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Was ist ein Philosoph?: Philosophie und Autobiographie bei René Descartes (Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften) PDF

227 Pages·2011·1.74 MB·German
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Jörg Ossenkopp Was ist ein Philosoph? Philosophie und Autobiographie bei René Descartes Was ist ein Philosoph? Philosophie und Autobiographie bei René Descartes Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften vorgelegt von Jörg Ossenkopp Berlin 2011 Erstgutachterin Prof. Dr. Sybille Krämer Zweitgutachter Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider Tag der Disputation: 20.10. 2011 Umschlaggestaltung: Jörg Ossenkopp Nach Frans Hals, Porträt des René Descartes, etwa 1649-1700 (Louvre) Impressum Copyright: © 2011 Jörg Ossenkopp Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de ISBN 978-3-8442-1442-0 2 Inhaltsverzeichnis Einleitung: Descartes als praktischer Philosoph..........................................................4 Synopsis der folgenden Kapitel........................................................................14 1. Der Discours de la méthode als philosophische Autobiographie..........................17 1.1 Über das Verhältnis von Autobiographie und Philosophie im Discours.........17 Autobiographie, Fiktion, Geschichte...............................................................18 Das Publikum des Discours: Lektüre und Offenheit........................................24 Philosophische Allgemeinheit, autobiographische Partikularität.....................28 Vernunft und Physiologie des Denkens............................................................35 Autobiographische Kritik zwischen Allgemeinem und Partikularem..............39 1.2 Autobiographie und die Denkfiguren von Weg und Haus..............................45 Weg, Methode, Autobiographie........................................................................46 Zwei, drei Häuser des Selbst: Descartes' morale par provision ......................61 1.3 Autobiographie als philosophische Selbsttechnik...........................................80 Autobiographie als Selbsttechnik vor dem Discours.......................................81 Descartes' philosophische Konversion.............................................................87 Descartes als frühneuzeitlicher Parrhesiast....................................................100 2. Die Meditationen als autobiographische Philosophie..........................................117 Einleitung: Argumente und Meditationen...........................................................117 Cavell..............................................................................................................118 Descartes........................................................................................................124 2.1 Meditation und Rezeption.............................................................................128 Descartes und die Kultur der Meditation im 17. Jahrhundert........................128 Caterus als scholastischer Leser.....................................................................131 Arnauld als augustinischer Leser...................................................................139 2.2 Skepsis als transformierende Meditationspraktik.........................................143 Elemente der Zweifelsmeditation...................................................................146 Meditative Lektüre.........................................................................................156 Wahrheit und Übung......................................................................................165 2.3 Cogito und Autobiographie...........................................................................171 Wer bin ich?....................................................................................................171 Das Cogito ist kein Argument........................................................................177 Perfektionismus und die Unvollkommenheit des Cogito...............................182 Autobiographie und Physiologie des Denkens...............................................192 3. Was ist ein