FORSCHUNGSBERICHTE DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN Nr. 3192 / Fachgruppe Geisteswissenschaften Herausgegeben vom Minister fUr Wissenschaft und Forschung Prof. Dr. phil. Jfirgen Grzesik Dr. phil. Michael Fischer PAdagogisches Seminar der Philosophischen F akultAt der UniversitAt zu KlHn Was leisten Kriterien ffir die Aufsatzbeurteilung? Theoretische. empirische und praktische Aspekte des Gebrauchs von Kriterien und der Mehrfachbeurteilung nach globalem Ersteindruck Westdeutscher Verlag 1984 CCIIPP--KKuurrzzttiitteellaauuffnnaahhmmee ddeerr DDeeuuttsscchheenn BBiibblliiootthheekk GGrrzzeessiikk,, JJUUrrggeenn:: WWaass lleeiisstteenn KKrriitteerriieenn ffUUrr ddiiee AAuuffssaattzzbbeeuurrtteeii lluunngg?? :: tthheeoorreett..,, eemmppiirr.. uu.. pprraakktt.. AAssppeekkttee dd.. GGeebbrraauucchhss vvoonn KKrriitteerriieenn uu..dd.. 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((FFoorrsscchhuunnggssbbeerriicchhttee ddeess LLaannddeess NNoorrddrrhheeiinn WWeessttffaalleenn ;; NNrr.. 33119922 :: FFaacchhggrruuppppee GGeeiisstteess wwiisssseennsscchhaafftteenn)) IISSBBNN -91738:- 39-75831-3-0-5331912-0-73 192-I7S BN 97e8--I3S-3B2N2--81736:4 947-78 -(3eB-3o2o2k-)8 7644-7 DDOOll :1 0.1100.0170/09778/9-37-83-232--3827264-847-76 44-7 NNEE:: FFiisscchheerr,, MMiicchhaaeell::;; NNoorrddrrhheeiinn--WWeessttffaalleenn:: FFoorrsscchhuunnggssbbeerriicchhttee ddeess LLaannddeess •••••• ©© 11998844 bbyy WWeessttddeeuuttsscchheerr VVeerrllaagg GGmmbbHH,, OOppllaaddeenn HHeerrsstteelllluunngg:: WWeessttddeeuuttsscchheerr VVeerrllaagg LLeennggeerriicchheerr HHaannddeellssddrruucckkeerreeii,, 44554400 LLeennggeerriicchh INHALT Seite Vorwort 1 Jurgen Grzesik Erster Teil: Grundsatzliches zum Gebrauch von Kriterien im ProzeB der Aufsatzbeurteilung 3 1. Was wird von Kriterien fur die Aufsatzbeurteilung erwartet, und wieweit konnten bis jetzt diese Erwartungen erfullt werden? 4 2. Der Beziehungszusarnrnenhang, in dem Beurteilungs kriterien fur Aufsatze stehen 8 2.1 Das Urteil setzt Kriterien zu einem bestirnrnten Aufsatz in Beziehung 8 2.1.1 Der Aufsatz wird als Fall einer Kategorie angesehen 9 2.1. 2 Dem Aufsatz wird ein Grad in einer Dimension zuge sprochen 10 2.2 Der Aufsatz ist vom Schuler unter bestirnrnten Bedingungen geschrieben worden 12 2.2.1 Unterrichtliche Entstehungsbedingungen 12 2.2.2 Subjektive Entstehungsbedingungen 14 2.3 Die Kriterien haben eine Entstehungsgeschichte 15 2.3.1 Begrundung der Geltung von Kriterien durch eine Theorie der relevanten Dimensionen des Aufsatzes 16 2.3.2 Die begriffliche Fassung der Kriterien 20 2.4 Die Anwendung von Kriterien auf einen Aufsatz hangt von Bedingungen in der Person des Beurteilers ab 24 2.4.1 Die Fahigkeit, Kriterien zu verstehen 25 2.4.2 Die Fahigkeit, Kriterien anzuwenden 25 2.5 Der Gebrauch von Kriterien kann mehrere unter schiedliche Funktionen erfullen 27 2.5.1 Die unmittelbaren Funktionen des Kriterien gebrauchs im BeurteilungsprozeB 27 2.5.2 Die mittelbaren Funktionen des Kriteriengebrauchs in einem neuen Verwendungszusarnrnenhang 29 2.6 Die feldartige Struktur des Kriteriengebrauchs 31 3. Der Satz von 17 Kriterien, der der Untersuchung zugrundeliegt 32 Michael Fischer Zweiter Teil: Empirische Untersuchungen zur analytischen und globalen Aufsatzbeurteilung 47 1. Anlage der Untersuchung 47 1.1 Internationale Aktivitaten zur Erforschung der Aufsatzbeurteilung 47 1.2 Ziele der Untersuchung 53 1.3 Aufbau der Untersuchung 55 1. 