SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Christian Mölling Wege aus der europäischen Verteidigungskrise Bausteine für eine Verteidigungssektorreform S 8 April 2013 Berlin Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten der Stiftung Wissenschaft und Politik ist auch in Aus- zügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet. SWP-Studien unterliegen einem Begutachtungsverfah- ren durch Fachkolleginnen und -kollegen und durch die Institutsleitung (peer review). Sie geben ausschließlich die persönliche Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder. © Stiftung Wissenschaft und Politik, 2013 SWP Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ludwigkirchplatz 34 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-100 www.swp-berlin.org [email protected] ISSN 1611-6372 Inhalt 5 Problemstellung und Empfehlungen 7 Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa 8 Europas defizitärer Verteidigungsapparat 10 Der verteidigungsökonomische Imperativ 11 Der Verteidigungssektor reagiert 16 Zwischenfazit: Einsamer, abhängiger, weniger handlungsfähig 19 Vier Szenarien zur Entwicklung der europäischen Verteidigungspolitik 19 Eine entscheidende Phase und vier Szenarien 21 Gute Gründe für ein Europa der Verteidigung 24 Als Europa handeln: Eine umfassende Verteidigungssektorreform 24 Empfehlungen: Bausteine einer Verteidigungssektorreform 30 Die deutsche Rolle in der europäischen Verteidigung 31 Drei Projekte für eine deutsche Rolle 34 Abkürzungsverzeichnis Dr. Christian Mölling ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik Problemstellung und Empfehlungen Wege aus der europäischen Verteidigungskrise Bausteine für eine Verteidigungssektorreform Europa steckt in einer tiefen Verteidigungskrise. Der rasche und anhaltende Abbau der Verteidigungs- budgets in den europäischen Staaten stellt die ohne- hin geringe militärische Handlungsfähigkeit und deren rüstungsindustrielle Basis bereits heute in Frage. Dies betrifft nicht nur das militärische Krisen- management (angelehnt an den englischen Begriff auch Expeditionsfähigkeit oder Expeditionsaufgaben genannt), sondern auch die Territorialverteidigung. Um nicht in wenigen Jahren außerstande zu sein, ihre verteidigungspolitischen Ziele mit militärischen Mitteln zu erreichen, müssten die EU-Staaten die poli- tischen Voraussetzungen dafür schaffen, sich militä- risch effektiver zu organisieren und ihre Ressourcen effizienter zu nutzen. Die Krise resultiert aus der Kombination zweier Entwicklungen. Weil erstens alle 27 EU-Staaten die politische Entscheidungsfähigkeit über die Belange ihrer Streitkräfte auf nationaler Ebene behalten wollen, sinkt ihre militärische Handlungsfähigkeit. Schon heute können die EU-Staaten weder einzeln noch gemeinsam jene Ziele erreichen, zu denen sie sich in nationalen oder europäischen Strategiedoku- menten bekannt haben. Drastisch sichtbar wurde dies bei der Libyen-Operation 2011. Zwar hatten sich Europas größte Militärmächte Frankreich und Groß- britannien für ein Eingreifen entschieden. Doch ohne die Hilfe anderer, vor allem der USA, waren sie nicht handlungsfähig und konnten den Konfliktverlauf militärisch nicht wesentlich bestimmen. Zweitens leiden die Verteidigungssektoren, also die militärischen Fähigkeiten und deren industrielle Basis, unter den Auswirkungen der Finanzkrise. In der letzten Dekade konnten es die EU-Staaten noch ignorieren, dass ihre Verteidigungsapparate kleiner wurden. Doch der seit 2009 beschleunigte Abbau ver- fügbarer Ressourcen löst einen Paradigmenwechsel aus: Verteidigungshaushalte werden zum strategi- schen Faktor europäischer Sicherheit. Nicht Interessen und Werte der Staaten bestimmen in erster Linie, wel- che militärischen Fähigkeiten sie vorhalten und wel- che sie abschaffen werden. Maßgeblich ist vielmehr, ob diese Fähigkeiten kurzfristig