4/2008 Wem gehört die Antike? 219 Christian Seidl / Unsere Sprachen sind vielfältiger als wir meinen. Theo Wirth Plädoyer für einen realitätsnahen Sprachunterricht 220 Herbert Zimmermann Die Geschichtsphilosophie im platonischen „Politikos“ und wir 232 Manfred Glock Plinius d. J. als pädagogischer Berater 236 Frank Oborski Macht macht Macht – Europa am Scheideweg. Cäsar, Mussolini und Berlusconi am Rubikon der Republik 244 Besprechungen 255 Adressen der Landesvorsitzenden 290 U2: Anzeige Metzler 218 Wem gehört die Antike? So lautete der Titel eines Vortrags von Marion konnten, wieder „in“. Ein bisschen gilt das sogar Giebel auf dem DAV-Kongress 1994 (Gymnasium für das Fach Griechisch. Aber besteht nicht oft die 102, 1995, 133-143). Während man in den 80er Versuchung, in die mehr oder weniger unterhalt- und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts same Kulturkunde auszuweichen? Sport, Theater, die wissenschaftliche und schulische Beschäfti- Erotik bei Griechen und Römern? Wie steht es mit gung mit der „Antike“ oft mühsam gegen den der Steigerung der Fähigkeit, einen gründlichen, Zeitgeist „legitimieren“ musste, hat diese The- sicheren originalsprachlichen Zugang zu den latei- matik jetzt erfreulicherweise auch außerhalb der nischen und griechischen Autoren zu gewinnen? Schule wieder überall Konjunktur. Ausstellungen, Jetzt, in der angesagten Luther-Dekade (bis 2017), Bildbände, Buchreihen, interdizplinäre Sonder- sei ein Wort Martin Luthers in Erinnerung forschungsbereiche aller Art, Filme, DVDs, Fern- gerufen: „Und laßt uns das gesagt sein, dass wir das sehsendungen, Zeitungen, Wochenzeitschriften, Evangelium nicht wohl werden erhalten ohne die Geschichtsillustrierte, kaum ein Medium lässt sich Sprachen. Die Sprachen sind die Scheiden, darin diesen Boom entgehen. Die „Antike“ (was immer dies Messer des Geistes steckt.“ (An die Ratsherren das sein mag) wird spannend, unterhaltsam, aller Städte deutschen Landes, 1524) lustvoll unter die Leute gebracht. Auch Latein ist, Andreas Fritsch wie wir in dieser Zeitschrift mehrfach registrieren Impressum ISSN 1432-7511 51. Jahrgang Die Zeitschrift Forum Classicum setzt das von 1958 bis 1996 in 39 Jahrgängen erschienene „Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes“ fort. – Erscheinungsweise vierteljährlich. Die im Forum Classicum veröffentlichten Beiträge sind im Internet unter folgender Adresse abrufbar: http://www.forum-classicum.de Herausgeber: Der Vorsitzende des Deutschen Altphilologenverbandes: http://www.altphilologenverband.de Univ.-Prof. Dr. Stefan Kipf, Murtener Str. 5 E, 12205 Berlin; stefan.kipf@staff.hu-berlin.de Schriftleitung: Prof. Andreas Fritsch, Univ.-Prof. a. D., Freie Universität Berlin, Institut für Griechische und Lateinische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin (Privatanschrift: Wundtstr. 46, 14057 Berlin); E-Mail: [email protected] Die Redaktion gliedert sich in folgende Arbeitsbereiche: 1. Schriftleitung, Berichte und Mitteilungen, Allgemeines (s. o.); 2. Didaktik, Schulpolitik: StD Michael Hotz, Riederinger Str. 36, 85614 Kirchseeon 3. Fachliteratur, Schulbücher, Medien: OStR Dr. Dietmar Schmitz, Am Veenteich 26, 46147 Oberhausen 4. Zeitschriftenschau: StD Dr. Josef Rabl, Kühler Weg 6a, 14055 Berlin; StR Martin Schmalisch, Seehofstr. 56a, 14167 Berlin Die mit Namen gekennzeichneten Artikel geben die Meinung des Verfassers, nicht unbedingt die des DAV-Vorstandes wieder. – Bei unverlangt zugesandten Rezensionsexemplaren ist der Herausgeber nicht verpflichtet, Besprechungen zu veröffentlichen, Rücksendungen finden nicht statt. – Bezugsgebühr: Von den Mitgliedern des Deutschen Altphilologen- verbandes wird eine Bezugsgebühr nicht erhoben, da diese durch den Mitgliedsbeitrag abgegolten ist (Wichtiger Hinweis zur Mitgliedschaft, Adressenänderung usw. am Schluss des Heftes). 