3.1 Die Aufsatzstichprobe 55 1.3.2 Die Beurteilerstichprobe 58 1. 3.3 Der Untersuchungsverlauf und die erhobenen Daten 59 III Seite 2. Die Reduktion des Kriterienkataloges auf einen Faktorensatz 61 2.1 Korrelationen zwischen den Kriterien 61 2.2 Resultate der Faktorenanalyse 64 2.3 Interpretation der Faktoren 69 3. Die Gtite der analytischen Aufsatzbeurteilung 76 3.1 Intercoderreliabilitat 76 3.2 Retestreliabilitat 81 3.3 Validitat 83 4. Mehrfachbeurteilung nach globalem Ersteindruck 92 4.1 Das Urteil nach globalem Ersteindruck 93 4.1.1 Der implizite Gebrauch von Kriterien im g'lobalen Schatzurteil 97 4.1. 2 Funktionen der Globalbeurteilung 101 4.2 Die Mehrfachbeurteilung 103 4.3 Empirische Befunde zur Mehrfachbeurteilung nach globalem Ersteindruck 106 4.4 Der Anteil impliziter Kriterien am globalen Schatzurteil 112 4.5 Mehrfachbeurteilung bei analytischer Auswertung der Aufsatze 117 5. Eine Kontrolluntersuchung mit einer Stichprobe von Studenten 118 5.1 Fragestellungen der Kontrolluntersuchung 118 5.2 Aufbau und Methode der Kontrolluntersuchung 119 5.3 Ergebnisse 120 5.4 Zusammenfassung der Resultate aus der Kontroll untersuchung 127 6. Empirische Befunde zu den Beurteilern 128 6.1 Merkmale von Beurteilern 128 6.2 Eine Typologie auf der Basis von vier Merkmalen des Beurteilungsverhaltens 131 6.3 Typologien auf der Basis von zwei Merkmalen des Beurteilungsverhaltens 136 6.4 Die intraindividuelle Stabilitat von Urteils streuung, -konsistenz und -kompatibilitat 142 6.4.1 Die intraindividuelle Stabilitat des Urteils standards 144 6.5 Eine Beurteilertypologie auf der Basis von Praferenzen ftir Kriterien 155 6.6 Zusammenfassung der Resultate tiber Beurteilertypen 157 7. Empirische Befunde zu den Urteilskriterien 158 7.1 Merkmale der Kriterien 158 7.2 Das Gewicht der einzelnen Kriterien bei der Beurteilung 166 7.3 Beziehungen zwischen den Kriterien 173 7.4 Zusammenfassung der Befunde zu den Urteils kriterien 181 IV Seite JUrgen Grzesik/Michael Fischer Dritter Teil: Folgerungen aus den empirischen Befunden fUr die Verwendung von Kriterien in der Praxis der Aufsatzbeurteilung 183 1. Der Gebrauchswert eines groBen Kriteriensatzes 184 2. Der Gebrauchswert eines kleinen Kriteriensatzes 205 3. Der Gebrauchswert der Mehrfachbeurteilung nach globalem Ersteindruck 209 4. Eine neue Einstellung bei der Beurteilung von Aufsatzen 215 Anmerkungen 221 Anhang 233 Literaturverzeichnis 243 v Vorwort Die Ausbildung von Schreibfahigkeiten gehort in allen Kultur staaten zu den grundlegenden Aufgaben des Schulunterrichts. So bald die elementaren Schreibfahigkeiten vermittelt worden sind, wird he ute ftir die weitere Entwicklung der Schreibkompetenz in der Regel ein besonderer Aufsatzunterricht in der Muttersprache eingerichtet. Ftir ihn ist eine Beurteilung der Schreibleistun gen selbstverstandlich, weil nur so der Schtiler eine Rtickmel dung tiber die Entwicklung seiner Fahigkeiten erhalt. DaB diese Beurteilung auch im Gesamtzusammenhang der Bewertung von Schti lerleistungen eine wichtige Rolle spielt, kommt hinzu. So sind im Aufsatzunterricht stets Kriterien im Gebrauch. Schti ler wie Lehrer haben aber keinen vollen Vberblick tiber die Kri terien, die im Spiel sind, denn sie sind ihnen keineswegs samt lich bewuBt. Das AusmaB des Kriteriengebrauchs ergibt sich nicht nur aus der Haufigkeit ihrer Verwendung, sondern auch aus ihrer Vielzahl. Daher hat der Kriteriengebrauch nicht nur im Hinblick auf seine Funktionen, sondern auch