Sibylle Reinhardt Werte-Bildung und politische Bildung Schriften zur politis chen Didaktik Band 34 Sibylle Reinhardt Werte-Bildung und politische Bildung Zur ReflexiviUit von Lernprozessen Leske + Budrich, Opladen 1999 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Reinhardt, Sibylle Werte-Bildung und politische Bildung : zur Reflexivitat von Lernprozessen / Sibylle Reinhardt. - Opladen : Leske + Budrich, 1999 (Schriften zur politis chen Didaktik ; Bd. 14) ISBN 978-3-8100-2483-1 ISBN 978-3-322-95199-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-95199-1 © 1999 Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschlitzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Veri ages unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere flir VervieWiltigungen, Ubersetzungen, Mi kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Leske + Budrich, Opladen Inhalt o. Einleitung - Umgang mit "Moral" ................................................... 7 1. Das Integrations-Problem der Gesellschaft und das Identitats-Problem des Individuums: Konsequenzen fur die Schule ... ........... ................... ...... ....... ............ ............ .... .... ........... 11 2. Ein Theoriebezug (Lawrence Kohlberg: Strukturen moralischen Urteilens). .......... ............ ...... .................. ..... 21 a) Darstellung ................................................................................. 21 b) Kritische Betrachtungen ............................................................. 32 3. Fachdidaktische Wege der Reflexion aufWerte ............................. 47 a) Praktische Hermeneutik: Das Verstehen von Interaktionen im Unterricht ......................... 47 b) Verfahren fur Streit und Verstandigung: Reflexionen auf Argumente................... ....... .... ... ................ ....... 56 c) Dilemmadiskussion: Moralische Konflikte als politische Probleme .......... .................. 67 d) Analyse gesellschaftlicher Realitlit in ihrer moralischen Qualitat....................................................... 78 4. Fachdidaktische Diskussionen und Kontroversen .......................... 89 5. Methodische Aspekte (Verfahren) der Reflexion aufWerte .................................................................. 101 a) Betroffenheit und Distanz beim moralischen Urteilen - die Balance im Unterricht ......................................... 101 b) Die Interaktion der Kontroverse und ihre Reflexion - das Unterrichtsgesprach .................................. 107 5 c) Das Nacheinander der Schritte im Unterricht- die Struktur der Stunde oder Reihe ............... ............. ..... ........... 116 d) Werte, Inhalte, Strukturen, Gruppe - der mannigfaltige Konflikt......................................... 120 6. Schulleben und Partizipation - die demokratische Schulgemeinde (Just Community) ................... 123 7. Piinktlichkeit und Disziplin - Arbeitstechniken statt Tugenden ............. ......... ............................. 129 a) Piinktlichkeit: Wert - Ziel-Technik? ....................................... 129 b) Disziplin: Unterwerfung oder Autonomie?............................... 131 8. Miinnliche und weibliche Moralen- auch im Unterricht.......................................................................... 141 9. Werte-Bildung und Schule in der Demokratie ............................... 149 Literatur .................................................................................................... 