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Ihre Wer in die traditionelle Schulgrammatik einer Ergebnisse ermöglichen einen viel realistischeren Sprache blickt – sei es eine lateinische oder die Blick auf das Phänomen Sprache und insbeson- irgendeiner modernen Sprache –, bekommt dere auf die Frage, worin sich gewisse, anschei- üblicherweise den Eindruck von starker Einheit- nend synonyme Ausdrucksweisen voneinander lichkeit vermittelt: Es scheint, als ob jede Sprache unterscheiden. Da es unsere tiefe Überzeugung nur aus einem einzigen System mit einer einzi- ist, dass gymnasialer Sprachunterricht nicht auf gen festgelegten Standardgrammatik bestünde, der Ebene der Grammatik und des Wortschatzes aus der sich immer ablesen lässt, was richtig ist, sowie – in den modernen Sprachen – der Kom- während alle Abweichungen von dieser Norm als munikationsfähigkeit stehen bleiben darf (vgl. „falsch“ zu beurteilen sind. Diese Sicht ist grob Wirth/Seidl/Utzinger 2006, passim), werden vereinfachend, künstlich, und das Lernen nur die Resultate der Varietätenlinguistik auch für dieser Grammatik im Unterricht führt keines- den Sprachunterricht in jeder beliebigen Sprache wegs zu einer guten, „korrekten“ Sprachbeherr- relevant. schung. Einem, der eine solche Standardgram- Die folgenden Ausführungen haben zum Ziel, matik perfekt beherrscht, wird es so ergehen wie diese Unterrichtsrelevanz aufzuzeigen. Dazu Eliza Doolittle in George Bernard Shaws werden die vier genannten Varianzen einzeln „Pygmalion“: Diese Person wird zwar scheinbar vorgestellt (Kap. 2 bis 5); nach einer allgemeinen korrekt sprechen – und dennoch ständig Fehler Einführung (Kap. 2.1, 3.1 usw.) wird jeweils auch produzieren. gezeigt, worin sich die betreffende Varianz spe- Woher kommt dieses Paradox? Es liegt daran, ziell im Latein manifestiert (Kap. 2.2, 3.2 usw.). dass jede sprachliche Äußerung nicht in einem Anschließend werden die Varianzen in ihrem gleichsam luftleeren Raum erfolgt, sondern stets Zusammenspiel und ihrer gegenseitigen Beein- in Abhängigkeit von mehreren außersprachlichen flussung gezeigt (Kap. 6). Zum Schluss folgen Gegebenheiten steht. Die moderne Sprachwissen- Ausführungen über den didaktischen Nutzen schaft unterscheidet vier Varianzen, die nach fol- dieser Erkenntnisse und es werden konkrete genden Fragen unterschieden werden können: Unterrichtsziele formuliert (Kap. 7). 1. „Diachronische“ Varianz der Sprache: Wann, in welcher Zeit haben die Sprecher eine Äuße- 2. Die diachronische Varianz rung getan? 2.1. Allgemeines 2. „Diatopische“ Varianz: Woher stammen die Jede Sprache verändert sich mit der Zeit. Selbst Sprecher? wenn sich in einer Sprache eine standardisierte 3. „Diastratische“ Varianz: Zu welcher sozialen Form herausbildet, ist dieser allgemein verbind- Schicht gehören die Sprecher? liche Standard immer für Veränderungen offen. 