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Was tun?: Romane am Ende der Weimarer Republik PDF

289 Pages·1999·36.756 MB·German
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Walter Delabar Was tun? Walter Delabar Was tun? Romane am Ende der Weimarer Republik Westdeutscher Verlag Gedruckt mit Unterstutzung des Forderungs-und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. Aile Rechte vorbehalten © Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen/Wiesbaden, 1999 Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Bertelsmann Fachinformation GmbH. Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbe sondere fur Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. http://www.westdeutschervlg.de Hochste inhaltliche und technische Qualitat unserer Produkte ist unser Ziel. Bei der Produk tion und Verbreitung unserer Bucher wollen wir die Umwelt schonen: Dieses Buch ist auf sau refreiem und chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die EinschweiBfolie besteht aus Po lyathylen und damit aus organischen Grundstoffen, die weder bei der Herstellung noch bei der Verbrennung Schadstoffe freisetzen. Umschlaggestaltung: Christine Huth, Wiesbaden ISBN-13: 978-3-531-13315-7 e-ISBN-13: 978-3-322-83331-0 DOl: 10.1007/978-3-322-83331-0 Inhalt 1. Kapitel Was tun? Wie leben? Wer sein? System und Plan der praktischen Tiitigkeit Einige Fallgeschichten und Fragestellungen .......................................................... 7 Ernst von Salomon Die Geiichteten, Manes Sperber Sieben Fragen, Hans Fallada Wolfunter Wolfe n, Alfred Dablin Berlin Alexanderplatz und Hans Fallada Kleiner Mann - was nun? 2. Kapitel Modernitiit: Zum Verhiiltnis von sozialer Komplexitiit und Ambivalenz zur individuellen Handlungsfiihigkeit Ein soziologischer Exkurs ........... ........... ..... .............. ............... ........ .................... 29 3. Kapitel Linke Melancholie? Erich Kiistners Fabian ......................................................... 77 4. Kapitel Pioniere Modelle weiblicher Biographie bei Irmgard Keun und Marieluise FleiSer .......... 97 Irmgard Keun Gilgi, eine von uns und Das kunstseidene MOOchen, Marieluise FleiSer Mehlreisende Frieda Geier 5. Kapitel Das Antidot gegen Komplexitiit Romane tiber Bauern, Siedler, Soldaten ............................................................. 135 Karl Heinrich Waggerl Brot, Ulrich Sander Kompost, Ernst Wiechert Das einfache Leben und Oskar Maria Graf Der harte Handel 6. Kapitel Arbeiterkiller, Deutschlandretter Freikorpsromane von Arnolt Bronnen und Hanns Heinz Ewers .... .................... 183 Hanns Heinz Ewers Reiter in Deutscher Nacht und Horst Wessel, Arnolt Bronnen O. S. 7. Kapitel Die Partei und ihre Heiden ................ ............................ .......................... ........... 229 Anna Seghers Die Gefiihrten und Bertolt Brecht Die Maj3nahme Literaturverzeichnis . .......... ........................................... ............. ......................... 259 Die Studien dieses Buches sind aIs personliche Versuche zu verstehen. Freilich ist der Blick, der dabei riskiert wurde, nicht immer so neu, wie er sich gibt, und, wo das BewuBtsein fUr Vorarbeiten immerhin vorhanden war, nicht immer ganz frei von dem Bediirfnis, sich gegen sie abgrenzen zu wollen. DaB dies alles iiberhaupt abgeschlossen werden konnte, habe ich verschiedenen Gonnern, Kritikern, Freunden und Kollegen (beiderlei Geschlechts) zu danken, meinen Eltern und meiner Lebensgefiihrtin Anne Bentfeld vorweg. Von allen anderen sei besonders den folgenden Dank gesagt, in der Folge des Alphabets: Gregor Ackermann, Gerhard Bauer, Christiane Caemmerer, Horst Denkler, JOrg Doring, Werner Jung, Norbert Oellers, Hans-Gert Roloff, Erhard Schiitz, Oliver Sill, Stefan Weidle und Bernd Witte. Dem Fachbereich Germanistik der Freien Universitiit Berlin, an dem ich die vergangenen Jahre arbeiten durfte und der mir Arbeitsmoglichkeiten erOffnet hat, die