im Hinblick auf den Umfang dieser Praxis eine kaum zu tiberschatzende Bedeutung. Was die Kriterien im Gebrauch tatsachlich leisten, das ist trotz einer verhaltnismaBig umfangreichen Literatur, vor allem in den USA, noch wenig aufgeklart. Das MiBverhaltnis zwischen der praktischen Bedeutung des Kriteriengebrauchs ftir die Schu lung der Schreibfahigkeiten und ftir die Leistungsbewertung auf der einen Seite und unseren Kenntnissen von dem, was sie ver mogen, auf der anderen Seite ist kraB. Diese Untersuchung will deshalb zur Aufklarung der Leistungen von Kriterien in der Praxis der Aufsatzbeurteilung beitragen. 1m ersten Teil wird der Zusammenhang des Kriteriengebrauchs im Aufsatzunterricht phanomenologisch beschrieben. Auf der Grund lage dieser Theorie des Kriteriengebrauchs wird im zweiten Teil der tatsachliche Kriteriengebrauch empirisch tiberprtift. Dabei werden internationale Untersuchungen zur Objektivitat, Reliabi litat und Validitat repliziert, aber auch neue Wege beschrit ten. Nur so konnten Annahmen tiber weitere Aspekte des Krite riengebrauchs, z.B. tiber Beurteilertypen und unterschiedliche Leistungen ein und desselben Kriteriums bzw. verschiedener Kri terien, empirisch geprtift werden. 1m dritten Teil schlieBlich werden aus der Theorie, die den Gesamtzusammenhang des Krite riengebrauchs umfaBt, und ihrer partiellen Vberprtifung in empi rischen Untersuchungen Folgerungen ftir die Praxis der Aufsatz beurteilung gezogen. Sie reichen freilich nur so weit, wie es durch die Theorie und Empirie dieser Untersuchung begrtindet werden kann. Es gibt aber auch etliche Gemeinsamkeiten zwischen dem Kriteriengebrauch in den engen Grenzen unserer Untersuchung und jedem Kriteriengebrauch bei der Aufsatzbeurteilung. Ja, es gibt sogar Gemeinsamkeiten mit der Beurteilung von komplexen Schtilerleistungen aller Art, in jedem Fach und auch der mtind lich geauBerten Leistung. So hoffen wir, daB es uns gelingt, die Reflexion tiber einen sachgerechten Gebrauch von Kriterien und eine angemessene Einschatzung ihrer diversen Leistungen zu beleben. Die in diese Publikation investierte Arbeit ist von so vie len Mitarbeitern aufgebracht worden, daB wir sie nicht alle nament lich anftihren konnen. Wir liefen sogar Gefahr, den einen oder anderen dabei zu vergessen. Zuvorderst seien die Personengrup- pen genannt, die an der Untersuchung ihren Anteil hatten: die Leiter der Schulen, in denen die Aufsatze geschrieben worden sind, und die Lehrer, die den Unterricht gehalten und auBerdem die Klassenarbeiten beurteilt haben; die 40 Lehrer, die als Fremdbeurteiler mit den drei Verfahren des groBen Kriteriensat zes, eines kleinen Satzes und der globalen Mehrfachbeurteilung die Aufsatze beurteilt haben, wobei die 30 Lehrer der Versuchs gruppe den Lowenanteil der Arbeit zu bewaltigen hatten; die beiden studentischen Beurteilergruppen; die Mitarbeiter bei der Auswertung der Daten und der Herstellung des Manuskripts im Computer. Obwohl wir alle un sere Arbeit im Dienst der Sache ge tan haben, danken die Autoren der Untersuchung ihnen allen fur die Bereitschaft zur Mitarbeit und den uber die jeweilige Ver pflichtung weit hinausgehenden Einsatz und auch den hohen Grad der Zuverlassigkeit. Besonderer Dank gilt Herrn Dr. Peter Fleischhauer, der im Ver lauf des Forschungsprojektes "Interaktions- und Leistungstypen im. Literaturunterricht" die Idee fur diese Untersuchung und den ersten Kriteriensatz entwickelte; Herrn Dr. Norbert