4. „Diaphasische“ Varianz: In welcher kommuni- Das gilt auch für die deutsche Sprache, deren kativen Situation verwenden die Sprecher die Standardform am Beginn des 21. Jahrhunderts Sprache? anders aussieht als 200 Jahre zuvor. Man erkennt Diese Varianzen manifestieren sich in jeder das daran, dass Wörter, Wortformen und -bedeu- Äußerung in einer natürlichen Sprache, im Latein tungen sowie syntaktische Konstruktionen, die genauso wie in jeder modernen Sprache. Mit der zur Zeit Goethes und Schillers üblich waren, Erforschung der Frage, wie die genannten Vari- heute selbst in einem durchaus entsprechenden anzen eine sprachliche Äußerung beeinflussen, literarischen Umfeld – diese Einschränkung ist 220 wesentlich – nicht mehr gebräuchlich sind. Dass in der deutschen Sprachkritik schon seit dem diese Unterschiede bestehen, ist unbestritten; 19. Jahrhundert als vom Aussterben bedroht strittig ist nur, wie und ob überhaupt gilt. Diese Ansicht hat sich sogar im Titel eines dieser Sprachwandel auch qualitativ zu werten einschlägigen Werkleins von Bastian Sick nie- ist. dergeschlagen: „Der Dativ ist dem Genitiv sein Bemerkenswerterweise kann ein Sprach- Tod“. Bei näherer Betrachtung der verschiedenen wandel auch nur eine Teilmenge aller eigentlich Genitivfunktionen zeigt sich in der heutigen „gefährdeten“ Formen bzw. Funktionen erfassen. Standardsprache jedoch eine ganz andere Situa- Das wird deutlich am Beispiel des Genitivs, der tion, wie aus folgender Tabelle hervorgeht:1 Genitivfunktion Beispiel Tendenz vorangestellt (Personenname) Peters Auto stabil vorangestellt Berlins Bürgermeister zunehmend (seit Ende (geograph. Name) 19. Jh.) vorangestellt (geograph. Deutschlands zunehmend (Ende 20. t u b Name); abhängig von Perso- Oliver Kahn Jh., Pressesprache) i r t nennamen t A vorangestellt, sonstige Fälle des Kaisers neue Kleider veraltet (nur noch archai- sierend) nachgestellt, Personenname Die Balladen Schillers abnehmend nachgestellt, sonstige Fälle das Haus des Onkels stabil Objektskasus ohne des Anlasses stark abnehmend zu erwähnen Partitiv (als Attribut und als Objekt) ein Glas Weines veraltet nach „alten“ Präp. • wegen Umbaus unterschiedlich: geschlossen • abnehmend: wegen • namens seines • stabil: namens Präpositional Vaters • zunehmend: kasus trotz, dank nach „neuen“ präp. Fügungen hinsichtlich zunehmend (v. a. Ver- des Gesamtvolumens waltungssprache) Es zeigt sich also, dass nicht einfach „der“ Geni- z. B. durch die Präposition „von“ –, handelt es sich tiv ausstirbt. Interessanterweise ist der Genitiv auch nicht um eine objektiv feststellbare „Verar- als morphologische Form gerade in derjenigen mung“ der Sprache, sondern um eine normale Funktion, die Sick zu seinem Pamphlet den Titel Erscheinung von Sprachwandel. Ein solcher lässt geliefert hat und die zu unserer obigen Katego- sich aber höchstens nach gänzlich subjektiven rie „nachgestellt, sonstige Fälle“ gehört, in der Kriterien bewerten – eine Feststellung, die auch Standardsprache nach wie vor ungefähr- Folgen für die Darstellung und Besprechung sol- det;2 andererseits kann der Kasus sogar in neuen cher Erscheinungen im Unterricht haben muss. Funktionen verwendet werden, in denen er früher nicht gebräuchlich war. Nur in bestimm- 2.2. Im Latein ten Funktionen und kommunikativen Auch das Latein hat sich im Laufe der Jahrhun- Situationen (Näheres hierzu folgt in Kap. derte verändert. Selbst in Texten, die heute im 5.1) wird der Genitiv durch verschiedene andere Schulunterricht durchgenommen werden, sind morphosyntaktische Verfahren ersetzt. Da die Veränderungen der Sprache zwischen dem Alt- entsprechenden Funktionen also weiterhin ausge- latein des frühen 2. Jahrhunderts – bei Plautus drückt werden – wenn auch mit anderen Mitteln, und Terenz – und der Klassik zur Zeit Caesars 221 und Ciceros gut erkennbar. Dies zeigt sich Schreibstandard anzueignen, mit der Zeit immer beispielsweise an den Formen des Konjunktiv größer. Als dann im Gefolge der Völkerwan- Präsens von esse, der im Altlatein noch sehr derungszeit auch das Schulsystem weitgehend altertümlich s-iē-m, s-iē-s, s-iē-t, s-ī-mus, s-ī-tis, zusammenbrach, blieb