noch bezahlbar sind. Da diese Entwicklung so gravierend und bis auf Weiteres unumkehrbar ist, wird sie die Rahmen- SWP Berlin Wege aus der europäischen Verteidigungskrise April 2013 5 Problemstellung und Empfehlungen bedingungen für die Verteidigungspolitik der EU- Einsätzen teilnehmen können. Das schränkt Deutsch- Staaten grundlegend und dauerhaft verändern. Der lands Handlungsoptionen ein. Zum anderen wächst traditionelle Gegensatz zwischen nationaler Entschei- seine Bedeutung als militärisches Rückgrat Europas: dungsfähigkeit und militärischer Effektivität (bis zu Da der deutsche militärische Beitrag langsamer welchem Grad können die vorhandenen Streitkräfte schmilzt als derjenige anderer Länder, wird er wich- politische Ziele erreichen?) erweitert sich zu einem tiger. Deshalb fordern die EU-Partner, dass Deutsch- spannungsgeladenen Dreiecksverhältnis. Als dritter land sich militärisch künftig stärker engagiert. Bestimmungsfaktor tritt die ökonomische Effizienz Um ihre Verteidigungsfähigkeit zu sichern, müss- (wie viele Ressourcen müssen die Staaten für diese ten die EU-Staaten eine neue Balance zwischen den Handlungsfähigkeit aufwenden?) hinzu. drei Polen Verteidigungspolitik, Verteidigungsorgani- Dieses neue Spannungsverhältnis schafft drei sation und Verteidigungsökonomie finden. Sie müss- Herausforderungen für die EU-Staaten und ihre ten gemeinsam Verteidigung ökonomisch effizienter Verteidigungsfähigkeit: und militärisch effektiver gestalten. Zu diesem Zweck Militärische Handlungsfähigkeit erhalten. Die mili- müssten sie die gemeinsame politische Entscheidungs- tärischen Fähigkeiten der EU-Staaten drohen auf fähigkeit auf europäischer Ebene verbessern. ein Niveau zu sinken, mit dem diese selbst bei klei- Dazu empfiehlt sich eine umfassende Verteidi- nen Operationen militärisch oder politisch keinen gungssektorreform, unter anderem mit folgenden Einfluss mehr auf deren Verlauf und Ausgang haben. Bausteinen: Politische Spaltung der Sicherheitsgemeinschaft einem jährlich tagenden Verteidigungssektorrat verhindern. Da die EU-Staaten unterschiedlich von der EU-Staats- und Regierungschefs, der militäri- der Verteidigungskrise betroffen sind und ungleich sche und industrielle Planziele als Eckpfeiler einer darauf reagieren, läuft die Sicherheitsgemeinschaft EU-organisierten Aufgabenverteilung definiert, der EU Gefahr auseinanderzubrechen. Wer weniger Verträgen zur Versicherung gegen die politischen militärische Beiträge leisten kann, wird auch weni- Risiken von Kooperation und Rollenspezialisierung, ger Einfluss auf politische Entscheidungen ausüben EU-Brigaden als Verbänden, in denen die militäri- können. sche Rollenverteilung praktisch umgesetzt wird, Gleichzeitig sparen und investieren. Wollen die EU- (Re-)Investitionspools als Anreiz für sparsame Staaten in Zukunft mit kleineren Haushalten ver- Gemeinschaftsprojekte, teidigungsfähig sein, müssen sie wirtschaftlicher Preisschildern für alle militärischen Güter und mit ihren Ressourcen umgehen. Wo Fähigkeiten Dienstleistungen, um Kosten transparenter zu jetzt schon fehlen, müssten die Staaten diese machen, und Lücken durch zusätzliche Investitionen schließen. einer Tauschbörse und einer Partneragentur für Weil dafür aber künftig noch weniger Ressourcen europäische Ausrüstung. verfügbar sein werden, erfordert dies intensivere Deutschland ist stark von seinen Partnern abhängig Absprache und Kooperation unter den EU-Staaten. und daher in besonderer Weise an deren Handlungs- Bislang jedoch reagiert Europa mit nationaler Viel- fähigkeit interessiert. Es sollte deshalb falt und europäischer Uneinigkeit und deshalb erfolg- politische Koordination und Ausgleich durch ein los auf die Verteidigungskrise. Mittlerweile entsteht Führungstrio in der Verteidigungspolitik (zusam- sogar der Eindruck, dass die Maßnahmen einiger Staa- men mit