Meder, der mit Herrn Dr. Fleischhauer und den Autoren eine entsprechende Pilotstudie als Vorbereitung der Untersuchung durchfuhrte, das Untersuchungsdesign festlegte und die Auswahl der Methoden be ratend begleitete. Ohne die finanzielle Forderung des Ministeriums fur Wissen schaft und Forschung des Landes NRW hatte ein solches Projekt gar nicht begonnen werden konnen. Obwohl die bewilligten Mittel bei weitem nicht fur den erforderlichen Aufwand ausreichten, so ware es ohne sie auch nicht zu dem zusatzlichen Einsatz gekom men. 1m Interesse der gemeinnutzigen Sache ist deshalb den po litischen Geldgebern uneingeschrankt zu danken. 2 Erster Teil: Grundsatzliches zum Gebrauch von Kriterien im ProzeB der AufsatzEeurteilung--- Bei jeder Beurteilung eines Schtileraufsatzes sind Beurteilungs kriterien im Spiel. Sobald ein Urteil ausgesprochen oder eine Note niedergeschrieben wird, haben Kriterien ihre Funktionen im UrteilsprozeB schon erftillt. Dieses universale Faktum ist nicht zu bezweifeln und wird auch von niemand in Frage gestellt. Selbst die Beftirworter der Mehrfachbeurteilung nach globalem Ersteindruck (ein Verfahren, in dem mehrere Beurteiler dem Aufsatz aufgrund des ersten Gesamteindr'ucks nach einmaligem ztigigem Lesen sofort eine Note geben) set zen bei den Beurtei lern eine Kompetenz zu differenziertem Urteilen voraus. Diese Kompetenz ist nichts anderes als das Fakt"um, daB der Beurteiler tiber Kriterien verftigt, ob er sich dessen bewuBt ist oder nicht. Sobald man aber genauer fragt, was denn Kriterien im Gesamtzu sammenhang der Aufsatzbeurteilung leisten, dann steht man einer verwirrenden Vielfalt von Problemen gegentiber. Sie ergibt sich aus dem Tatbestand, daB Kriterien nur ein Faktor im komplizier ten Beziehungszusammenhang des Beurteilungsprozesses sind und keine selbstandigen, unter allen Umstanden in gleicher Weise wirkenden GroBen. Was sie zu leisten vermogen, besteht deshalb allein in den Funktionen, die sie in diesem Beziehungszusammen hang erftillen konnen. Wenn diese Annahme stimmt, dann darf man von Beurteilungskriterien nur Teilleistungen erwarten, auf kei nen Fall jedoch eine Losung der gesamten Beurteilungsproble matik. Aus dieser tiberlegung ergibt sich die leitende Absicht der vor liegenden Untersuchun~: Durch eine vielseitige empirische tiber prtifung und eine grtindliche theoretische Analyse der Brauchbar keit eines Satzes von 17 Kriterien 5011 ein Beitrag zur Aufkla rung der Funktionen von Beurteilungskriterien im GesamtprozeB der Aufsatzbeurteilung geleistet werden. Unter Fragestellungen, die mit analytischen empirischen Methoden beantwortet werden konnen, ist die Brauchbarkeit von Kriterien ftir die Aufsatzbe urteilung vor allem in zahlreichen amerikanischen Untersu chungen getestet worden. In deutschen Untersuchungen hat man sich dagegen mehr mit didaktischen Fragestellungen befaBt, z.B. dem Zusammenhang der Aufsatzbeurteilung mit den Zielen und den Methoden eines kommunikationstheoretischen Aufsatzunterrichts. Beide Untersuchungsrichtungen beschaftigen sich mit Teilfragen, ohne sie im Gesamtzusammenhang der Beurteilungsproblematik hinreichend genau zu lokalisieren. So berechtigt die einzelnen Fragen in der Regel auch sind, so ftihrt ihre Isolierung gegen tiber dem Gesamtzusammenhang doch sehr oft zu Antworten, die eine tiber interpretation der erzielten Befunde darstellen und zu einer tiberschatzung der untersuchten Zusammenhange verftihren. Wir wollen weder der einen