Philosoph?.........................................................................................203 Gassendi als Nicht-Philosoph.........................................................................203 Zusammenfassung..........................................................................................211 Literaturverzeichnis.................................................................................................214 Ausgaben der Texte von Descartes.....................................................................214 Andere Texte.......................................................................................................215 3 Einleitung: Descartes als praktischer Philosoph Wenn einem zeitgenössischen Physiker eine wissenschaftliche Erfindung gelingt, so steht diese Erfindung zwar fraglos im Kontext des gelebten Lebens dieses Physikers, hat bestimmte Vorbedingungen in seiner Persönlichkeit und körperlichen Konstitution, in dessen sozialem und institutionellem Umfeld, und hat gegebenen- falls tief gehende Auswirkungen auf den weiteren Verlauf seines Lebens. Dennoch kann man die physikalischen Theorien, Beweisführungen und Versuchs- anordnungen, die jene physikalische Erfindung ausmachen, würdigen und verstehen, ganz ohne ihre biographischen Begleitumstände zu kennen. Entsprechend wenig wird der Physiker gehalten sein, in die Präsentation seiner Ergebnisse autobiographisch erzählende Abschnitte zu integrieren. Im Gegenteil, dies wäre dem wissenschaftlichen Erfolg seiner Präsentation wohl eher abträglich. Theorie und Leben haben in der heutigen Wissenschaft nur kontingent etwas miteinander zu tun. Nur ganz zufällig war es dieser Physiker mit seiner konkreten Lebensgeschichte und Verfasstheit, dem jener theoretische Durchbruch in der Physik gelungen ist, darin liegt ein wichtiger Teil zeitgenössischer wissenschaftlicher Objektivität begründet. In der Philosophie dagegen liegen die Dinge womöglich anders.1 So kann man einer recht neuen Einführung in die Philosophie gleich zu Beginn folgende Sätze entnehmen: »Wer mit einem Blick auf die Fächereinteilung der heutigen Universität von Philosophie spricht, meint ein kleines, meistens in den Geisteswissenschaften angesiedeltes Fach. Und wer sich einer heute sehr beliebten Form anschließt, erbetene Definitionen durch simple Beschreibungen zu ersetzen, kann die Frage 'Was ist Philosophie?' mit der billigen Antwort zurückgeben: was die Philosophen treiben. (Die zwangsläufig nächste Frage 'Was ist ein Philosoph?' wird schon nicht mehr gestellt, weil das Einmünden in einen fruchtlosen Definitionszirkel auch dem schlichten Verstand sofort sichtbar wird.)«2 Diese Sätze dienen nur zur Einleitung einer Einführung, stehen gewissermaßen am Rand, wo es noch nicht richtig ernst wird und kaum philosophisch.3 Mehr noch, die Beschäftigung mit der Verbindung zwischen Philosoph und Philosophie wird in jenen Sätzen sehr schnell als zirkulär und fruchtlos bezeichnet – und dadurch wird ein problema konstruiert im Sinne der ursprünglichen griechischen Bedeutung, 1 Alexander Nehamas konstatiert, dass Philosophen und Physiker sich zwar faktisch zumeist in diesem Punkt nicht unterscheiden, dass manche Philosophen jedoch das Gefühl haben, dass dem nicht so sein sollte. Die grundlegende Frage für ihn besteht darin, ob man Philosophie als eine rein theoretische Disziplin auffasst oder in ihr einen irreduziblen praktischen Aspekt sieht (Nehamas 1998, 1f.). Genau dieser praktische Aspekt ist für Descartes in seiner Auffassung von Philosophie und auch in seinem Verständnis dessen, was ein Philosoph ist, von zentraler Wichtigkeit. 2 Janich 2000, 22. 3 Ganz ähnlich verhält es sich mit dem kurzen Aufsatz von Ronny Kraus "Was ist ein Philosoph? Eine steuerrechtliche Antwort", der, noch nicht unter einer Überschrift eingeordnet, als erster in der Festschrift für Hans Julius Schneider auftaucht und der anscheinend weniger ernst, sondern eher humoristisch gemeint ist, als eine Art Auflockerung zu Beginn (Kraus 2010, 3-6). 