157 6 Einleitung - Umgang mit "Moral" Wenn wir versuchen, in uns hineinzuhoren, was uns bei dem Stichwort "Mo ral" spontan einfaIlt, dann werden wir zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Dem einen wird Moralisieren einfallen, also etwas durchaus Nega tives. Es bedeutet, daB unbefragbare Anspriiche, inhaltlich kleinkarierter Art, an andere gestellt werden. Andere werden bei dem Stichwort "Moral" an das (verntinftige?) Zusammenleben von Menschen denken und die Frage stellen, welche Regeln dieses Zusammenleben der Menschen steuern bzw. sinnvoll steuern konnen. Diese gegensatzliche Reaktion auf das Stichwort "Moral" wiederholt sich beim Stichwort "Werteerziehung"; beide benennen Brisantes und Umstrittenes. Die groBe Beunruhigung in der Gegenwart, die den Ruf nach Werteer ziehung provoziert, resultiert auch aus der Unsicherheit, ob unser Zusam menleben sinnvoll geregelt ist. Auch sind wir unsicher, ob wir halbwegs identische MaBstabe teilen, mit deren Hilfe wir uns in ein Verhaltnis zuein ander setzen wollen und konnen. Wenn wir nicht sicher sind, ob wir ahnliche Regeln fUr unser Zusammenleben akzeptieren, dann bedeutet das, soziolo gisch gesprochen, daB wir der normativen Integration dieser Gesellschaft nicht gewiB sind. Zu der objektiven Brisanz der Frage nach Moral kommt ihre subjektive Relevanz. Die Frage, ob ich ein moralischer Mensch bin, ist so wichtig, weil sie meine Relation zu anderen Menschen betrifft. Wie mache ich das? Was sind meine leitenden Grtinde? Die Antworten betreffen die Frage: Wer bin ich? Die Frage nach der eigenen Identitat beinhaltet notwendig eine moralische Dimension, wei I Identitat sich nie im luftleeren Raum ausge stalten kann, sondern als Person kann ich mich nur in Beziehung zu ande ren begreifen: Wie sehe ich mich? Wie sehen andere mich? Wie vermute ich, daB andere mich sehen? Wer bin ich? Kann ich das, aus der Distanz be trachtet, rechtfertigen? Aus diesen Beobachtungen ergibt sich, daB die Verletzbarkeit in Diskus sionen tiber Moral sehr groB ist. Eine inzwischen historische Kontroverse urn die inhaltliche Ftillung eines Tugendbegriffs zeigt dies nachdrticklich: 1m 7 Jahre 1978 fand in Bonn ein KongreB statt mit dem Thema "Mut zur Erzie hung". Auf dies em KongreB wurden neun Thesen zur Erziehung, verfaBt von dem Philosophen Hermann Liibbe, von Robert Spaemann, Nikolaus Lobko wicz, Golo Mann, Wilhelm Hahn und Hans Bausch verabschiedet. Die dritte dieser neun Thesen lautet: "Wir wenden uns gegen den Irrtum, die Tugenden des FleiBes, der Disziplin und der Ordnung seien padagogisch obsolet ge worden, weil sie sich als politisch miBbrauchbar erwiesen haben. In Wahrheit sind diese Tugenden unter allen politischen Umstanden notig, denn ihre No tigkeit ist nicht systemspezifisch, sondern human begriindet." (KongreB 1978) Aummig hieran ist, daB eine Entweder-Oder-Beschreibung dieser Fahig keiten gegeben wird, als miisse man gegen FleiB, Disziplin und Ordnung sein oder dafiir. Es fehlt die Uberlegung, daB der politische MiBbrauch solcher Fahigkeiten dazu auffordern miiBte, mit diesen sicherlich notigen Fahigkeiten sinnvoll, also verantwortbar, umzugehen. Die Thesen haben 1978 sehr starken Widerspruch gefunden, u.a. von Ernst Tugendhat zur dritten These: "Es ist eine Zumutung, sich mit so einer These auseinandersetzen zu mtissen." Diese These richte sich gegen nebulOse Gegner, denn es sei nicht klar, wer angeblich gesagt habe, daB diese Fahig keiten obsolet seien. Tugendhat betont auBerdem, daB nicht diese Tugenden sich als politisch miBbraucht erwiesen hatten, sondern der viel zu hohe Rang, der ihnen in der traditionellen deutschen Erziehung zugesprochen worden sei. In den Thesen werde kein positives Bild von Erziehung entworfen, nur in dieser dritten These, so daB also "FleiB, Disziplin