iiber das Selbstverstandliche hinausgehen, gilt selbstverstiindlich ebenso mein Dank wie dem Verlag, dem ich in der Vorbereitung dieser Veroffentlichung man che Eigenheit zugemutet habe. Ein Dankeschon auch an die VG Wort, die den Druck mit einem ZuschuB befOrdert hat. 1. Kapitel Was tun? Wie leben? Wer sein? System und Plan der praktischen Tatigkeit. Einige Fallgeschichten und Fragestellungen "Die Alten behaupten, es wiirde nun Zeit Fiir uns zum Siien und Emten. Noch einen Moment, bald sind wir soweit. Noch einen Moment. Bald ist es so weit! Dann zeigen wir euch, was wif lemten!" Erich Kastner: Jahrgang 1899 1. Selbstermachtigung Ende 1918, das Datum ist nicht genau auszumachen, hockt ein sechzehnjahriger Kadett in einer deutschen Stadt frostelnd in seiner Stube. Ein Wachtmeister hat ihm geraten, seine Uniform auszuziehen, statt ihn gegen die Aufstandischen zu schicken. Er ist dem wie dem Befehl eines Offiziers gefolgt und nach Hause ge gangen. Aber er merkt schnell, daB es dabei nicht sein Bewenden haben kann. Der Himmel iiber der Stadt ist mehr gerotet als sonst. In der Ferne hallen Trompeten, nur in dem Zimmer, in dem er hockt, ist es still. Die Verwirrung des jungen Mannes ist groB. Der Weg, der ihm vorgezeichnet war, ist verschiittet. Das blutige Vorbild seiner Vorfahren und Verwandten, die im jiingst vergangenen und in friiheren Kriegen gefallen sind, Siegel fiir die Giiltigkeit dessen, was er ange strebt hat - es ist nicht mehr giiltig, eben so wenig wie die Selbstverstandlichkeit, mit der er Teil einer hierarchisch aufgebauten Welt war. Befehl und Gehorsam sind sinnlos geworden. Die Welt, deren Teil er war, ist endgiiltig in den Staub gesunken und wird sich daraus nie mehr erheben. Ihre Formen sind dahin. Eine Situation, in der es darauf ankommt, in der Entscheidungen notwendig sind und in der er sich auf das letzte ihm zu Gebote stehende Mittel besinnen muB, auf sich selbst. Der einzige Halt, der ihm jetzt noch bleibt, das einzige, was jetzt Form haben muB, ist er selbst. Er muB bestehen, vor was auch immer. Es kommt allein auf ihn, auf die Unbeirrbarkeit seiner Haltung an. Ein Befehl gilt nicht mehr. Der junge Mann ist nicht mehr in Obhut. Deshalb naht er die Achselklappen wieder an die Uniform, die seine Mutter zu vor abgetrennt hat. Er tritt auf die StraBe, die Koppel gegen jede Vorschrift iiber den Mantel geschnallt, das Seitengewehr, blank, spitz, aber ungeschliffen, in der eleganten Lederscheide, eine untaugliche Waffe im Notfall, selbst als er sie zieht. Schon bald trifft er auf einen ungeregelten, formlosen Haufen hinter einer schlaffen Fahne, Weiber an der Spitze, in breiten Rocken, spitzen Gesichtern, die vorbeifahrenden Matrosen kreischend zujubeln. Unmoglich, vor denen zu kapitu- 1. Erich Kastner: Jahrgang 1899. In: Kastner: Herz auf Taille, S. 8. 8 I. Kapitel: Was tun? Wie leben? Wee sein? lieren, ein Strudel, dem er nieht verfallen will. Er will der Gefahr trotzen, in die er notwendig gerat, aueh der, die von den siegreichen Matrosen droht, von der Menge wie yom einzelnen, dem Artilleristen, dem mit dem steifen Hut. Aus der Gefahr rettet ihn sehlieBlieh ein Offizier: sehlank, groB, mit undureh dringbaren Augen. In blauer Husarenuniform geht der geradewegs auf den Haufen urn den Kadetten zu, der sieh vor ihm auftut wie das Rote Meer vor dem Yolk des Alten Bundes. Die Weiber sind still. Ein Mann mit Haltung, dem man nieht zu johlt, sondern vor dem man wortlos zuriiekweieht. Ein Vorbild, jemand, der aueh einmal Kadett war und versteht, was es heiBt, wenn der junge Mann sagt: "Die Aehselklappen haben sie mir nieht abgerissen.'02 Und der weiB, daB der junge Ka dett die Probe bestanden hat. Es kommt nun darauf an, sieh dieser Priifung wiirdig zu erweisen. Gesehiehten werden erzahlt, als ob sie gesehehen waren. Gerade weil das so ist, erzahlt sie niemand, es sei denn, er hatte Grund dazu, er wollte etwas bestimmtes damit sagen oder zeigen. So aueh in diesem Fall, in