Carsten Colpe Weltdeutungen im Widerstreit I 1999 Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer · W Härle · H.-P. Müller Band 100 W DE G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999 Carsten Colpe Weltdeutungen im Widerstreit W DE _G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999 © Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — Cataloging-in-Publication Data Colpe, Carsten: Weltdeutungen im Widerstreit / Carsten Colpe. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 100) ISBN 3-11-015712-8 © Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro- verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Textkonvertierung: Ready Made, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin Hans Jonas (io.Mai 1903 - 5. Februar 1993) Seinem Denken und Andenken bleibend aufmerksam verpflichtet und verbunden Vorwort Mit dem vorliegenden Buch verwirkliche ich die Ankündigung, die ich im Jahre 1990 fiir einen Titel „Weltdeutungen der Neuzeit" im Anhang zum Schrif- tenverzeichnis der mir zum 60. Geburtstag gewidmeten Festschrift riskiert habe. Ich war damit mehreren informellen Vereinbarungen unter Freunden und Kollegen verschiedener Fach- und Hochschulzugehörigkeit gefolgt; wir hielten es fur besser, bei solchen Anlässen von den Betreffenden direkt eine, möglichst öffentliche, Information über noch zu erwartende Publikationen zu erhalten oder einzuholen, als Gerüchten Vorschub zu leisten, die sonst immer aufkom- men und bei Verbreitung unter Umständen gar in offiziösen Planungen eine Rolle mitspielen. Da Alle wissen, was in des Menschen Macht steht und was nicht, habe ich Bedenken, daß ein solches Verfahren auch mißverstanden wer- den und man sich zumal persönlich damit belasten könne, zurückgestellt und am angegebenen Orte sieben Aufsätze und Vorträge, dazu in einem Privat- druck noch einen achten genannt. Davon sind somit heute die drei ungedruck- ten als Vorarbeiten und vier von den fünf gedruckten als Grundstock für ein Buch deklariert, dessen Titel die Worte „im Widerstreit" statt „der Neuzeit" enthält. Gegen ein Vorwort, das sich nach acht Jahren wie zu einem Detail auf die Feststellung „Weltdeutungen im Widerstreit sind gerade für die Neuzeit typisch; man kann nach Ermessen den einen oder den andern Charakterzug hervorheben" beschränkt hätte, wäre wohl kaum etwas eingewandt worden. Aber ich halte an dieser Stelle eine Erklärung für lehrreich, wie ein solcher Wechsel zu einem neuen Projekt geschehen kann und zu verstehen ist, fiir dessen eine Hälfte Titel übernommen sind, die fur ein anderes Vorhaben be- stimmt gewesen waren. Außerdem habe ich einen persönlichen Grund für eine Auskunft gleichen Inhalts: ich möchte Menschen aller Altersstufen, Berufe und Personenstände ein Zeugnis fiir die Wirkung ihrer herzlichen und verständi- gen, reichen, häufig Mühe und Geduld erfordernden Zuwendung vorlegen. Denn sie haben alle, die meisten in den letzten zwölf Jahren, mit einer schier unglaublichen Selbstverständlichkeit gewisse, von mir dem Augenschein über- lassene Krankheitssymptome niemals als Vorzeichen einer alsbald eintreten- den, neurologisch bedingten Arbeitsunfähigkeit hingenommen, sondern sie stets zu Bestandteilen eines unverzüglich herzustellenden Gegenzustandes umgewan- delt. Mit diesem Einsatz, zu dem Studenten am häufigsten Gelegenheit beka- men und wahrnahmen, hat jeder das denkbar Hilfreichste dazu beigetragen, daß ich überhaupt wieder zur Sache dieses Buches kommen konnte. Die mei- VIII Vorwort sten der hiermit - leider nur kollektiv - Erwähnten wünschen sich, darüber Näheres zu erfahren. Wie gern teile ich es mit! Die Arbeit über „Mythos und Messianismus in der nachchristlichen Religi- on" (1967, jetzt Kap. VI; vollständige Titel und genauere Angaben über Pla- nung und Erstpublikation in den „Nachworten und Nachweisen" am Schluß des Bandes) war in Verabredung mit dem Vorstand des Evangelischen Theolo- gen-Kongresses, der das Thema in Wien (26.