und Ordnung die einzigen Erziehungsziele sind, die genannt werden". Und dann schlagt Tugendhat in seiner Kritik zu: ,,1st es denn moglich, daB die Autoren nicht bemerkt haben, daB sie damit den Typus Adolf Eichmann zur Zielnorm der Erziehung ge macht haben?" Damit warf Tugendhat den Verfassern der Thesen faschistoide Zielset zungen vor: Wenn man FleiB, Disziplin und Ordnung verabsolutiert, dann wolle man genau den Personlichkeitstypus hervorbringen, der in einer Tyran nei gehorsam und fleiBig, ordentlich und diszipliniert hingeht und unmensch liche Befehle, auch zum Mord an Menschen, befolgt. Golo Mann hat in der ZEIT geantwortet: "Gegen eine Erziehung zu Untertanen werde auch ich meine Stimme erheben, wenn sie auch nur in den ersten Anzeichen sichtbar wird." (1978) Er wehrt sich dagegen, "als Autoritarer, als Fasehist und als Wegbereiter des totalen Staates rasehestens denunziert" zu werden. Wir merken, wie ungeheuer empfindlieh die Beteiligten in dieser Diskus sion miteinander umgehen. Das hangt sieher damit zusammen, daB die Frage naeh Moral und Tugend an den Kern unseres Zusammenlebens riihrt. Das ist keine Frage danaeh, ob man gesehmaekleriseh irgend etwas mag oder nieht mag, ob man mal hierhin oder dorthin in Urlaub oder sonstwie fahren moeh te, sondern hier geht es urn die Frage, wie wir mit welchen Fahigkeiten und Bereitsehaften uns miteinander in ein Verhaltnis setzen wollen. Selbst Luh- 8 mann, der nach meinem VersHindnis in eine derzeit extreme Distanz zu Ge sellschaft und moralischer Kommunikation ging, will seine Identitat schiit zen. Es sei bisher nicht gelungen, fUr moralische Kommunikation "ein iiber zeugendes Konzept zu entwickeln. Und auch hier kann das nur aus der Blickweise eines externen Beobachters, also nicht in moralisch iiberzeugen der oder gar verbindlicher Weise geschehen. Der folgende Text ist also nicht so gemeint, daB der Verfasser damit seine Selbstachtung aufs Spiel setzen mochte." (1997, S. 396f.) Der Stilbruch - der Gegenstand ist fern und hat doch unmittelbare Bedeutung fUr das schreibende Subjekt - signalisiert die Brisanz des Themas. Der Dissens dauert an. Wiihrend Brezinka (1994) vornehmlich Verlust und Verketzerung von Idealen und Tugenden sieht (S. 10, 15) und "Mut zu Wert bindungen und zu einer wertgebundenen Erziehung" (S. 18) fordert, sieht Beck (1997) in der Rede yom Werteverfall die Angst vor der Freiheit (S. 12) und in diesem Zerfallen zugleich das Entstehen von Wertorientierungen (S.16f.). Moralische Uberzeugungen sind offensichtlich keine allgemein geteilten Uberzeugungen. Zentrale Vokabeln wie "Moral", "Tugend" und "Werte" 10- sen inhaltlich unterschiedliche Vorstellungen aus, die heftig umstritten sein konnen. Auch sind Begriindungen fUr richtiges Handeln von unterschiedli cher Qualitat, d.h. die gewiihlten Bezugspunkte erfassen verschiedenartige soziale Elemente oder Zusammenhange. Der Streit urn moralische Fragen ist fUr die Streitenden aus objektiven (gesellschaftliche Integration) und subjek tiven (ldentitat) Griinden auBerst relevant, was die Heftigkeit in den Ausein andersetzungen und die Gefahr der Verletzungen erklart. Aus dem Wissen urn das Fehlen inhaltlicher Eindeutigkeit und aus dem Wissen urn die Unterschiedlichkeit von Begriindungsarten schlieBe ich: Er stens brauchen wir Distanz zu uns selbst in moralischen Auseinandersetzun gen, damit wir in reflexiver Einstellung gemeinsam unsere Auffassungen prii fen konnen. Zweitens benotigen wir einen Theoriebezug, der uns die Unter schiedlichkeiten im Verstandnis von moralischen Uberzeugungen in Inhalt und Struktur verstehen und priifen helfen kann. Nur ein konflikthafter