4 einem Hindernis zur Abwehr.4 So wäre es doch durchaus interessant zu untersuchen, warum die Möglichkeit der Beschreibung von Philosophie anhand des Philosophen zunächst als so naheliegend erscheint. Denn immerhin war das nicht immer der Fall. In der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen aristotelischen Schulphilosophie war Wahrheit transzendente Wahrheit, und der philosophische Blick somit auf das Seiende gerichtet. René Descartes fungiert in der allgemein akzeptierten philosophiehistorischen Einschätzung als Emblem für die frühneuzeitliche Veränderung dieser Situation: Wahrheit wird als Evidenz im Denken gefunden, das Subjekt konstituiert sich aus dem Denken, somit wird in der Subjektivität die philosophische Aufmerksamkeit gebündelt und diese dann vor den Zugang zum Seienden geschaltet.5 In der Scholastik war es daher vor jener Entwicklung stets möglich, vom Philosophen abzusehen, wenn es um Philosophie ging. Nach Descartes muss sich Philosophie auf den Philosophen zurückbeziehen, wenn es um Sicherung von Wahrheit und Rechtfertigung von Philosophie geht.6 Dadurch jedoch beginnt das, was der Philosoph ist, erneut aus dem Blickfeld zu geraten und sich aufzuspalten in die konkrete und partikulare Person des Philosophen und den Philosophen als philosophisches Subjekt.7 Die Person ist die Erscheinungsform des Philosophen in der Geschichte, das durch Erzählung erfassbare Selbst, die Verkörperung eines Denkens;8 das Subjekt dagegen konstituiert sich aus dem unpersönlichen Denken, das sich in der Folge wiederum aufgespalten hat in reines logisches Denken und den physiologisch-faktischen Denkvorgang. Wenn sich diese Verbindung von Philosoph und Philosophie ineins mit der Aufspaltung von Subjekt und Person in der philosophiehistorischen Forschung mit dem Namen René Descartes verbunden hat, findet sich in seinen Texten bei genauerer Lektüre dennoch einiges Autobiographische, und dies direkt neben frühneuzeitlichen physikalischen Theorien. Nach unserem zeitgenössischen Verständnis war René Descartes Philosoph und Physiker zugleich:9 die Physik ist in seinem berühmten Bild des Baumes der Philosophie der dicke und feste Stamm, der die Äste der Mechanik, Medizin und Ethik trägt, von denen man dann die Früchte der Wissenschaft ernten kann. So besteht der Großteil der Prinzipien der Philosophie, aus deren Vorwort jenes Bild des Baumes der Philosophie stammt, aus physikalischen Theorien. Schon zuvor hatte sich Descartes intensiv mit physikalischen Problemen auseinandergesetzt: Le monde, geschrieben um das Jahr 4 Siehe LSJ, Art. problema (die Auflösung der Siglen und Abkürzungen lässt sich im Literaturverzeichnis auffinden). 5 Blum 1998, 10; Heidegger 1998 (orig. 1961), 125. 6 Blum 1998, 9; Blum macht jedoch mehrere frühere Formen dessen, was er als "Philosophenphilosophie" bezeichnet aus, er stellt in diesem Zusammenhang Marsilio Ficino, Nikolaus von Cues, Giordano Bruno und Valeriani Magni vor. 7 Descombes 1991, 120-134. 8 Schneider 1990. 9 In einem kurzen Interview von 1966 mit dem Titel "Was ist ein Philosoph?" sagt Michel Foucault, dass Descartes als Mathematiker galt. (Foucault 2001, 713) Descartes selbst sieht sich wenigstens nicht nur als Mathematiker, sondern auch als Philosophen (z.B. in B, 56; AT I, 198 [die Auflösung der Abkürzungen findet sich im Literaturverzeichnis]). Und sowohl Mathematik als auch Physik laufen in der frühneuzeitlichen Naturphilosophie ineinander. 5 1630 herum und nicht zu Lebzeiten veröffentlicht, ist ein physikalisches Werk, genauso wie große Teile der Dioptrique, die 1637 zusammen mit dem Discours de la méthode erschien. Descartes' Physik, der Stamm des Baumes der Philosophie, findet ihren festen Halt in der philosophischen Metaphysik, welche die Wurzeln des Baumes bildet. Descartes hatte jedoch genauso eine eigene Art und Weise, sich mit dem zu beschäftigen, was ihn selbst als Philosophen ausmacht. Im Gegensatz zu einem heutigen Physiker veröffentlichte Descartes sein erstes Buch mit seinen physikalischen Theorien zugleich mit einer jenen Theorien als Einleitung vorangestellten philosophischen Autobiographie, dem Discours de la méthode. Und auch zuvor hatte Descartes in seinen damals noch unveröffentlichten Schriften Autobiographisches mit Theoretischem vermischt, wie aus den frühen Notizbüchern sowie den Regulae ersichtlich ist. Genauso finden sich in den späteren Meditationes de prima philosophia10 mehrere autobiographisch erzählende Abschnitte. Während zeitgenössische wissenschaftliche Theorien also zumeist ganz ohne