kaum jemand übrig, der s-i-ent lautet.3 Hundert Jahre später jedoch hat die klassische Schreibsprache noch beherrschte; sich das – ursprünglich nur im Plural berechtigte wer überhaupt noch schreiben konnte, schrieb, – Konjunktivzeichen -ī- in sämtlichen Personen von formelhaften Versatzstücken abgesehen, analogisch durchgesetzt. meist so, wie ihm der Schnabel gewachsen war, In der Zeit nach der Klassik passiert dann so dass also die analphabetische Gesellschaft ein merkwürdiges Phänomen: Die uns vor allem des Jahres 700 einen zeitgenössischen geschrie- überlieferte geschriebene lateinische Standard- benen lateinischen Text, der vorgelesen wurde, sprache wird – ohne Eingriffe von irgendwel- recht gut verstehen konnte.5 Einzig in Irland, chen Akademien oder staatlichen Stellen – zum wo das Latein neben der einheimischen kelti- Modell für alle späteren Zeiten, und zwar so schen Sprache stets eine zu lernende Fremd- stark, dass von nun an in dieser Schriftsprache sprache geblieben war, blieb, von den Wirren nur noch marginale Veränderungen eintreten, der Völkerwanderungszeit unbeschadet, der wie z. B. das nunmehr durchgängig nach der klassische lateinische Schreibstandard erhalten. 3. Konjugation flektierte Verb ēsse/edere. Sonst Dann aber versuchte auf dem Kontinent Karl jedoch blieben die lateinische Orthographie4 der Grosse, unterstützt von seinem „Kultus- und die gesamte Formenlehre sowie die Syntax minister“, dem Iren Alkuin, den christlichen im Wesentlichen unverändert; allenfalls sind Glauben wieder zu heben. Ein Mittel dazu waren Formen seltener geworden oder ganz ausge- verbesserte Lateinkenntnisse des Klerus; dieser storben (z. B. das Supinum I) bzw. syntaktische wurde angehalten, den Gläubigen Predigten aus Konstruktionen haben an Häufigkeit zugenom- der Zeit Augustins zu halten – mit dem Erfolg, men (das Gerundium auf Kosten des Partizips dass kein Gläubiger mehr verstand, was ihm der Gleichzeitigkeit). Diese Versteinerung der gepredigt wurde. Die Kirche reagierte schnell: Schriftsprache hat zur Folge, dass jemand mit 814 fand in Tours ein Konzil statt, das verfügte, seinen Kenntnissen der Formen und Syntax die Priester sollten künftig danach trachten, die des klassischen Lateins ohne Probleme auch Predigten „in rusticam romanam linguam aut Texte lesen und verstehen kann, die ein halbes thiotiscam“ zu übersetzen: das erste Zeugnis Jahrtausend nach Cicero entstanden sind; man für das mittlerweile entstandene Bewusstsein, muss also nicht eigens eine „spätlateinische dass die Alltagssprache kein Latein mehr war, Grammatik“ neu lernen. sondern eben eine andere Sprache. Erst damals Die rigide Standardisierung der Sprache mit ist Latein endgültig zur toten Sprache gewor- dem Festhalten an der Grammatik des 1. Jahr- den, die von niemandem mehr als Erstsprache hunderts hatte jedoch eine gravierende nachtei- gesprochen wurde. lige Auswirkung: Neben der uns greifbaren geschriebenen Sprachform existierte ja immer 3. Die diatopische Varianz auch eine gesprochene Sprache. Diese Sprach- 3.1. Allgemeines form ist unter dem sehr unglücklichen Namen Alle modernen Sprachen weisen in mehr oder „Vulgärlatein“ bekannt geworden und gehört, minder ausgeprägtem Maße eine räumliche da ursprünglich nur im mündlichen Gespräch Gliederung in Dialekte auf, wobei diese unter- verwendet, eigentlich zur Diaphasie (vgl. Kap. schiedlich lebenskräftig sind: Recht vital sind sie 5). Während die geschriebene Sprache gleichsam im italienischen und im süddeutschen Sprach- erstarrte, entwickelte sich die gesprochene Spra- bereich, fast völlig verschwunden