noch der anderen Untersuchungsrich tung eine weitere Spezialuntersuchung, etwa zur interindividu ellen tibereinstimmung von Urteilen oder der Bedeutung der Auf satzart ftir den BeurteilungsprozeB, hinzuftigen. Dagegen wollen wir durch die Form der explorativen empirischen Untersuchung und ihrer theoretischen Aufarbeitung das Problemfeld der Auf satzbeurteilung soweit aufhellen, wie unsere Mittel reichen. Da wir viele Faden der bisherigen Forschung aufnehmen, konnen wir getrennte Forschungsentwicklungen miteinander in Beziehung setzen, z.B. die Untersuchungen zu den analytischen und den holistischen Beurteilungsmethoden (Beurteilung mit der Hilfe 3 von Kriterien und in der Form der Bewertung nach dem Gesamtein druck). Die Berlicksichtigung des Gesamtzusammenhanges wird uns aber auch in die Lage versetzen, einige Antworten auf drangende Fragen der Beurteilungspraxis zu geben, denn im Alltag der Aufsatzbeurteilung muB immer innerhalb des unverklirzten Gesamt zusammenhanges geurteilt werden. In diesem ersten Teil der Untersuchung soll der Zusammenhang entfaltet werden, in dem die von uns definierten und empirisch liberprliften 17 Kriterien ihren Platz haben. Er bildet die theo retische Grundlage flir die im zweiten Teil dargestellten empi rischen Untersuchungen. 1m dritten Teil werden aus den theore tischen Uberlegungen in diesem Teil und den empirischen Befun den im zweiten Teil Folgerungen flir die Praxis der Anfsatzbeur teilung gezogen. 1. Was wird von Kriterien flir die Aufsatzbeurteilung erwartet, und wrewe~konnten bis jetzt diese Erwartungen erflillt werden? Oswald BECK hat 1974 in einer Umfrage an Deutschlehrer die Fra ge gestellt: "Was mliBte getan werden, urn der Kritik insbeson dere in der Zensurengebung flir Schlileraufsatze zu begegnen?" Auf diese Frage antworteten 43,3% der Befragten mit der Forde rung, einen "verbindlichen Kriterienkatalog" aufzustellen (BECK 1979, S.127).' Ohne diese und andere Befragungsergebnisse BECKs zum Komplex von Kriterien und Kriterienkatalogen im einzelnen zu wlirdigen, kann dieses Ergebnis als ein Indiz flir die hohen Erwartungen, die an die Verwendung von Kriterien geknlipft wer den, angesehen werden. Die seit 1974 ver6ffentlichten Versuche zur Definition von Beurteilungskriterien sprechen daflir, daB sich daran bisher nichts geandert hat (1). Der Praktiker weiB natlirlich, welche Erwartungen zu der ex tremen Forderung nach einem verbindlichen Kriterienkatalog flihren k6nnen. Trotzdem lohnt es sich, einen Blick auf die einzelnen Erwartungen und ihren Zusammenhang zu werfen. - Wer ein Kriterium auf einen Aufsatz anwendet, ist davon liber zeugt, daB er ein Merkmal des Aufsatzes erfaBt. Damit ist er zugleich sicher, daB er in diesem Punkte keiner Tauschung und keinem Vorurteil erlegen ist. Er rechnet fest damit, daB er jederzeit wieder dasselbe Merkmal erkennen wird und daB auch jeder andere kompetente Beurteiler es zweifelsfrei identifi zieren wird. Von einem Kriterium wird aufgrund dieses Selbst verstandnisses des Beurteilers erwartet, daB es Objektivitat garantiert, sofern es sich auf ein Merkmal des Aufsatzes beziehen laBt und richtig angewendet wird. - Mit der dem Kriterium zugeschriebenen Objektivitat soll es zugleich Leistungsgerechtigkeit gewahrleisten. Denn wie sollte man nicht in zwei Aufsatzen zweier verschiedener Schli ler dasselbe Merkmal erkennen k6nnen, wenn dieses Merkmal bereits in einem einzelnen Aufsatz objektiv erfaBt worden ist? Die