Großbritannien und Frankreich) schaffen, ten eher schaden als nutzen, da sie sich auf nationale militärische Führung übernehmen, und zwar als Probleme richten statt auf den Erhalt europäischer ständige Rahmennation, und Handlungsfähigkeit. Auch die Bundeswehrreform seine Präferenzen für den anstehenden industriel- nimmt vor allem die nationalen Gegebenheiten als len Konsolidierungsprozess klären. Ausgangspunkt für Planungen. Deutschland ist durch die Schwäche Europas beson- Konkret könnte Deutschland ders gefordert. Zum einen ist es beim Einsatz seiner eine deutsch-französische Luftwaffe initiieren, Armee politisch weitaus abhängiger davon, dass Part- einen europäischen Pool von Transporthubschrau- ner aus der EU mitziehen, als es etwa Frankreich oder bern bilden, Großbritannien sind. Doch diese Partner, überwie- seine militärischen und industriellen Kapazitäten gend kleinere Länder, könnte Berlin verlieren, wenn bei Kampfpanzern zum Anlass nehmen, einen sie aufgrund von Haushaltskürzungen nicht mehr an zentralen Pool von Panzern aufzubauen. SWP Berlin Wege aus der europäischen Verteidigungskrise April 2013 6 Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa Tabelle 1 Dimensionen der Verteidigung Dimension Fragestellung Idealtypisches Ziel Verteidigungspolitik (politisch- Wozu dient Verteidigung? Wer bestimmt Politische Entscheidungsfähigkeit konzeptionelle Dimension) darüber und über die beiden anderen im Hinblick auf den Einsatz Dimensionen? militärischer Gewalt Verteidigungsorganisation Wie wird Verteidigung organisiert, also Militärische Effektivität (institutionelle Dimension) Aufbau, Aufrechterhaltung und Einsatz militärischer Fähigkeiten? Verteidigungsökonomie Welche Ressourcen benötigt Ökonomische Effizienz (materielle Dimension) Verteidigung? Quelle: eigene Darstellung. Der Begriff Verteidigung umfasst in dieser Studie Europa steckt in einer Verteidigungskrise, weil es Aufbau, Aufrechterhaltung und Einsatz militärischer sich in allen drei Dimensionen am Scheideweg be- Fähigkeiten im internationalen militärischen Krisen- findet. Zudem verstärken sich die Probleme aus den management (im Folgenden analog zum englischen drei Bereichen gegenseitig. Als Reaktion auf den Begriff Expeditionsaufgaben genannt) und in der langfristig anhaltenden Abbau ihrer Verteidigungs- Landes- oder Bündnisverteidigung.1 Verteidigung lässt budgets reduzieren die EU-Staaten seit 2010 rasch sich mit drei Dimensionen erfassen (Tabelle 1).2 und unkoordiniert militärische Fähigkeiten. Die Krise hat einen verteidigungspolitischen Para- 1 In dieser Studie wird Verteidigung nicht in Landesverteidi- digmenwechsel hervorgerufen. Die Staaten stellen gung und Expeditionsaufgaben unterteilt, denn für die nicht mehr die Ziele, sondern die verfügbaren Mittel wesentlichen Elemente der Streitkräftestruktur europäischer an den Anfang ihrer Überlegungen: Am Beginn der Armeen hat diese Trennung immer weniger Bedeutung. Konzeptionell stellen die Armeen Europas auf Beiträge zu Verteidigungsreformen in Deutschland, Frankreich Friedensoperationen um oder wollen zusätzlich noch und Großbritannien stand der Ressourcenmangel. Landesverteidigung betreiben können. Praktisch bedeutet Diese Entwicklung untergräbt die ohnehin geringe Landes- oder Bündnisverteidigung für die meisten Staaten militärische Handlungsfähigkeit Europas und deren Europas heute, expeditionsfähig zu sein, da die Verteidigung rüstungsindustrielle Basis. nicht auf ihrem eigenen Territorium stattfinden würde. Institutionell werden Landesverteidigung und Expeditions- Aus diesen Gründen wird Europa nicht umhin aufgaben in NATO und EU aus dem gleichen nationalen kommen, sich militärisch effektiver zu organisieren Truppenpool bedient. Dafür werden Armeen in kleinen und seine Ressourcen effizienter zu nutzen, wenn es Verbänden modular aufgebaut. Ihre Spezialisierung