Warum ist es für so manchen Wissenschafter so viel leichter, einen hochgelehrten Bericht über sein engeres Forschungsthema zu verfassen, als einen grösseren Zusammenhang wissenschaftlicher Erkenntnisse einer weiteren Öffentlichkeit näherzubringen? Der Verzicht auf die gewohnte Fachsprache stellt das kleinere Hindernis dar. Die Auswahl des Wesentlichen aus dem riesigen Arsenal des Wissens ist schwierig, das Weglassen vieler Wenn und Aber eine Gewissensfrage, das notwendige Vereinfachen des Sachverhalts ein wissenschaftlicher Greuel. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass eine wissenschaftliche Erkenntnis erst dann wirklich errungen ist, wenn auch die weitere Öffentlichkeit daran teilhaben und ihre Bedeutung ermessen kann. I.Auflage 1980: 1.-7500. Exemplar 2. Auflage 1980: 7500.-13500. Exemplar Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form — durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren — reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. © Springer Basel AG 1980 Ursprünglich erschienen bei Birkhäuser Verlag Basel 1980 CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Umschlaggestaltung und Typografie: Hottinger, Lukas: Albert Gomm swb/asg, Basel Wenn Steine sprechen: über d. Geologie d. Alpen Lukas Hottinger. — 2.Aufl. — ISBN 978-3-7643-1221-3 ISBN 978-3-0348-5400-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-0348-5400-9 ISBN 978-3-7643-1221-3 Lieber Leser, Autor dieses Büchleins selbst ein Schweizer ist sondern weil haben Sie die Fernsehfilme, zu denen dieses Büchlein in den Schweizer Alpen das Herz des Gebirges von der geschrieben wurde, nicht gesehen? Das ist nicht weiter Abtragung freigelegt und zugänglich gemacht wurde bis in schlimm, im Gegenteil. Die Berge in den Alpen, von denen hier grössere Tiefen hinunter, als das in allen andern alpinen die Rede ist die Gesteine, die Versteinerungen und Kristalle, Gebirgen der Fall ist. Ausserdem sind die zentralen Abschnit sie alle sind eindrücklicher und schöner in der Natur selbst als te des Alpenbogens die bestuntersuchten Gebirge der Welt. auf dem Bildschirm. Die Berge, auch wenn sie nicht ewig Die Sprache der Steine und der Berge ist hier am vollständig sind, kennen keinen Sende termin; sie sind immer da, wenn sten entziffert, ihre Geschichte am genauesten bekannt. Sie an einem warmen Sommertag über die Alpenweiden Hunderte von Büchern Tausende von Artikeln haben die wandern oder wenn Sie im scharfen Licht der Wintersonne Erdwissenschafter über die Alpen geschrieben. Auch eine über die verschneiten Gipfel blicken. vereinfachende Erklärung, was die Gesteine jedes einzelnen Die Alpen, aus dem Zusammenstoss zweier Kontinente Berges der Alpen bedeuten, würde viele dicke Bände füllen. entstanden die Berge, während Jahrmillionen aufgetürmt So kann es nicht Aufgabe dieses Büchleins sein, dem und wieder abgetragen, und die Steine, mit sonderbaren Alpen wanderer jeden Stein zu deuten und jede Aussicht zu Mustern in der Sonne glitzernd, erzählen eine Geschichte, die erklären. Dafürgibt es Exkursionsführer, die in der Literaturli gewiss ebenso spannend und geheimnisvoll ist wie das ste aufgeführt und kommentiert werden. Eine Vorstellung moderne Märchen vom Bermuda-Dreieck. Der Wahrheitsbe aber, und sei sie noch so vereinfacht und ungenau, von dem, weis unserer Geschichte von Steinen und Gebirgen liegt in was die Steine am Weg bedeuten und wie die Alpen als der Natur selbst die sich dem eröffnet der