ProzeB der Auseinandersetzung, zu dem auch die Betrachtung eben dieses Prozesses gehort, kann die Chance zur Klarung und zum Konsens einraumen. Reflexivitat - eine in der Moderne unabdingbare Weise des Umgangs mit der sozialen Welt (vgl. Kapitel 1) - bedarf des Instrumentariums. Ais Theorie, die fUr Klarung und Aufklarung nutzbar gemacht werden kann, wird hier das - urspriinglich entwicklungspsychologische - Modell von Lawrence Kohlberg vorgeschlagen (Kapitel 2). Fachdidaktische Wege der Reflexion auf Werte (Kapitel 3) zeigen kon krete Moglichkeiten der Thematisierung von Normen und Werten im Politik Unterricht: a) Praktische Hermeneutik ist der Vorgang theoretisierenden In teraktionsverstehens. b) Reflexionen auf den Gebrauch von Werturteilen ent schliisseln miteinander verwobene Dimensionen. c) Moralische Dilemmata provozieren den Streit urn Werte und politische Rahmungen. d) Die Analyse 9 der moralischen Qualitaten gesellschaftlicher Realitaten erhellt deren Vielfalt und (fehlende) Einheit. Methodische Aspekte (Kapitel 5) konkretisieren die fachdidaktischen Wege und werden ebenfalls anhand von Unterrichtsbeispielen exemplifiziert: a) Die Balance von Betroffenheit und Distanz - hergestellt iiber Verfahren - ist der Identitatsbedeutung moralischer Fragen angemessen. b) Das Unter richtsgesprach als dialogische Form der Auseinandersetzung - vorbereitet durch handlungsorientierte Verfahren - vermittelt eine Intuition des demo kratischen Diskurses. c) Die Struktur einer Unterrichtsstunde oder -reihe (Phasierung) zur moralisch-politischen Urteilsbildung realisiert die Abfolge von subjektivem Zugang, intersubjektiven Klarungen, Reflexionen und poli tischen Einordnungen. d) Der Konflikt bezeichnet in mehrfacher Bedeutung die Bewegung des Lernens. Die Auseinandersetzung mit Kritikern der Verwendung des Modells von Kohlberg im Unterricht (Kapitel 4) und die Darstellung der demokratischen Schulkooperative (Just Community) (Kapitel 6) werden erganzt durch die Behandlung der Frage, ob Piinktlichkeit und Disziplin Erziehungsziele seien (Kapitel 7). Die Kontroverse, ob es eine weibliche Moral gebe im Unter schied zur mannlichen, war der Ausgangspunkt fiir die Frage, ob es mannli chen und weiblichen Politikunterricht gibt (Kapitel 8). Die didaktischen Kon sequenzen hieraus betreffen sowohl den Fach-Unterricht mit dem Postulat der moralisch-politischen Urteilsbildung als auch die Konstruktion des Schul faches als Integrationsfach aus mehreren Sozialwissenschaften. "Werte-Bildung und Schule in der Demokratie" (Kapitel 9) faBt Gedan kengange zusammen und zieht Folgerungen fiir die Struktur der Schulfacher und ihrer Didaktiken. Eine der zentralen Thesen ist, daB Werte-Konflikte po litisch-sozialwissenschaftlich zu bearbeiten sind. Der Werte-Bezug ist also allen Fachern immanent, darf nicht von Realitat losgelOst werden und auch nicht partikularistisch (nach Weltanschauungen getrennt) unterrichtet wer den. "Moralische Bildung" liegt wie "Wissenschaftspropiideutik" quer zu den Fachern und ist kein fiir sich isolierter Gegenstand. Die Perspektive des Buches ist die des (fach-)didaktischen Professions wissens. Sozialwissenschaftliche Traditionen und Diskussionen werden auf Bildungsprozesse von Lernenden und auf Handlungsprobleme von Lehren den bezogen. Lern- und Lehrprozesse bestimmen die inhaltlichen Schwer punkte und die Mittel der Darstellung; sie sind die Priifsteine fiir die (selekti ve) Nutzung der Sozialwissenschaften und ihre Transformation in fachdidak tische Wege des Lehrens und Lernens. Der Sinn des Buches ist die Forderung politi scher Bildung, die auch Werte-Bildung ist - und umgekehrt. 10