findet militärisch handlungsfähig bleiben will. Dafür gilt es erst in der Vorbereitung auf konkrete Missionen statt. Diese die politischen Voraussetzungen zu schaffen. Andern- Armeen werden aus dem gleichen Topf bezahlt und nutzen falls ist Europa möglicherweise bald nicht mehr in weitgehend das gleiche Gerät für Landesverteidigung und Expeditionsaufgaben. Zusammenfassend hierzu Anthony der Lage, seine verteidigungspolitischen Ziele mit King, The Transformation of Europe’s Armed Forces. From the Rhine militärischen Mitteln zu erreichen. to Afghanistan, Cambridge 2011. Die Überschrift dieses Studienkapitels ist angelehnt an Nick Witney, How to Stop the Demilitarisation of Europe, London: European Council on und die Rolle internationaler Organisationen«, in: Andreas Foreign Relations (ECFR), November 2011 (Policy Brief). Wenger/Victor Mauer/Daniel Trachsler (Hg.), Bulletin 2008 zur 2 Zu den drei Dimensionen in der Fähigkeitsentwicklung schweizerischen Sicherheitspolitik, Zürich: Center for Security siehe Christian Mölling, »Nationale Fähigkeitenentwicklung Studies (CSS), 2008, S. 89–122. SWP Berlin Wege aus der europäischen Verteidigungskrise April 2013 7 Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa Die Staaten wehren sich gegen die Auswirkungen keiten jeweils für sich ineffektiv und miteinander der Verteidigungskrise. Sie sparen national und kür- unvereinbar organisieren. zen in ihren Verteidigungsapparaten. International Autonomiezentriertes Souveränitätsverständnis. wollen sie mit mehr Kooperationsprojekten ihre Alle Regierungen wollen eigenständig über militä- Sicherheitsgemeinschaft3 stärken. Doch die meisten rische Angelegenheiten entscheiden, vom Kleinst- Aktivitäten sind von dem Wunsch getrieben, militä- staat Malta bis zur militärischen Mittelmacht risch und politisch unabhängig zu bleiben. Deshalb Frankreich. Doch sämtliche Länder sind in ihrer erreichen die Staaten das Gegenteil von dem, was sie Verteidigungspolitik schon lange von ihren euro- beabsichtigen: Weil sie nationale militärische Fähig- päischen Partnern abhängig. Sie sind also zur keiten verlieren, steigt die gegenseitige Abhängigkeit. Zusammenarbeit gezwungen, um ihre Interessen Mehr noch: Schrittweise kommen den Staaten ihre durchzusetzen. Kooperationsgegenstände abhanden, so dass die Chan- cen für internationale Zusammenarbeit schwinden. Beim Abbau der Verteidigungsfähigkeiten sind Libysche Symptome weniger die Mengen von Material und Truppen das Problem, sondern vor allem die immer brüchiger Die Operation Unified Protector in Libyen 2011 war werdende Fähigkeitsarchitektur. Dieses Gefüge4 von nicht nur für die NATO ein Lackmustest, sondern auch Know-how, Führungsinstitutionen sowie Ausrüstung für die militärischen Fähigkeiten der EU. Die meisten und Infrastruktur für Militäroperationen können die EU-Staaten sind auch NATO-Mitglieder und stellen ihr Staaten mittlerweile nur noch gemeinsam zusam- die gleichen Kräfte zur Verfügung (single set of forces). menhalten. Ihre Beiträge dazu verändern die EU-Staa- Der Libyen-Einsatz ist zum Symbol europäischer ten jedoch ohne Absprache mit den Partnern und Handlungsunfähigkeit geworden: Weder ein Staat ohne langfristige Überlegungen, wie diese Architektur Europas allein noch die EU insgesamt kann sicher- in Zukunft aussehen soll. Sie drohen militärisch hand- heitspolitische Interessen mittels militärischer Macht lungsunfähig zu werden, weil sie bereits bestehende über eine Entfernung von nicht einmal 1000 Kilo- Fähigkeitslücken nicht schließen können und zudem metern durchsetzen. neue entstehen. So rutschen die EU-Staaten in immer Die teilnehmenden Europäer konnten den Einsatz mehr Bereichen unter das Niveau, das sie benötigen, nur schwer durchhalten und steuern. Die beiden um militärisch noch eine Rolle spielen zu können. größten europäischen Militärmächte