einen Bezug auf das Leben des partikularen Wissenschaftlers auskommen, ergibt sich hier – zunächst an der Oberfläche – ein anderes Erscheinungsbild der Cartesischen Wissenschaft.11 Die Frage nach dem Philosophierenden, noch vor jeder Aufteilung in abstraktes Denken und konkrete Lebensvollzüge, ist ein wichtiger Aspekt dieser philosophischen Texte. Descartes berichtet von den Begleitumständen seiner eigenen Theoriebildung, mehr noch kommt er jedoch auf die eigene Verfasstheit und die spezifische Seinsweise des Philosophen zu sprechen; er betont immer wieder, wie wichtig es in der Philosophie ist, die Kindheit, vor allem die Verbindung von Körper und Seele, die in der Kindheit gegründet ist, hinter sich zu lassen. Er zeigt seinen Lesern die Wege auf, die er selbst beschritten hat. Er erzählt, welche Vorstellungen er von sich selbst hatte, er berichtet von Meditationen und wie er sie durchgeführt hat, und wie diese 10 Die erste Auflage der Meditationen ist aus dem Jahr 1641, die zweite wurde 1642 herausgegeben. 1647 erscheint eine französische Ausgabe, die von Descartes selbst erstellt wurde, auf der Vorlage sowohl einer Übersetzung des Haupttextes durch den Duc de Luynes als auch einer Gesamtübersetzung von Claude Clerselier. 11 Daniel Garber benutzt für sein Buch "Descartes Embodied" (2001) den Untertitel: "Reading Cartesian Philosophy through Cartesian Science". Garber weist darauf hin, dass es ein Anachronismus wäre, im 17. Jahrhundert versuchen zu wollen, Wissenschaft und Philosophie zu trennen. Cartesische Wissenschaft ist Naturphilosophie, dennoch man kann hier die "Erste Philosophie" oder Metaphysik trennen von Physik, Mathematik und Medizin (ebd., 9). Die Rolle der Cartesischen Wissenschaft ist für das Descartes-Bild der neuesten Forschung in den letzten Jahren immer wichtiger geworden (Cottingham 2006, 188f.). Die Bezeichnung "Cartesische Wissenschaft" ist meines Erachtens unter anderem auch deshalb besonders treffend, weil Descartes aus heutiger Perspektive durchaus ein recht eigenes Verständnis von Wissenschaft vertreten hat, wenn man sich das Verhältnis von Experiment, Imagination und Vernunft bei Descartes anschaut, das in phantastischen kosmologischen Modellen resultiert, zum Beispiel in der für uns recht merkwürdigen Zuschreibung solch zentraler Rolle für die Zirbeldrüse oder in imaginären Wechselwirkungen zwischen körperlichen Zuständen und verschiedenen Gefühlen und Leidenschaften, wie er dies in den Leidenschaften der Seele beschreibt. 6 ihn und seine Vorstellungen verändert haben. Er berichtet auch von Schwierigkeiten, die er hatte, die Konsequenzen seiner eigenen Theorien für sich selbst anzunehmen. Hat man dabei nur das zeitgenössische Bild des Wissenschaftlers vor Augen, so mag es vielleicht nahe liegen, diese Phänomene als nebensächlich und nur der eingängigeren Darstellung geschuldet abzutun,12 um sich anschließend auf das als "eigentlich systematisch" Verstandene zu beschränken. Und tatsächlich ist das Thema der Verbindung von Autobiographie und Philosophie bei Descartes bisher zumeist nur im Vorübergehen gestreift worden (und wenn, wurde zudem häufig ungefragt von der wesensmäßigen Verschiedenheit der beiden ausgegangen). Es gibt nicht viele Autoren wie zum Beispiel Harry Frankfurt, der sowohl den Discours als auch die Meditationen als autobiographische Texte ansieht, in denen, wie er sagt, Philosophie nicht geschwächt wird durch das Kappen der Verbindung zum jeweilig eigenen Leben.13 Folgt man jedoch dieser Intuition noch weiter, so bemerkt man, dass die autobiographischen Elemente nicht nur dem Zweck dienen, den Lesern eine einfachere Rezeption zu ermöglichen. Sondern es wird ganz im Gegenteil deutlich, dass die Frage nach dem Philosophen den Charakter der Cartesischen Philosophie in essentieller Art und Weise bestimmt, und eben genau die Frage nach dem Philosophen beantwortet Descartes durch philosophische Autobiographie. Daraus ergibt sich sogleich die erste Bestimmung des Philosophen für Descartes: er ist ein praktischer Philosoph, d.i. ein Philosoph, für den Philosophie nicht vollkommen in Theorie und in Texten aufgeht. Im Discours zeichnet Descartes dazu ein ätzendes Gegenbild eines scholastischen und spekulativen Philosophen. Im Gegensatz zu einem