sind sie in che des Alltags ungehindert weiter und entfernte Frankreich, in der französischen Schweiz sowie sich Schritt für Schritt vom Schreibstandard. im nord- oder niederdeutschen Raum; in der Deshalb wurde der Aufwand, um sich den deutschen Schweiz hingegen sind sie lebendiger 222 denn je und dienen als alltägliches Verständi- betrifft – kaum diatopische Differenzen auszu- gungsmittel der gesamten Bevölkerung, und machen. Allenfalls findet man in altlateinischen zwar ohne soziale Grenzen. Inschriften noch (geringe) derartige Unter- Weniger bekannt ist, dass selbst die heutigen schiede.8 Schon bald aber kommt es zu einer eigentlich stark normierten, zur Vereinheitli- offenbar vollständigen Entdialektalisierung.9 chung tendierenden Standardsprachen meist Im Gefolge der Ausbreitung des lateinischen ebenfalls, wenn auch schwach, räumlich geglie- Sprachgebiets über weite Teile Westeuropas und dert sind. Die räumlichen Varianten haben des Maghreb ist mit Sicherheit damit zu rechnen, – worauf hier ausdrücklich hingewiesen sei dass neuerliche Dialektunterschiede entstanden – nichts mit „dialektnaher“ Sprache oder gar sein müssen, denn es ist schlechterdings unvor- „Umgangssprache“ zu tun (vgl. Kap. 5), sondern stellbar, dass auf einem Gebiet von annähernd sie stellen in ihren Verbreitungsgebieten zum 3.000.000 km2 überall dieselbe Sprache gespro- Teil den ganz normalen, unauffälligen Standard chen worden sein soll. Zwar sind Zehntausende dar, der denn auch in den Schulen als solcher von gut lokalisierbaren Inschriften erhalten und gelehrt wird. Aus diesem Grund gibt es zwischen diese strotzen auch zum Teil vor Abweichungen den verschiedenen diatopischen Ausprägungen vom Standardlatein, doch lassen sich auch in der Standardsprachen auch keine qualitativen diesen „Fehlern“ keine räumlichen Unterschiede Unterschiede; in der modernen Forschung feststellen. Entsprechende Anzeichen sind erst spricht man in diesem Fall von „plurizentrischen nach der großen politischen und ökonomischen Sprachen“ (vgl. Ammon 1995). Ein Musterbei- Krise, die das Römische Reich im 3. Jahrhundert spiel für eine solche plurizentrische Sprache ist n. Chr. durchmachen musste, zu erkennen: Die neben dem Spanischen und dem Englischen ersten unzweifelhaften diatopischen Unter- auch das Neuhochdeutsche, wo es beträchtliche schiede stammen aus der Zeit des ausgehenden Unterschiede nicht allein zwischen den Stan- 4. Jahrhunderts. Von da an werden Dialekt- dardsprachen der verschiedenen, mehrheitlich merkmale – aber nur bei Autoren, die den deutschsprachigen Länder gibt. Hierzu verglei- Schreibstandard nicht mehr so gut beherrschen che man Helvetismen wie das seit dem frühen (vgl. oben 2.2), nicht jedoch bei Klassikern wie 20. Jahrhundert zugunsten von <ss> gänzlich Augustin und Boethius – immer häufiger und aufgegebene <ß> (<Strasse>, <Fussball>6) bzw. es ist deutlich zu erkennen, dass das lateinische Strukturen des Typs gut, seid ihr gekommen Sprachgebiet schon um 500 n. Chr. in verschie- (statt gut, dass ihr gekommen seid), Austriazis- dene, ganz kleinräumige Dialektgebiete zerfallen men wie Jänner für sonst übliches Januar und war: So wurde damals im östlichen Oberitalien am statt auf dem (am Land wohnen; Geld am schon ein erkennbar anderes Latein gesprochen Konto haben) sowie auf Deutschland – oder als südlich des Appennin bzw. in der westlichen Teile Deutschlands – beschränkte sog. „Teuto- Poebene oder gar in Südfrankreich (vgl. Seidl nismen“ wie Abitur (statt wie in Österreich und 2003). der Schweiz üblich Matura, in der Schweiz auch Matur oder Maturität) und Geldautomat (in 4. Die