Frankreich und Großbritannien hatten zwar die politische und mili- tärische Führung der Operation übernommen, waren Europas defizitärer Verteidigungsapparat aber nicht imstande, die militärische Entscheidung zu erzwingen. Dazu fehlten ihnen die Kräfte und Die Verteidigungskrise entstand aufgrund dreier Reserven, nachdem sich die USA nach drei Tagen aus Probleme im europäischen Verteidigungssektor: den unmittelbaren Angriffen zurückgezogen hatten.5 Abnehmende militärische Handlungsfähigkeit. Damit haben die EU-Staaten ihre militärischen Symptomatisch für den defizitären Verteidigungs- Planziele weitgehend verfehlt, die sie in Form des apparat ist der NATO-Einsatz in Libyen. Die teil- Headline Goal 2010 und des Level of Ambition 2008 gemein- nehmenden Europäer verfügten weder über die sam vereinbart hatten. Nicht nur bestehen Europas erforderliche Ausrüstung noch über ausreichend Fähigkeitslücken fort, sie sind sogar größer geworden. einsetzbare Kräfte, um diese Operation in ver- Dabei handelt es sich sowohl um altbekannte Defizite gleichbarer Weise auch ohne die USA zustande bei Aufklärungsmitteln und Flugzeugen als auch um zu bringen. neue, überraschende Lücken bei Munition und Ersatz- Unzureichende Organisation. Die militärische teilen.6 Viele Staaten konnten an der Operation nicht Handlungsfähigkeit schrumpft, weil die EU-Staaten teilnehmen, weil sie schlicht nicht über die Ausrüs- Rüstung sowie Generierung militärischer Fähig- 5 Michael Clarke u.a., Accidental Heroes. Britain, France and the 3 Der Begriff stammt ursprünglich aus Karl W. Deutsch u.a., Libya Operation, London: Royal United Services Institute (RUSI), Political Community and the North Atlantic Area. International September 2011 (RUSI Interim Libya Campaign Report). Organization in the Light of Historical Experience, Princeton 1957. 6 International Institute for Strategic Studies (IISS), The 4 Mölling, »Nationale Fähigkeitenentwicklung« [wie Fn. 2]. Military Balance 2012, Oxford 2012, S. 73ff. SWP Berlin Wege aus der europäischen Verteidigungskrise April 2013 8 Europas defizitärer Verteidigungsapparat tung verfügten.7 Schwedische Kampfflugzeuge konn- also Staaten und Industrien, beide Phasen aufeinander ten zwar aufklären, aber keine Präzisionsangriffe auf abstimmen. Das bedeutet, dass sie möglichst gleiche Bodenziele fliegen, weil sie die Waffen hierfür nicht Zielvorstellungen besitzen, alle Beteiligten die zur besitzen und ihre Besatzungen die Manöver nicht Koordination geschaffenen Institutionen und Prozesse beherrschen.8 nutzen und die Staaten Ressourcen gemeinsam Vor allem aber fehlte den Europäern das elektroni- bereitstellen. Zudem können Staaten Gerät, das sie sche Rückgrat, mit dem Sensoren und Waffensysteme gemeinsam entwickeln und bauen, auch einfacher vernetzt werden. Ohne diese globale Schnittstelle, die zusammen bedienen, einsetzen und warten. derzeit nur die USA bereitstellen können, ist Europa In der EU ist das Gegenteil der Fall. Europa setzt militärisch weitgehend blind und taub. In der NATO zwar seit 20 Jahren gemeinsam seine Streitkräfte ein, geht man davon aus, dass rund 90% der Militäraktio- doch Rüstung und Fähigkeitsgenerierung finden nen in Libyen ohne Washingtons Hilfe nicht möglich weitestgehend national statt:12 gewesen wären.9 Für die Fähigkeitsgenerierung in der EU haben die Staaten zwar viele EU-Institutionen (EU-Militärstab, EU-Militärausschuss, Europäische Verteidigungs- Fähigkeitsentwicklung: Effektiv versus europäisch agentur) und Prozesse (Capability Development Plan, Headline Goal) entwickelt. Darin haben sie Der Grund für diese operativen Schwächen liegt in eine gemeinsame Problemwahrnehmung und zahl- den Defiziten der europäischen Fähigkeitsentwick- reiche allgemeine Zielvorstellungen formuliert lung. Diese lässt sich grundsätzlich in zwei Phasen (Helsinki Headline Goal, Headline