praktischen Philosophen arbeitet ein spekulativer Philosoph daran, seinen Überlegungen den Schein von Wahrheit zu geben. Für Descartes besteht insgesamt das Charakteristikum der scholastischen Philosophie darin, dass sie es ermöglicht, über alles mit einem Schein von Wahrheit zu reden. In seinem Studierzimmer stellt der spekulative Philosoph Überlegungen über Theorien an.14 Zielsetzend für spekulative Philosophen fungiert augenscheinlich der Anspruch, zu den ausgezeichnetsten Köpfen der Jahrhunderte gezählt zu werden: als jemand angesehen zu werden, der sehr viel mehr Geist besitzt als seine Mitmenschen. Ein spekulativer Philosoph muss also grundsätzlich eines jener Descartes’schen Grundprinzipien ablehnen: die Gleichheit aller; ein spekulativer Philosoph muss sich daher vom sens commun so weit wie möglich entfernen. 12 Dominik Perler zum Beispiel spricht von einer autobiographischen Färbung des Discours (Perler 2006, 127) und meint, dass vor allem wegen dessen autobiographischer Passagen und seines literarischen Stils eine große Leserschaft gewonnen werden konnte. Er führt an, dass Descartes autobiographisch über seine "Bekehrung" zu seiner neuen Methode berichtet, um seine Leser einzuladen, es ihm gleichzutun (ebd., 24). Inhaltlich geht er jedoch nicht detaillierter auf eine Verbindung von Philosophie und Autobiographie ein. 13 Frankfurt 1970, 4. 14 Hiram Caton führt aus, dass für Descartes Überlegungen, die sich nur auf andere Überlegungen beziehen, das wichtige Korrektiv eines praktischen Ergebnisses abgeht und daher in mehrfachem Sinn eingebildet, "vain", sind. Das Praktische ist ein wichtiger Bestandteil der Descartes'schen Auffassung von theoretischer Sicherheit, die in Technik und Können verwurzelt ist (Caton 1973, 38). 7 Der Denkansatz des spekulativen Philosophen gründet in der Folgenarmut seiner Spekulationen, die deshalb wirklichen Einsatz vermissen lassen. Wenn man Überlegungen der Art anstellt, dass eine falsche Entscheidung keine harten Konsequenzen zeitigt, begibt man sich auf den Weg der Spekulation, der einen zugleich vom sens commun wegführt. Die bloße Herausbildung von Geist über den Weg der Wahrscheinlichkeit, mit dem Ziel ein ausgezeichneter Kopf zu werden, in seinen partikularen Fähigkeiten von anderen so hoch wie möglich eingeschätzt zu werden, hat Eitelkeit als subtile und schleichende Konsequenz. Dementsprechend zieht Descartes "praktische Urteile" vor: »Daher gab ich die wissenschaftlichen Studien ganz auf, sobald es das Alter mir erlaubte, mich der Abhängigkeit von meinen Lehrern zu entziehen, und entschlossen, kein anderes Wissen zu suchen, als was ich in mir selbst oder im großen Buche der Welt würde finden können, verbrachte ich den Rest meiner Jugend damit, zu reisen, Höfe und Heere kennenzulernen, mit Menschen verschiedenen Temperaments und Standes zu verkehren, manche Erfahrung zu sammeln, mich selbst auf die Probe zu stellen in Treffen, in die das Geschick mich stellte, und über alles, was mir begegnete, Überlegungen anzustellen, aus denen ich einigen Nutzen ziehen konnte. Denn ich würde, so schien es mir, weit mehr Wahrheit in den praktischen Urteilen finden können, die ein jeder über die eigenen Angelegenheiten fällt und deren Erfolg ihn eine falsche Entscheidung bald danach büßen läßt, als in Überlegungen, die ein Gelehrter in seinem Studierzimmer über wirkungslose Theorien [spéculations] anstellt, die für ihn selbst höchstens die Folge haben, daß er sich um so mehr darauf einbildet [il en tirera d’autant plus de vanité], je weiter sie sich vom gesunden Menschenverstand [sens commun] entfernen, mußte er doch ebensoviel mehr Geist und Geschicklichkeit darauf verwenden, ihnen einen Schein von Wahrheit zu geben [de les rendre vraisemblablement]. « (D, 17; AT VI, 9f.) Descartes möchte also kein spekulativer Philosoph sein, sondern im Gegenteil jemand, der –wie die meisten Menschen in deren alltäglichen Lebensvollzügen – "praktische Urteile" treffen muss. Aus solchem praktischen Urteil kann dann ein "Erfolg" resultieren oder auch nicht, jeder Misserfolg zieht jedoch Konsequenzen nach sich. Ein praktischer Philosoph im Descartes'schen Sinne setzt somit also sehr viel mehr aufs Spiel als ein bloß spekulativer. Ein praktischer Philosoph "büßt" für schlechte