ihre Sprache Gebirge entstanden sind, vertieft unser Gefühl für die versteht und ihre Zeichen zu lesen weiss. Das Erlernen jeder Schönheit und Majestät der Bergwelt über das Erlebnis des Fremdsprache, auch der Sprache der Steine, verlangt eine Touristen hinaus, der auf seiner Wanderung durch die Berge vielj ährige Anstrengung und konsequentes Üben bis der seine Postkarten- und Schokoladebilder-Vorstellung der Dialog mit der Natur möglich wird und der Wahrheitsgehalt Alpen an der Wirklichkeit der Natur misst. der Geschichte erfahren werden kann. Darin unterscheidet Als Erdwissenschafter sind wir heute in eine ganz besonders sich die Wissenschaft vom Märchen. interessante Zeit hineingeboren. Bedeutende technische Dieses Büchlein so/l nicht nur die von den Wissenschaftern in Erfindungen seit dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet der rund hundert Jahren erarbeiteten Erkenntnisse über die Elektronik, der Seismik (Nutzung von Erdbebenwellen zur Bedeutung der Gesteine und über die Entstehung der Alpen Durchleuchtung des Erdinnern) und der künstlichen Erdsatel nacherzählen es soll auch zeigen welche allgemeineren liten haben in den letzten Jahrzehnten zu neuen, ungeahnten Überlegungen die Wissenschaft dazu führt Bilder der erdge Erkenntnissen über den Untergrund und damit über die noch schichtlichen Ereignisse zu entwerfen und als (wahn zu junge Geschichte der Ozeane geführt. Sie erlauben die betrachten die unserer unmittelbaren Erfahrung widerspre Entstehung von Gebirgen mit dem heute im Gang befindlichen chen: So wird aus den Bergen aus dem Symbol des Ewigen Werden der Ozeane in Zusammenhang zu bringen. Damit Unverrückbaren ein Gebirge, das sich aus Ozeanen erhebt schliesst sich die erdgeschichtliche Vergangenheit trotz und wieder vergeht ein Gebilde mit einer wechselvollen, ihren grossen Zeiträumen unmittelbar an die von uns miter dramatischen Geschichte, die sich in unvorstellbar langen lebte Gegenwart an. Was wir heute als Bewegung der Zeiträumen abspielt. Erdkruste erleben und messen können, ist Mechanismus der Die Alpen und gerade die Schweizer Alpen werden hier als Gebirgsbildung und verhilft uns zu einem neuen vertieften 3 Beispiel einer Gebirgskette herangezogen nicht, weil der Verständnis für die Welt in der wir leben. 1 Bernhard Studer, t 1884, Geologieprofessor in Bern Das ABC der Steinsprache Eine zusammenhängende Entzifferung der Zeichen im Gestein ist etwa hundert Jahre alt. Bernhard Studer und 1 Arnold Escher von der Linth haben eine erste Übersicht der geologischen Geschichte und des geologischen Baus des 2 zentralen Alpenraums vorgelegt. Sie haben damit bewie sen, dass sich die Zeichen im Gestein sinnvoll deuten lassen, dass die Sprache der Steine eine zusammenhängende Geschichte erzählt. Mit einer ersten geologischen Karte haben sie den Grundstein gelegt zu dem erdwissenschaftli chen Lehrgebäude über Bau und Entstehung der Alpen, an dem wir auch heute noch weiterbauen. Die Buchstaben, die eigentlichen Elemente der erdge schichtlichen Zeichensprache, sind die Eigenschaften des einzelnen Steins. In einer Kiesgrube tritt uns die Vielfalt der zusammengeschwemmten Kieselsteine am deutlichsten entgegen. Hunderte von verschiedenen Gesteinstypen kann 2 der Geologe unterscheiden, ein Alphabet, das deutlich 3 Arnold Escher, t 1872, komplizierter ist als unser ABC. Geologieprofessor in Zürich 3 Zusammengeschwemmte Kieselsteine in einer Kies grube, eine Musterpalette verschiedener