Goal 2010, Level unterteilen.10 of Ambition 2008). Inkohärent aber bleiben bis heute die Antworten auf die konzeptionelle Frage, In der Rüstungsphase11 wird durch Forschung, Entwick- welche Streitkräfte für welche Einsätze die Staaten lung, Tests und Produktion neue Ausrüstung geschaf- in der Praxis vorhalten sollten. fen. Hier spielt die verteidigungsindustrielle Basis eine Die EU-Staaten haben sich bemüht, gemeinsame große Rolle. Sie besteht aus Labors, Firmen, Wissen, Fähigkeiten bereitzustellen, bislang jedoch weit- Werkstoffen und anderem. Durch technologische gehend ohne Erfolg. Ausnahmen sind EU-Battle- Innovation, Rüstung, aber auch Wartung trägt die groups, Planungsfähigkeiten und strategischer verteidigungsindustrielle Basis zur militärischen Lufttransport. Es bleiben erhebliche Fähigkeits- Handlungsfähigkeit bei. lücken. Der EU ist es bisher nicht gelungen, ihre Die Fähigkeitsgenerierung umfasst Planung, Aufstellung, Mitglieder zu Beiträgen jenseits ihrer nationalen Organisation und Betrieb von Streitkräften. Dies Fähigkeitsbedarfe zu bewegen. beinhaltet die Ausbildung der Soldaten ebenso wie Die Staaten organisieren Rüstung überwiegend Dienstleistungen an Gerät. außerhalb des EU-Rahmens. Maßgeblich sind dabei nicht so sehr gemeinsame sicherheitspolitische Fähigkeitsentwicklung ist umso effektiver und Bedürfnisse, sondern vielmehr nationale Industrie-, effizienter, je besser die beteiligten Akteursgruppen, Technologie- und Strukturpolitiken. Letztere stehen im Widerspruch zu einer internationalisierten Markt- und Industriestruktur. Mit Hilfe von Artikel 7 Karen DeYoung/Greg Jaffe, »NATO Runs Short on Some Munitions in Libya«, in: The Washington Post, 15.4.2011, 346 im Vertrag über die Funktionsweise der EU <www.washingtonpost.com/world/nato-runs-short-on-some- (VFEU) und des Juste-Retour-Prinzips haben die EU- munitions-in-libya/2011/04/15/AF3O7ElD_story.html> (Zugriff Staaten den Druck abgewehrt, ihre nationalen am 29.5.2012). Beschaffungsverfahren und Marktregeln zu euro- 8 Paul Smyth, »Libya: Is NATO Doing Enough?«, RUSI Analysis, päisieren. Artikel 346 VFEU erlaubt den Staaten, 15.4.2011, <www.rusi.org/analysis/commentary/ref:C4DA 85C7E0FB14/> (Zugriff am 29.5.2012). ihre Rüstungsgüter vom Wettbewerb auf dem EU- 9 Interview mit einem Offizier im NATO-Militärstab, Binnenmarkt auszuschließen, wenn sie dadurch 24.6.2011; Interview mit einem Offizier im NATO-Militärstab, ihre nationale Sicherheit bedroht sehen. Juste 27.11.2011. 10 Mölling, »Nationale Fähigkeitenentwicklung« [wie Fn. 2]. 11 Zur Rüstung allgemein und als Prozess siehe Michael 12 Tomas Valasek, Surviving Austerity. The Case for a New Geyer, Deutsche Rüstungspolitik 1860–1980, Frankfurt am Main Approach to EU Military Collaboration, London: Centre for 1984, S. 9–23. European Reform (CER), April 2011, S. 1. SWP Berlin Wege aus der europäischen Verteidigungskrise April 2013 9 Die Verteidigungskrise entmilitarisiert Europa Retour bedeutet, dass Aufträge in internationalen Staaten zusammen über 190 Milliarden Euro an Mili- Rüstungsprojekten nicht an den besten Anbieter tärbudgets. Stattdessen verwalten 27 Verteidigungs- vergeben werden, sondern an die Firmen der betei- ministerien von Malta bis Frankreich 27 Armeen mit ligten Staaten, prozentual entlang der Kaufanteile, 3000 bis 300 000 Soldaten. die die Staaten in dem Projekt haben. Damit nicht genug: Diese Praxis und ihre Folgen Aus diesen Gründen bleiben internationale Rüs- untergraben den eigenen Souveränitätsanspruch. tungskooperation und Beschaffung intergouverne- Dieser leitet sich auch im traditionellen Verständnis mental organisiert. EU-Gemeinschaftsinstrumente daraus ab, nicht nur entscheiden, sondern auch wie die Beschaffungsdirektive13 spielen de facto effektiv handeln zu können, um Probleme zu lösen.15 bislang keine Rolle. Daher ist der europäische