diastratische Varianz Österreich: Bankomat, in der Schweiz: Banco- 4.1. Allgemeines mat). Sogar innerhalb Deutschlands finden sich Die Sprecher einer Sprache bilden kein einför- bemerkenswerte Unterschiede wie im Norden miges Ganzes, sondern lassen sich nach unter- übliches Sonnabend bzw. Apfelsine (im Süden schiedlichen Kriterien in verschiedene Gruppen sowie in Österreich und der Schweiz: Samstag einteilen. Mitunter wirkt sich diese Gruppenbil- bzw. Orange).7 dung auch in der Sprache aus. Erkennbar ist dieser Umstand zunächst 3.2. Im Latein einmal daran, dass sich schon auf Grund von Im Gegensatz zum Altgriechischen sind im gemeinsamen Beschäftigungen und Interessen Latein – jedenfalls, was potenzielle Schultexte ein gruppenspezifischer Wortschatz herausbil- 223 det. Wenn sich die betreffende soziale Gruppe die verbreitete Geringschätzung von Lektüre als Fachleute mit einer bestimmten Materie abgehalten wird,10 entwickelt automatisch einen beschäftigt, kann ihr Wortschatz differenzier- differenzierteren Wortschatz und verfügt über ter sein als der Allgemeinwortschatz. Beispiele eine bessere Kenntnis der – zumal geschriebe- hierfür finden sich massenhaft, so etwa in der nen – Standardsprache. Landwirtschaft für die ganz fein differenzierten Über diese unterschiedliche Verfügbarkeit Altersstufen von Nutzvieh, im Fußball oder auch verschiedener sprachlicher Register hinaus in der Graffiti-Szene (z. B. die Anglizismen Tag – die wiederum in die Diaphasie von Kapitel 5 „Unterschrift in Kürzelform“, scratchen „einen gehören – ist überdies oftmals zu beobachten, Tag auf einer glatten Oberfläche anbringen, dass die Angehörigen bestimmter sozio-öko- indem diese mit scharfen Werkzeugen usw. zer- nomischer Schichten dadurch, dass sie fast kratzt wird“). Andererseits existieren manchmal ständig nur mit ihresgleichen Kontakte haben, für gewisse, auch allgemein bekannte Konzepte einen speziellen Wortschatz bzw. eine eigene auch gruppenspezifische Synonyme: Dabei Aussprache aufweisen. Bekannt sind etwa bei kann es sich um Wortkürzungen handeln wie der Pariser Oberschicht der „accent du XVIe“ schülersprachliches Direx (aus Direktor) oder (auch „accent Marie-Chantal“ genannt)11 oder um Ausdrücke mit ganz anderer Bedeutung in der Stadt Bern die (heute im Verschwinden wie jugendsprachliches fett „toll; bewunderns- begriffene) Sprache der Patrizier. wert“ bzw. bei Schweizer Jugendlichen easy als In solchen Fällen verraten die Sprecher mit- Antwort auf eine Entschuldigung. Dieser Spe- tels ihrer Sprache automatisch, dass sie aus einer zialwortschatz, der Außenstehenden zum Teil bestimmten sozialen Schicht stammen. Dies hat unverständlich ist, erhält dadurch eine wichtige zwei Folgen: Erstens schließen die Hörer von der sekundäre Funktion: Er wirkt innerhalb der Sprachform eines Sprechers auf dessen gesell- Gruppe identitätsstiftend und gegen außen schaftliches Prestige und zweitens werden die hin abgrenzend. Die genannten Phänomene Sprecher der weniger prestigeträchtigen Varietät beschränken sich aber gewöhnlich nur auf versuchen, dieses Stigma abzulegen; die Sprach- den Wortschatz und – was wichtiger ist – sie form der Oberschicht gilt als nachahmenswertes werden oftmals von den Gruppenangehörigen Beispiel, so wie umgekehrt die Angehörigen der nur gruppenintern verwendet, ihr Gebrauch ist Oberschicht aus ihrer Sprache alles verbannen, also situationsabhängig und gehört deshalb in was an die Sprachform der Unterschicht erin- die Diaphasie (vgl. unten Kap. 5). nert. Wichtiger sind die Unterschiede, die sich in Abhängigkeit von der Zugehörigkeit der 4.2. Im Latein