-30.09.1966) durch einem Ple- numsvortrag behandelt wissen wollte, unternommen worden, weil es nötig schien, die Aufmerksamkeit und die Arbeitsweise der Allgemeinen Religionsge- schichte auf etwas wichtiges Gegenwärtiges zu übertragen. In der ersten Hälfte der 60-er Jahre war über die „Neuen Religionen", „messianischen Bewegun- gen", „nativistischen Revolutionen", und wie man sie sonst noch nennen moch- te, durch die verdienstvollen Publikationen der ersten Spezialisten einschließ- lich der Journalisten und Filmemacher so viel bekannt geworden, und das öffentliche Interesse daran hatte dermaßen zugenommen, daß man sich an Interpretationen gewisser Gesamtaspekte herantasten konnte. Damit begann die Suche nach einem Modell, wie es für heute zu machen sei. Außerdem forderte die „nachchristliche Religion" natürlich von der Theologie besondere Aufmerksamkeit. Es war nicht unbedingt zu erwarten, daß dies bis heute an- dauern würde, aber es ist so geschehen. Ein winziges, vorausweisendes Indiz dafür könnte schon früher darin bestanden haben, daß keine Arbeit mir jemals wieder so viele Stellungnahmen eingebracht hat wie diese. Oft war damit die Anregung verbunden, daraus eine Monographie zu machen. Damit war zwar, so empfand ich es, der Wert der Sache stark überschätzt, aber es bewog mich schließlich, in der üblichen Weise ein Buch zu konzipieren. Es sollte durchaus auf der Linie jener Initialarbeit liegen, sie fortsetzen und ergänzen. Mit dem von mir vorgesehenen Titel: „Weltdeutungen der Neuzeit" sollte die Aufmerk- samkeit auf zwei Umstände gelenkt werden: erstens, daß auch die nicht-euro- päischen und -nordamerikanischen Völker gegenwärtig ihre besondere Epoche haben, für die noch geklärt werden müsse, ob sie im europäischen Sinn gleich- falls „Neuzeit" zu nennen sei (beim „Mittelalter" besteht bekanntlich ein ähn- liches Problem); zweitens, daß ein Epochenbewußtsein für jene Gemeinsam- keit der Nationen, die in der - das Zeitalter der Entdeckungen einschließenden - „frühen Neuzeit" (16. bis 18. Jahrhundert) zur Universalgeschichtsschreibung geführt hat, nicht mehr besteht. Denn die vielen Dinge, die im 20. Jahrhundert zu vermelden waren und sind, hängen noch ganz in den zerfransten Perspekti- ven der Zeitgeschichte, und das 19. Jahrhundert demonstriert weiterhin die Verlegenheit, eine bessere Epochenbenennung für dasselbe zu finden als eben „Das 19. Jahrhundert". Die wichtigsten formalen unter den konzeptionellen Gedanken, die mir immer wieder durch den Kopf gingen, waren die folgenden, (a) Es sollte sich wirklich um „Deutungen der Welt „ und nicht von etwas Kleinerem handeln. Vorwort IX „Welt" sollte in Relation zum Weltbild der Deutenden als Symbol für das jeweils Größte oder Umfassendste verstanden werden, selbst wenn dem Gerin- geren praktisch eine größere Bedeutung zukam. „Welt" sollte also, zum Bei- spiel, für den in ausschließlich soziologischen Kategorien Denkenden nicht seine Nation, sondern die Menschheit sein, für den Astrologen nicht der Aszen- dent im inneren Horoskop, sondern das aus Gestirnen bestehende Universum. Das Essentiale „Welt" sollte Vorrang vor der Alternative haben, ob die religiöse Deutung einer andersartigen vorzuziehen sei oder nicht. Fände sich bei einem Physiker, einem Schriftsteller, in einer politischen Partei, oder wo auch immer, eine Weltdeutung, welche die virtuelle Omnipotenz der religiösen Deutung überzeugend in Frage stellt, bzw. de facto die Funktion der letzteren über- nimmt, so hätte das zugleich Ansätze für eine Untersuchung ergeben, ob nicht in dem Bereich, den man herkömmlich „Natürliche Theologie" nennt, das Natürliche heute einen vorwiegend sozialen Sinn erhalten hat. Die Deutung mußte nicht unbedingt eine explizite, sie durfte auch eine implizite sein, wie es sich z. B. aus dem ganzen Weltverhalten einer Gemeinschaft ergibt, (b) Der eurozentrische, bzw. der westlich, atlantisch oder anderswo zentrierte Stand- punkt des Betrachters sollte aufgegeben werden. Die ehemaligen Kolonialvölker müssen immer und grundsätzlich befragt werden und mitbestimmen, was die Neuzeit ist, und wie sie weiterhin aussehen soll. Dieser Gesichtspunkt sollte nicht zuletzt die Stoffauswahl leiten; sie würde in den klassisch gewordenen Bereichen der europäisch-asiatischen Religionsgeschichte schon aus Propor- tionsgründen sehr rigide ausfallen müssen, (c) Altere und neuere Verhältnisse sollten, falls in ihnen unerwartete Probleme begegnen, jeweils an Hand von Entwicklungslinien, die vom einen zum anderen führen, analysiert werden, (d) Es war auf eine These hin zu arbeiten, die aussagte, von etwa welchem Zeit- punkt an von einer