Kein Staat in Europa aber besitzt derzeit eine solche Rüstungssektor von 27 einzelstaatlichen Regel- autonome militärische Handlungsfähigkeit. Libyen werken für Ordnungs-, Industrie- und Technologie- war 2011 der jüngste Nachweis dafür. Schon länger politik gekennzeichnet. So entstehen unter ande- sind die wenigsten Länder in der Lage, mehr als 1000 rem beträchtliche Überkapazitäten in der Produk- Mann jenseits ihrer Grenzen zu verlegen und zu tion, die die Erzeugnisse verteuern und die Nach- versorgen.16 frage des europäischen Marktes weit übersteigen. Der nationale Entscheidungsvorbehalt verhindert Kosten, die die Unternehmen nicht über den Export zugleich, dass sich die Staaten auf die gemeinschaft- auffangen können, geben sie an die Staaten wei- liche Stärkung militärischer Handlungsfähigkeit ein- ter.14 lassen. Sie fürchten, dass ein Partner aus einer Koope- Die Phasen Rüstung und Fähigkeitsgenerierung ration jederzeit aussteigen könnte und sie deshalb17 werden in der EU nicht aufeinander abgestimmt. In in einem Einsatz allein gelassen werden, weil ein beiden Bereichen sind weder die jeweiligen Institu- Partner seine Truppen zurückzieht, tionen der EU und der Staaten miteinander ver- nicht in den Einsatz gehen können, weil ein Partner bunden noch die Konzepte für Fähigkeitsentwick- mit wichtigen Fähigkeiten sich nicht beteiligt, lung und Ausrüstung. Auch intergouvernemental auf ihre Kosten einem Partner Sicherheit verschaf- ist es die Ausnahme, dass Ausrüstung gemeinsam fen, ohne dass er eigene Beiträge liefert (Trittbrett- konzipiert wird und sich so die Chance eröffnet, fahren). dass Streitkräfte diese Produkte gemeinsam kaufen und nutzen. In der Regel entwickeln und beschaf- fen die Staaten parallel und konkurrierend. Der verteidigungsökonomische Imperativ Die Probleme der europäischen Verteidigungsfähig- Grundproblem Souveränität: keit verschmelzen seit 2009 mit jenen, die aus der Entscheidungsfähigkeit vor Handlungsfähigkeit Finanzkrise erwachsen. Aus der schnellen, starken und für die Zukunft anhaltenden Reduzierung in den Die Ineffizienzen in der europäischen Fähigkeits- öffentlichen Haushalten entsteht für die meisten EU- entwicklung sind die Kehrseite des Souveränitäts- Staaten ein verteidigungsökonomischer Imperativ: anspruchs aller EU-Staaten, also des Bestrebens, in Die EU-Staaten müssen ihre Verteidigungshaushalte militärischen Angelegenheiten national autonom kürzen, dürfen dies aber nicht unkontrolliert tun, entscheidungsfähig zu sein. sondern sollten gleichzeitig eine gemeinsame Verteidi- Eine Folge davon ist militärische Kleinstaaterei in Europa. Sie verhindert, dass die Staaten von Effektivi- 15 Advisory Council on International Affairs (Hg.), European tätsgewinnen profitieren, die sie durch mehr Koope- Defence Cooperation. Sovereignty and the Capacity to Act, Nr. 78, ration erzielen könnten. Immerhin verfügen die EU- Den Haag, Januar 2012, S. 11ff; Philipp Genschel/Bernhard Zangl, »Die Zerfaserung von Staatlichkeit und die Zentralität 13 Directive 2009/81/EC of the European Parliament and of the des Staates«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (2007) 20–21, S. Council of 13 July 2009 on the Coordination of Procedures for the 10–16. Award of Certain Works Contracts, Supply Contracts and Service 16 European Defence Agency (EDA), Defence Data: EDA Partici- Contracts by Contracting Authorities or Entities in the Fields of Defence pating Member States in 2010, Brüssel 2012, S. 34–39. and Security, Brüssel, 13.7.2009. 17 Claudia Major/Christian Mölling/Tomas Valasek, Smart but 14 Keith Hartley, The Economics of Defence Policy. A New Perspec- Too Cautious. How NATO Can Improve Its Fight against Defence tive, Abingdon/New York 2011. Austerity, London: CER, Mai 2012 (Policy Brief). SWP Berlin Wege aus der europäischen Verteidigungskrise April 2013 10