Ernst von Salomons Roman Die Geiichteten. Ohne Zweifel, die Welten des Kaiserreiehs und des GroBen Kriegs existieren nieht mehr. Die alte Gesellsehaft mit ihrer Ordnung ist zerstOrt, ist zerbroehen, versunken. Alles ist in FluB geraten, formlos und ungegliedert. Die alten Regeln sind suspendiert, und die alten Formen sind zertriimmert. DaB die hungernden Weiber den Zug hinter der Roten Fahne anfiihren und keine Manner, ist ein deutli ehes Zeiehen dafiir, daB die Welt ins Gegenteil verkehrt ist. Dieser Moment der extremsten Formlosigkeit und Verwirrung sehlagt freilieh auf den einzelnen, den jungen Mann, der noeh werden wollte, was die anderen (seinesgleiehen) schon sind, anders dureh, als man erwarten konnte. Er erstarrt nieht in Handlungsunfahigkeit. Er krieeht nieht bei Ersatzformen und -institutionen unter, die auf der Hand oder nahe liegen. Er sueht in diesem Moment nieht naeh einer neuen Ordnung, die die alte ersetzt. Er versehwindet nieht von dieser Welt, in der er keinen Platz mehr hat, da es Platze, Koordinaten, naeh denen man ihren Ort bestimmen konnte, nieht mehr gibt. Er wird ebensowenig in ein Chaos unverbun dener Individuen geworfen, die dureheinanderwirbeln, sieh zu Haufen konzentrie ren, miteinander kollidieren und auseinanderfahren, wie es sieh gerade ergibt, antriebslos, willenlos, ziellos. 1m Moment der hOehsten Krise und der hOehsten Ge fahr, von der Masse aufgesogen, Masse zu werden, im Moment der Nivellierung jedweder Individualitat gesehieht etwas Unglaubliehes: Das Individuum ermaehtigt sieh selbst. Der einzelne ist auf sieh selbst zUrUekgeworfen und darauf, was er an Haltung zustande bringt. Deshalb kommt es nur noeh auf ihn an. Er ist es, der nun Form annehmen muB und sieh nieht mehr darauf verlassen kann, in einer Welt der Formen leben zu konnen. Sieh am Leben zu halten, die erlernten Vorgaben in ei gene Form zu transferieren, sieh einen eigenen Weg zu bahnen, das ist die Aufga be, die sieh fiir den Kadetten stellt. Er wirft keine Last von den Sehultern, sondern er nimmt eine auf. Er ist die einzige Garantie fiir Stabilitat und die einzige Barriere 2. Ernst von Salomon: Die Geiichteten, S. 7-13. I. Selbsterrnachtigung 9 gegen das Chaos, gegen den fluB, gegen die Formlosigkeit. Der Mann, der sich dieser Geschichte erinnert, erzahlt sie genau deshalb, und er fahrt im AnschluB damit fort, indem er die Haltung dieses Kadetten in den folgenden Jahren schildert. WuBte man nicht, daB der Autor dieser Geschichte, Ernst von Salomon, hier versucht, seine eigene Geschichte zu erzahlen, und wuBte man nicht, daB diese Geschichte uber verschiedene, heute kaum noch nachvollziehbare Stationen schlieBlich zum Rathenau-Mord ftihrt - und der Roman Die Geachteten erzahlt genau von dieser Karriere -, wtiBte man nicht urn den Autor als einen der wich tigsten nationalistischen Autoren der spaten zwanziger und fruhen dreiBiger Jahre, wuBte man nicht, daB Freikorps und Fememord eine zentrale Rolle in dieser Le bensgeschichte spielen werden, wtiBte man auch nicht darum, daB diese Perspekti ve, in der der Kadett als tapferer Held und seine Gegenuber als gesichts- und na menloser Pabel - "Kanaille", "Pack", "Mob") sind seine Namen daftir - erschei nen, im Dienste einer sehr zweifelhaften politischen Anschauung diffamiert und denunziert, wtiBte man nicht darum, daB man es hier mit einem dezidiert Anti Modernen zu tun hat, wuBte man alles das nicht, dann wurde man in dieser kleinen Geschichte vor allem die Modernitat einer Haltung erkennen kannen, die mit der Dynamisierung der gesellschaftlichen Entwicklung im und nach dem GroBen Krieg Schritt zu halten sucht. Eine Haltung, die sich aus der Erkenntnis speist, daB die moderne Gesellschaft so komplex, dynamisch, ambivalent und flieBend geworden ist, daB nicht sie den sozialen Konnex herstellt, sondern die in ihr zusammenge schlossenen Individuen, daB nicht sie die Individuen versorgt und einordnet, son dern daB sich jeder einzelne seinen Platz