Sprecher zu einer sozio-ökonomischen Schicht Auch im Latein sind natürlich gewisse Aus- manifestieren: So ist es ein Faktum, dass drücke bekannt, die zumindest ursprünglich besonders Angehörige der Unterschicht sich nur in bestimmten Berufsgruppen verbrei- sprachlich anders ausdrücken als Angehörige tet waren: So ist das Verb delirare von lira von Mittel- und Oberschicht. Dies liegt unter „Ackerfurche“ abgeleitet und bedeutet also anderem an der unterschiedlichen Dauer und ursprünglich in der Sprache der Ackerbauern, Intensität auch der sprachlichen Ausbildung vom Pflug gemeint, „aus der Furche geraten“. – nur wer eine höhere Schule besucht, lernt sys- Später wurde es in metaphorischer Bedeutung tematisch, auch komplexere Texte zu verstehen „(geistig) aus dem Ruder laufen; spinnen“ in und zu verfassen – sowie daran, dass zumal die die Allgemeinsprache übernommen. Oberschicht zum Teil seit Generationen über Darüber hinaus muss es auch sprachliche genügend Freizeit verfügt, um sich literarisch Unterschiede zwischen den verschiedenen zu beschäftigen. Wer zudem schon im Eltern- sozio-ökonomischen Schichten gegeben haus durch das Vorbild der Erwachsenen zum haben. Bei der Deutung der Befunde ist jedoch Lesen ermuntert und nicht im Gegenteil durch zu berücksichtigen, dass die uns erhaltenen 224 Textzeugnisse fast ausnahmslos in der Stan- Angehörige der Unterschicht geblieben sind. dardform überliefert sind, wie sie maßgeblich Dafür sind weniger die allgemein bekannten von Angehörigen der Oberschicht geprägt Abweichungen von der lateinischen Standard- worden ist. Wir wissen also praktisch nur, sprache typisch – denn diese sind in den meis- wie die Oberschicht schrieb, aber nicht sehr ten Fällen situationsbedingt, also diaphasisch gut, wie sie allenfalls gesprochen hat. Auf zu erklären (vgl. unten 5.2) –, sondern andere der anderen Seite sind – in Inschriften (man Eigenheiten wie der häufige Rückgriff auf denke vor allem an die Wandinschriften aus Phrasen mangels eigener Formulierungskünste Pompeii) und erhalten gebliebenen Briefen (z. B. bei Dama [Kap. 41]: dies nihil est; dum (etwa des Soldaten Claudius Terentianus) versas te, nox fit; bei Seleucus [Kap. 42]: aqua auch schriftliche Äußerungen von Leuten aus dentes habet; antiquus amor cancer est usw.), der Unterschicht überliefert. Darin treten zwar das sogar in schon oft erzählten Geschichten zahlreiche Abweichungen vom sonst üblichen monotone Vokabular (vgl. die Geschichte vom Standardlatein auf, ihren Grund haben diese Werwolf in Kap. 61ff.)12 oder die vulgäre Aus- aber eben darin, dass bildungsferne Schichten drucksweise (vgl. Seleucus: frigori laecasin dico mit wenig Übung im Verfassen von schrift- [griech. λαικάζειν; vgl. engl. fuck off! „hau ab“]; lichen Texten Elemente ihrer Alltagssprache der Gastgeber Trimalchio drückt sich zunächst durchscheinen lassen. Es lässt also erkennen, noch vornehm verhüllend aus, vgl. Kap. 47 sua wie die Unterschicht gesprochen hat, doch re causa facere bzw. facere, quod se iuvet, wäh- wissen wir meistens nicht, ob diese Aussprache rend er später, immer betrunkener, die Dinge auch für Angehörige der Oberschicht gegolten beim Namen nennt, vgl. Kap. 71 ne omnis hat. Immerhin gibt es ein paar Ausnahmen: populus ad monumentum cacatum currat; vgl. So wissen wir aus mehreren Quellen, dass die auch die wüste Beschimpfung seiner Frau For- Aussprache des Diphthongs /au/ als langes /ō/ tunata in Kap. 74).13 typisch für die römische Unterschicht war; populistische Anbiederung an diese Schicht 5. Die diaphasische Varianz veranlasste Ciceros Gegner, den hochad- 5.1. Allgemeines ligen