praktische Urteile in seinem konkreten Leben. Anders als Jean-Luc Nancy dies vermeint, wenn er sagt, dass es Descartes in der Philosophie nur darum ginge, die "Handlungsgründe in der Welt und im Leben durch die Medizin, die Mechanik und die Moral verbindlich abzusichern" und es ihm dafür genüge, nur sehr selten überhaupt zu philosophieren,15 ist Descartes als eminent praktischer Philosoph also dennoch jemand, der den Einsatz der eigenen Existenz verlangt, jemand, der bezweifelt, dass dieser Einsatz nur in einem "Buch, das davon spricht" bereits geleistet werden würde. Descartes' Ablehnung der Bücher in der Bibliothek ist eine Ablehnung der spekulativen Philosophie. Kurzum: Descartes ist ein Philosoph der 15 Nancy 2009, 17. 8 Lebensform, Descartes' praktische Philosophie16 ist eine Philosophie der Lebensform.17 Denn für Descartes geht es in der praktischen Philosophie vor jeder Spaltung von abstraktem Denken und konkreter Person um den Einsatz und die Transformation der eigenen Existenz. In der Spielart des Rationalismus, die Descartes vertritt, ist die ratio vor allem eine praktische Vernunft, in der Tradition jener Schriften, die eine praktische Verbesserung des Verstandes vorschlagen, welche bei Descartes eine Transformation des Selbst voraussetzt. Solch eine Transformation der Seinsweise geht für Descartes in gewissem Sinne sogar dem Geschäft der Argumentation und des Beweisens voraus. Und um solche dem Beweisen und Argumentieren vorgängige Trans- formation anzuleiten, zu dokumentieren und zu verantworten, ist für Descartes Autobiographie unerlässlich. Somit ist die Stoßrichtung dieser Arbeit angezeigt: es geht darum, Descartes als praktischen Philosophen der Lebensform zu lesen, das ist eine Lektüre grundsätzlich mit (wenn auch manchenteils gegen) Michel Foucault. Descartes wird auf seine philosophischen Praktiken18 hin untersucht: Meditation, transformative Skepsis, autobiographisches Schreiben, Parrhesia.19 Alle diese Praktiken werden von Descartes auch als Selbstpraktiken gefasst. Flankiert wird diese Lesart durch eine theoretische Ausrichtung am Zusammenhang von Autobiographie und Lektüre, für die Stanley Cavell als philosophisches Vorbild dient. In der von einem Einzigen nicht mehr zu überblickenden20 Descartes-Literatur findet sich meines Wissens eine solche Fragestellung bisher nicht. Es gibt wohl Arbeiten wie jene von Geneviève Lloyd,21 Claudia Brodsky-Lacour22 oder Dalia Judovitz,23 16 Descartes behauptet, dass wenn er in seinem Philosophieren nicht über das Spekulative hinausgekommen wäre, er auch nichts veröffentlicht hätte. Nur weil er die ersten Ansätze einer, wie er sagt, "praktischen Philosophie" gefunden hat, sieht er für sich die Verpflichtung, der Öffentlichkeit davon mitzuteilen (D, 101; AT VI, 62f.) 17 Philosophie als Lebensform geht über das Verfassen von Texten hinaus und wird daran gemessen, inwiefern sich die verfassten oder gelesenen Texte im Leben widerspiegeln (Hadot 2002, 174). Elementarer Bestandteil von Philosophie als Lebensform sind Handlungen oder Praktiken, exercices spirituels oder geistige Übungen und die daraus entstehenden Erfahrungen (Hadot 2002, 175). Geistige Übungen wiederum definiert Hadot als physische Handlungen, wie bestimmte Diäten, sprachliche Praktiken, wie Dialog oder Meditation, oder Praktiken der Intuition, wie Kontemplation, die allesamt das Ziel haben, eine Modifikation oder Transformation des Praktizierenden herbeizuführen (Hadot 2002, 6). 18 Arnold Davidson weist darauf hin, dass Hadots Verständnis der antiken Philosophie als Philosophie der Lebensform auf einer Transformation der Seinsweise basiert und diese daher wiederum geistige Übungen, konkrete Praktiken, benötigt, die jene Transformation herbeiführen können (Davidson 1990, 476). 19 Parrhesia stammt aus dem Griechischen: pan-rhesia ist das Recht, alles sagen zu dürfen (Raaflaub 1985, 280). 20 Die Bemerkungen von Stefan Rissi hierzu sind sehr treffend, wenn er dafür plädiert, sich mit der Unerfassbarkeit der ins Immense angewachsenen Descartes-Literatur abzufinden, und daher eine umso genauere Lektüre der Texte von Descartes selbst anempfiehlt (2005, 10-14). 21 Lloyd 1993. 22 Brodsky-Lacour 1996. 23 Judovitz 1988. 9

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