seIber suchen und daftir Entscheidungen treffen, sich mit anderen Worten selbst definieren muB. Da man das aber alles weiB und da die Ausstattung dieses Bildes an Deutlichkeit wenig zu wunschen ubrig laBt, ist auf den ersten Blick klar, urn was es sich handelt: urn eine der originaren Strategien der nationalen Rechten, mit der neuen Situation nach 1918 umzugehen, urn die mentale Wiederbewaffnung des deutschen Mannes, urn seine totale Mobil machung nach der Niederlage, urn die Kapitulation des politischen Fortschritts. Scheint die Irritation damit ftir den Moment beseitigt, kehrt sie umgehend zu rtick, laBt man das Denkmuster von der "Modernitat" auf der einen Seite, also der adaquaten Haltung zu den gesellschaftlichen Veranderungen, die man als Moderne bezeichnet, und der "Anti-Moderne", also des Versuchs der Negierung und Elimi nierung aller Elemente einer modern en, der Moderne folgenden Haltung, auf der anderen beiseite. Nicht von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, von Fort und Rtickschritt wird deshalb im folgenden die Rede sein, sondern von einer Gleichzeitigkeit des Widersprtichlichen. Die spezifischen Mittel, derer sich dezi diert "anti-moderne" Autoren bedienen, entstammen namlich dem Reservoir genau derselben historischen gesellschaftlichen Situation, die mit ihnen perspektivisch zugerichtet, verarbeitet und bewaltigt werden solI. Die so gesehen nicht zufallige, sondern notwendige Gleichzeitigkeit "moderner" und "anti-moderner" Strategien und Haltungen schlagt mit einem Mal auf die Beschreibung des literarischen Fel- 3. Ernst von Salomon: Die Geachteten, S. II. 10 I. Kapitel: Was tun? Wie leben? Wer sein? des zurtick. Die Begriffe verschwimmen, die eindeutigen Korrespondenzen zwi schen politischen, ideologischen und Iiterarischen Lagern verschwinden. Ubrig bleibt vor aIIem, daB literarische Texte sich mit der Beschreibung und Bearbeitung ihrer zeitgenossischen Realitat beschaftigen.4 Sie tun das mit SpieJformen, die innerhalb des Literarischen eigene Kosmen entwerfen, in den en dann die Protago nisten exemplarische, typische, unvermeidliche, sinn voIle oder katastrophische Karrieren durchlaufen, je nach der Auffassungsgabe und dem Ziel der Autoren. So weit fUrs erste AIIgemeines. Zurtick zu den Geschichten. 2. Selbstentiastung Es lieBe sich namlich auch eine andere erzahlen, etwa die, die Manes Sperber an 5 den Anfang seiner "Refiexionen tiber die Gewalt" gesteIIt hat: Hier befindet sich nicht der junge Kadett im Fokus der Erzahlung, sondern der "Putzfieck", der Bur sche, der das Gepack seines Offiziers abwirft, sich zur voIIen GroBe aufrichtet und ihm zwei schaIIende Ohrfeigen gibt. Die sonstigen Positionen dieser sozialen Fi gur: Der Offizier als Gegeniiber, ein junger Soldat als Assistent, der dreizehnjahri ge Beobachter, die Menge urn sie herum. Die RoIIenverteilung ist in dieser Ge schichte eine voIIig andere als in der Ernst von Salomons: Hier kneift der Repra sentant des vergangenen Systems, hier ist es der einfache Bursche, der sich ein Herz faBt und zu einem (eigentiimlichen) Subjekt wird (bevor er dann wieder in der Anonymitat verschwindet). Diese Geschichte ist anders, wei I sie aus einer voIIig anderen Perspektive ge schrieben ist: aus der Sympathie ftir einen Diener, der mit dem Gepack des Of fiziers, das er zu schleppen hat, zugleich auch die Last alIer eriernten und ge wohnten Verhaltensregeln abwirft, aus der Sympathie mit diesem Diener und sei ner sozialen Klasse, die sich in diesem Akt zu befreien scheint. Sie ist dariiber hinaus anders, weil sie die "blitzschneIIe Metamorphose der realen Macht verhaltnisse" zeigt6 und davon handelt, daB "die Institutionen, die jede GeselI schaftsordnung aber den Menschen und gegen sie errichtet hatte, niemanden schtitzen, sondern daB sie selbst schutzbedtirftig waren".7 1m Zentrum (ftir jene, die ein Interesse an der Revolution der Verhaltnisse haben) steht die Erkenntnis, daB die tradierte soziale Organisation auf die Anerkennung durch diejenigen angewie sen ist, die von ihr beherrscht werden. Sie zeigt gerade nicht die Macht des Indivi duums, sondern die Briichigkeit der tradierten Herrschaftsformen. Sie weist keinen Weg, sondern weist auf ein Symptom, auf ein Problem. 