Stabilitat der Anwendung ein und desselben Krite riums auf zwei Aufsatze desselben Schlilers (Gerechtigkeit gegenliber der Leistung des einzelnen Schlilers zu verschiede nen Zeitpunkten) und zwei oder mehr Aufsatze verschiedener Schliler (Gerechtigkeit gegenliber der Leistung verschiedener 4 Schliler) ist eine logische Konsequenz aus der Objektivitat des einzelnen Urteils. - Die objektive Erfassung desselben Merkmals in den Aufsatzen zweier oder mehrerer Schliler muB auch eine sichere Grundlage flir die Zen sur bilden konnen, wenn in diesem Merkmal mit der selben Objektivitat, mit der das Merkmal selbst erkannt wird, Auspragungsgrade unterschieden werden konnen. Die festge stellte Auspragung kann dann mit Auspragungen desselben Merkmals in frliheren Aufsatzen eines Schlilers (individuelle Bezugsnorm), in den Aufsatzen aller anderen Schliler der je weiligen Lerngruppe (soziale Bezugsnorm) oder mit vorher zum Ziel gesetzten Auspragungsgraden verglichen werden (Kriteri umsnorm). So mliBte die Beurteilung durch Kriterien auch eine Grundlage flir die Notengerechtigkeit sein. Aus der vom Beurteiler angenommenen Objektivitat resultiert schlieBlich noch die unausrottbare doppelte Hoffnung, daB man einen flir alle Aufsatze geeigneten Satz von Kriterien finden konne, liber den sich alle Beurteiler wegen seiner sachlichen Notwendigkeit leicht einigen konnten. Erwartet wird hier ein Kernbestand von universalen Kriterien und ein allgemeiner Konsens uber-5ie. Durch eine entschiedene Anstrengung der Kundigen mliBte er ein flir allemal sichergestellt werden kon nen. - Flir die Vergleichbarkeit von Urteilen verschiedener Lehrer ware schon durch die Objektivitat des Urteils jedes einzelnen Lehrers gesorgt. Der Konsens setzt allerdings voraus, daB zuvor eine Verstandigung zwischen den verschiedenen Beurtei lern liber Krlterien erzielt worden ist. Flir sorgfaltig defi nierte Kriterien scheint dies ohne weiteres moglich zu sein. Genau definierte Kriterien wlirden auch eine sichere Verstan digung zwischen Lehrern und Schlilern garantieren, mit all ihren erfreulichen Folgen. - Flir die eigene Arbeit verspricht man sich vom Kriterienge brauch in doppelter Hinsicht Entlastung: Die Arbeit mliBte nicht nur rationaler, sondern auch rationeller werden (Arbeitsokonomie), und der Druck, die eigenen Urteile recht fertigen zu mlissen, mliBte durch Kriterien, vor allem aber allgemein anerkannte, verringert werden (Verfahrenslegitima tion). Der Lehrer konnte eine Routine ausbilden und wlirde von der auBerordentlichen Belastung, ganz auf sich gestellt entscheiden zu mlissen, befreit. Wenn man sich von Kriterien flir die Aufsatzbeurteilung so viele Vorteile versprechen kann, dann ist es nicht mehr verwunder lich, daB Deutschlehrer der Ausarbeitung von verbindlichen Kri terienkatalogen die hochste Praferenz einraumen (2). Leider scheint die Praxis der Aufsatzbeurteilung mit Kriterien diesen hohen Erwartungen so wenig zu entsprechen, daB es flir jeden, der sich der Plausibilitat solcher Uberlegungen nicht entziehen kann, einfach nicht zu fassen ist. Der Teufel liegt im Detail, oder richtiger: im konkreten BeurteilungsprozeB. Ich habe deshalb bis jetzt mit Bedacht kein einziges Kriterium genannt, da sich schon bei der Nennung eines bestimmten Krite riums, sei es "sprachliche Gestaltung" oder "Aufbau", betracht liche Zweifel regen. Das muB hier als Indiz daflir genligen, daB die soeben genannten Erwartungen einer abstrakten Logik folgen, 5