Gesteins typen 7 Kristalle bauen Steine auf haben dann nur wenig oder keine Zeit mehr zu wachsen, bevor die Schmelze erstarrt. So entstehen viele Silikatge Auffällig sind zunächst Steine, die aus deutlich sichtbaren steine, auf deren Bruchfläche keine Kristalle sichtbar wer Kristallen zusammengesetzt sind. Sie stammen meist aus den. Auf diese Weise entsteht auch Fenster- und Flaschen den Tiefen der Erdkruste und sind zum Teil entstanden aus glas aus silikatischen Schmelzen. glutflüssigen Schmelzen des Erdinnern, die langsam ab Wasserdampf, Kohlensäure und andere Gase sind oft in den kühlten und erstarrten. Die Zusammensetzung des Gesteins Schmelzen gelöst wie Kohlensäure im Bier. Verringert sich aus Mineralen, kristallisierten chemischen Verbindungen, der Druck plötzlich, so entsteht Schaum. Schaumsteine gibt nicht nur Hinweise auf die Eigenschaften der Schmelze, kennen wir unter dem Namen Bimsstein. Sie sind nichts 4 aus der das Gestein stammt, sondern spiegelt auch die anderes als ein Schaum aus erstarrtem vulkanischem Glas, Bedingungen während der Erstarrung des Gesteins und in dem Tausende kleiner Gasblasen eingeschlossen sind. liefert damit Auskünfte über die Geschichte des Materials, Solche Steine schwimmen auf dem Wasser. Auch viele das den grössten Teil der Erdkruste bildet. Bei den meisten schwerere Lavatypen enthalten grössere oder kleinere Mineralarten, die solche Gesteine aufbauen, spielt das Blasen, die ihr oft ruppiges Aussehen bestimmen. Das Element Silizium eine bedeutende Rolle. Man spricht gelöste Gas in den Schmelzen ist dafür verantwortlich, dass deshalb auch von Silikatgesteinen. viele Vulkanausbrüche so explosiv und gefährlich sind. 10 Bei der Bildung des Gesteins behindern sich die Kristalle in ihrem Wachstum gegenseitig. Deshalb sind sie klein und 4 unansehnlich im Vergleich zu Kristallen, die frei in einer Gasblasen des Bimssteins. Raster-Elektronenmikroskop. 8 Felsspalte wachsen konnten. Die Anordnung der Moleküle x600 im Kristallgitter ist aber für jedes Mineral gleich, ob dieses 6 nun in einem massigen Gestein als kleiner, kristallisierter 7 Baustein oder auf einer Spalte als ausgewachsener Kristall 9 in Erscheinung tritt. Die Art der Anordnung der Atome im Kristallgitter beeinflusst viele Eigenschaften eines Mine rals. So hängt zum Beispiel die blätterige Natur des Minerals 15 Glimmer damit zusammen, dass auch das Kristallgitter schichtweise aufgebaut ist. Grössere Kristalle im Gestein, wie etwa die grossen, rechtek- 13 kigen Feldspäte im Granit, können schon in der Schmelze gewachsen sein und schwammen dann wie Brotwürfel in einer Suppe. Durch ihrWachstum haben sie der Restschmel ze bestimmte Substanzen entzogen und diese damit che misch verändert. Unter Umständen sind sie in der Schmelze abgesunken und haben sich in der Tiefe angereichert. So erzählen auch Grösse und Form der Kristalle im Gestein von bestimmten Vorgängen in der Tiefe der Erdkruste. In Vulkanen kommen glutflüssige Schmelzen an die Oberflä- 8 5 che der Erde und kühlen sich schockartig ab. Die Kristalle 5 6 Vulkanisches Glas, etwa Va nato Grösse .-----------....., 6 Ein Silizium- und vier Sauerstoff-Atome bilden zusam men .. 7 ... ein Tetraeder, Baustein der Substanz Quarz. 8 kristallisiert als Bergkristall 9 Anordnung der Tetraeder im Bergkristall. Modell. Mineralogisches Institut Basel 10 Kristalle im Gestein behindern sich gegenseitig in ihrem Wachstum. Dünnschliff im polarisierten Licht. etwa x50 10 5