Religionsgeschichte der Neuzeit gesprochen, und wie ihre Periodisierung, ihr demographisches Ausmaß und ihr Verhältnis zur allgemei- nen Geschichte genauer gefaßt werden könne, (e) Es sollten nicht einzelne kürzere Epochen im Ganzen behandelt werden, sondern möglichst Einzel- gebiete, die sich durch mehrere neuzeitliche Epochen hindurchziehen, φ Der Genitiv „der Neuzeit" sollte als objektiver und als subjektiver verstanden wer- den. Das erstere besagt, daß nur die Neuzeit Gegenstand der Darstellung ist. Das letztere besagt, daß jede Zeit Gegenstand der Darstellung sein kann, aber aus einer Sicht, welche klar als spezifisch neuzeitliche zu erkennen ist. Hierfür wollte ich ohne Ausnahme Wissenschaftler gewinnen, die eindeutig als Reprä- sentanten der Neuzeit gelten, und deren Können, so hoffte ich, den in der Neuzeit recht klein gewordenen Bestand an kritischen Darstellungen von Weltdeutungen aufwiegen würde. Ihre Qualifikation sollte sich nicht auf die Fähigkeit beschränken, theoretisch einen neuzeitlichen Standpunkt einnehmen zu können. Gegebenenfalls hätten entweder eine(r) von ihnen und ich gemein- sam, je nach Charakter des Bandes, einen Aufsatz oder ein Kapitel verfaßt, oder χ Vorwort Einzelbeiträge repräsentativer Provenienz hätten einen von mir nur herauszu- gebenden zweiten Band erbracht. Es hätte mir aber zuviel neue Lebensplanung abverlangt, mich nach Ab- schluß der 1967 laufenden Arbeiten auf die Religionsgeschichte der Neuzeit zu spezialisieren und nach angemessener Zeit eine Monographie vorzulegen. Die Erwartungen richteten sich eindeutig auf eine Ergänzung zu denjenigen Ge- genständen, die sich als immer wieder fällige Themen der Neuzeit-Forschung einzubürgern begannen. Dazu ein Gegengewicht zu schaffen, bedeutete für mich, daß dieses Buch nur im Intermissionsverfahren herzustellen sei, zumal der Sache aus anderen, dann leichter beizubehaltenden Arbeitsgebieten viel- leicht manches noch nicht Vorhersehbare zugute kommen konnte. So durfte ich mir wohl vornehmen, immer dann, wenn sich eine Aufgabe aus der Neuzeit stellte und meine Arbeitssituation es erlaubte, eine Studie zu einem weiteren neuzeitlichen Thema zu verfassen, und zwar von Anbeginn mit Blick auf den konzipierten Band. Aber schon wenige Jahre später schien die wissenschaftliche und die öffentliche Diskussion anzuzeigen, daß auch eine eher kompendiöse Zusammenfassung der Dinge schon willkommen sein würde. In diesem Sinne wurde die Arbeit „Synkretismus, Renaissance, Säkularisation und Neubildung von Religionen in der Gegenwart" konzipiert (1974, jetzt Kap. V). Ohnehin hatte sich gezeigt, daß zu dem eben besprochenen unbedingt ein Kapitel hin- zukommen mußte, das mehr von den wichtigsten Tatsachen enthielt und sich nicht auf nachchristliche Religion und auf außereuropäische Verhältnisse be- schränkte. Ohne solchen Bezug galt dasselbe für das vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht geplante, großenteils aus dem Dänischen zu übersetzende „Hand- buch der Religionsgeschichte": es sollte ein Kapitel über die „Neuzeit" hin- zubekommen, da in der dänischen Ausgabe eine entsprechende Bearbeitung fehlte. Unter dem Gesichtspunkt dieses Doppelzweckes hatte ich bei der Aus- arbeitung besonders interessante Gespräche und Korrespondenz mit dem Ver- leger Günther Ruprecht, der sich als letzte Aufgabe in seinem langen Berufs- leben imponierender Weise eine handwerkliche ausgesucht hatte und das Handbuch einschließlich meines Schlußkapitels lektorierte. Was den jetzigen Wiederabdruck anlangt, so habe ich zuerst um Verständ- nis dafür zu werben, daß das V. Kapitel nicht ergänzt oder überarbeitet ist. Schon ein erster Versuch in diese Richtung drohte aus dem jetzigen Text ein Faß ohne Boden zu machen, und dies Verfahren um der Gleichberechtigung der Themen willen auf die anderen Kapitel auszudehnen, hätte jeden geistigen Gewinn ertötet, den man trotz der durch Zeitablauf noch rigider nicht nur anmutenden, sondern wirklich gewordenen Auswahl immer noch haben kann. Die Fortschreibung ζ. B. der Geschichte bestimmter „Sekten" bringt nur an Details ein wenig, an Einsicht aber gar nichts Neues. Wer nur um der Fakten willen Berücksichtigung von Einzelheiten wünscht, kann sich in neueren Hand- büchern und Lexika leicht informieren. Konsequenter Weise habe ich auch