Publius Claudius Pulcher dazu, Von zentraler Wichtigkeit für den sprachli- sein Nomen gentile in die plebeiischere Form chen Ausdruck ist die Situation, in der eine Clodius abzuändern. – Eine Fundgrube sind bestimmte sprachliche Äußerung erfolgt. Um die „Satyrica“ des Petron mit den (fiktiven) die mannigfaltigen kommunikativen Situationen Reden der handelnden Personen, in denen in einleuchtender Weise zu klassifizieren, sind auch an der Sprache gut zu erkennen ist, dass verschiedene Modelle vorgeschlagen worden. hier Leute mit sehr unterschiedlichem Bil- Als für didaktische Zwecke besonders nützlich dungsgrad sprechen: Während die Äußerun- erweist sich das folgende: Verschiedene denkbare gen der Hauptpersonen (vor allem diejenigen kommunikative Situationen werden als auf einem von Encolpius und Eumolpus) den Gesprächs- Kontinuum liegend aufgefasst: Am einen Pol ton gebildeter Römer aus gutem Haus zeigen, liegt eine besonders intime Sprachform (genannt sind in den Freigelassenengesprächen mehrere „Nähesprache“), am anderen eine hochoffizielle Anzeichen dafür vorhanden, dass wir es mit (genannt „Distanzsprache“): Leuten zu tun haben, die trotz ihres Reichtums 225 maximal nähesprachlich • Privatgespräch zwischen engen Freunden • Telefon mit Freund ) h ) c h • Interview für Zeitung • SMS an Freund i c ftl dli • Protokoll des Interviews ri n h ü sc m ( ( • Vorstellungsgespräch • abgedrucktes Interview h h sc c • Tagebucheintrag i s h oni • Vortrag vor Klasse • Artikel in der Bildzeitung rap h g m: p • Vortrag vor fremdem Publikum • Stellenbewerbung m: u u i i d d e e M M • Gerichtsurteil (verlesen) • geschriebener Vortrag • FAZ-Artikel • Gerichtsurteil (schriftlich) maximal distanzsprachlich Kommentar: Je nach Situation drücken wir uns also unter- tion typische Eigenheiten bei der Übertragung schiedlich aus: Im vertrauten Gespräch mit einem in das jeweils andere Medium herausgefiltert guten, persönlich anwesenden Freund über ein werden oder (im Falle des verlesenen, zuvor beiden bekanntes, emotional in hohem Maße schriftlich formulierten Vortrags bzw. Urteils) geladenes Thema sprechen Angehörige aller neu dazukommen. Solche Eigenheiten sind: (1) Sprachen und Schichten anders als in einem Gesprächsübernahmesignale (als engl. Fachaus- Vortrag, in dem man einem fremden Publikum druck: „turn-taking signals“), die die Funktion ein unbekanntes Thema nahe bringen soll. Auch haben, dem Gesprächspartner anzuzeigen, dass im schriftlichen Ausdruck gibt es deutliche man die Sprecherrolle übernimmt (vgl. engl. Unterschiede: Eine SMS wird anders formuliert well), (2) Überbrückungssignale wie ähh (mit der als ein Bewerbungsbrief. – Insgesamt besteht eine Bedeutung: „ich möchte weitersprechen, doch Abhängigkeit vom gewählten Medium (Schall- suche ich gerade nach einem Ausdruck“), (3) wellen bzw. Schrift), indem nähesprachliche Beendigungssignale wie süddeutsch gell? (zeigen Äußerungen üblicherweise meist gesprochen an, dass man mit seiner Botschaft zu Ende ist), sind, während distanzsprachliche eher schriftlich (4) Wortwiederholungen wie die ... die ... die ... niedergelegt werden. Desoxyribonukleinsäure usw. Die gestrichelten Pfeile zeigen, wie sich bei ein und derselben Situation die Lage auf dem Kontinuum verschiebt, je nachdem, ob die Situ- Wo eine gegebene sprachliche Äußerung auf ation vom mündlichen ins schriftliche Medium diesem Kontinuum zu liegen kommt, ist von übertragen wird oder umgekehrt. Dies liegt einer ganzen Reihe unterschiedlicher Faktoren daran, dass für die mündliche Kommunika- abhängig: 226
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