4. Was sie dariiber hinaus noch alles wollen und sollen, wird im folgenden vernachliissigt, aber nicht abgetan. 5. Sperber: Sieben Fragen, S. 9-13, Helmut Lethen 1994, S. 16-23, hat sie bereits aufgenommen und reflektiert, wenngleich mit einem anderen Akzent, als hier gesetzt. Die folgenden Seiten sind mithin auch als Antwort auf Lethens Thesen zu verstehen. Dazu spater mehr. 6. Sperber: Sieben Fragen, S. 10. 7. Sperber: Sieben Fragen, S. 11. Kursive im Original. 2. Se1bstentlastung 11 Obwohl also sich diese beiden Geschichten in Konstruktion und Ziel grundsatz lich zu widersprechen scheinen, gibt es dennoch groBe A.hnlichkeiten. Eine Viel zahl weiterer ware an ihre Seite zu stellen, in denen von abgerissenen Achselstiik ken, Rebellion, Ohrfeigen und wilder Flucht ehemaliger Machttrager die Rede ist. Sie aIle ahneln sich im Personal, das sie handelnd auffiihrt. Sie ahneln sich in der Handlung und in einzelnen Elementen: gezogener Sabel auf der einen Seite, Fau ste, Ohrfeigen und Regenschirme auf der anderen. Sie ahneln sich auch darin, daB die einen, die Offiziere, die Veranderung als be sonders dramatisch und als wesentlich, als einen Untergang empfinden, wahrend die anderen darin einen wunderbaren, erhebenden Anfang sehen. Diejenigen vor allem, die yom alten System profitieren, spiiren, daB hier etwas Unheimliches, Ungekanntes vor sich geht: der Hauptmann und der Beobachter in Sperbers Ge schichte,8 der Kadett in der Ernst von Salomons. Der soziale Ort solcher Veranderung bleibt in beiden Geschichten in einem be denklichen Zustand. Der junge Soldat, der dem "Putzfleck" den Weg vertritt, ihm die Koffer aus der Hand reiBt und ihm aIle Zeit der Welt zuspricht, tritt wie aus einem Nebel aus der Menge, die den Bahnsteig bevolkert, auf dem der Beobachter auf seinen Vater wartet. Weder vorher noch hinterher hat diese Menge Struktur. Es sind noch andere Soldaten dort, einer von ihnen schlagt gar dem Offizier die Miitze yom Kopf und reiBt die Kokarde abo Aber die Rolle der Menge bleibt chorisch, ihre Elemente sind ungeschieden, verschwimmen, haben keinen individuellen Charak ter. Masse, wie Ortega y Gasset sagen, Pobel, Kanaille, wie Salomon iibersetzen wiirde. Die Masse bleibt sprachlos, wenigstens solange niemand ihr eine Stimme ver leiht. Aber sie lehnt sich auf. Die Masse: Ihre ungeschiedene und zugleich in Ato me zerfallende, formlose und zugleich sich wie ein einziger Mensch gebardende Gestalt gleicht jener Wolke fliegender Ameisen in Gustav Meyrinks Griinem Ge sicht. Erst aus der Nahe erkennt man, wie sich diese iibergroBe Gestalt zusammen setzt. Welch "unbegreifliches Naturspiel".9 Diese beiden Geschichten ahneln sich auch darin, daB diejenigen, die diese Sze nen beobachten, daraus ihr Konsequenzen ziehen, natiirlich exemplarische. Die geringste davon ist noch die Erkenntnis, daB alles moglich ist und alles neu sein kann. Eine andere, mit unterschiedlichen Konnotationen, bezieht sich auf die zeitli che Dynamisierung solcher Augenblicksaufnahmen: Die Masse iibernimmt nicht die Macht, sie zerstOrt nur die alte. Danach aber verlaBt sie "den weiten Platz wie der [ ... J, auf dem sie einen historischen Augenblick lang agieren durfte, hart sie auf zu sein."JO Der Moment, in dem alles moglich zu sein scheint, geht wieder voriiber, zumindest in Deutschland. Die Weimarer Verfassung kann verabschiedet werden, Ratedeutschland wird zur ersten deutschen Republik. Und dazu kann man in den zwanziger lahren sehr unterschiedlich stehen. 8 Vgl. Lethen 1994, S. 18f. 9 Meyrink: Das griine Gesicht, S. 315f. Fiir diesen Hinweis danke ich Robert Stockhammer. 10. Sperber: Sieben Fragen, S. l3.

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