fühlte es. Ich konnte es sehen. Er hatte Kontakt mit  mir. Ich konnte geradeheraus mit ihm sprechen....“ (Reich 1969, S. 25)

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Jahr wurde ihr erstes Kind, eben Wilhelm Reich, geboren. 75 „Schritt gegen Reich.“ S. Freud schrieb diese Notiz ohne weitere Erläuterung am 1.
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