Greven/Koop (Hrsg.) War der Wissenschaftliche Kommunismus eine Wissenschaft? Michael Th. Greven Dieter Koop (Hrsg.) War der Wissenschaftliche Kommunismus eine Wissenschaft? Vom Wissenschaftlichen Kommunismus zur Politikwissenschaft Leske + Budrich, Opladen 1993 ISBN 978-3-8100-0961-6 ISBN 978-3-322-95895-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-95895-2 © 1993 by Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschlie8lich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschiitzt. Jede Verwertung au6er halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimrnung des Vedags unzuliissig und strafbar. Das gilt insbesondere fur VervieWiltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Leske + Budrich, Opladen Vorwort Arbeiten zur Wissensehaft in der ehemaligen DDR haben Konjunktur. Waren es anmnglieh sehr schnell produzierte, zum Teil aueh pausehalisierende Ur teile fiber den Zustand des Wissensehaftssystems und einzelner Disziplinen, getroffen vor allem aus der Perspektive der Evaluierungen und ersten Erfah rungen westdeutscher Wissenschaftler mit der "DDR-Wissenschaft" und ent spreehender Gegenreaktionen von ostdeutschen Wissensehaftlern, so sind in der Zwisehenzeit an diese Stelle subtilere Analysen von Wissensehaftshistori kern getreten. Das ist aueh nieht verwunderlieh, bedenkt man die Aufgeregt heit und die Zwiinge, die mit der Ubemahme des bundesdeutsehen Wissen sehafts- und Hochschulsystems verbunden waren und sind und die mit den Stichworten "Abwicklung", "Evaluierung" und "Uberfiihrung" nur unzurei ehend eharakterisiert werden konnen. 1m Spannungsfeld von "Eigenevaluierung" und "Fremdevaluierung" gerie ten die Darstellungen zu einzelnen Wissensehaftsdisziplinen oft zu reinen in teressengeleiteten Zweckbehauptungen. Ganz besonders traf dies auf Arbeiten fiber die Gesellsehaftswissensehaften zu; verstiindlieh, bedenkt man die Niihe zur herrsehenden Ideologie und Politik. Gegenwartig sind die Diskussionen besonders in den Wissenschafsdiszipli nen stark, die in gewissem Ma6e "AnsehluSfahigkeit" nachweisen und aueh in personeller und institutioneller Hinsicht - zumindest teilweise - auf Konti nuitiit setzen konnten, wie die Geschichtswissensehaft und Soziologie. War beides nicht gegeben, so weckten doeh gro6e Namen, wie etwa Ernst Bloch oder wirkungsgeschiehtlieh Georg Lukacs bzw. die "Skandale" urn Per sonen wie Peter Ruben das Interesse der Wissensehaftshistoriker, wie im Fall der DDR-Philosophie. Anders verhalt es sieh mit Fiiehern, die solche Beziige nieht aufweisen kon nen oder die gar mit dem Ende der DDR verschwunden sind, wie der Wissen schaftliche Kommunismus. Obwohl der Wissensehaftliehe Kommunismus mit wachsendem historisehen Abstand aueh jenen als Kuriositiit erscheinen muS, die in dieser Institution ein mal "beheimatet" waren, gibt die Beschaftigung mit ibm vielleieht mehr Aus- 5 kiinfte iiber das Wissenschaftssystem und den Wissenschaftsbetrieb in der ehe maligen DDR als die Untersuchung "serioser" Disziplinen. Wie kaum ein an deres Fach war der Wissenschaftliche Kommunismus ideologisiert, verdankte seine Entstehung ausschlieBlich den wissenschaftspolitischen Beschliissen der SED und stand daher von Anfimg an ohne historischen oder wissenschaftsthe oretischen Bezug zu einem Wissenschaftskanon, auf dessen Basis er das aka demische Biirgerrecht fUr sich hitte reldamieren konnen. So war das Hin und Her zwischen ideologischem und politischem "Auf trag" und wissenschaftlieher Professionalisierung genuin im Wissenschaftli chen Kommunismus angelegt und bestimmte seine Stellung im DDR-Wissen schaftssystem, seinen institutionellen Aufbau, sein Lehrgebaude und seine Forschungsaktivitaten. Das bedeutet aber nicht, da6 der Wissenschaftliche Kommunismus wegen dieser Stellung akademisch isoliert dagestanden hitte. Nein, er galt bei allen anderen Gesellschaftswissenschaftlern als zwar junge, aber gleichwertige und "normale" Disziplin (dies fUr alle, die heute eher auf die Differenz verweisen). Mit der Entzauberung der "DDR-Wirldichkeit" im Herbst 1989 war der Wissenschaftliehe Kommunismus tOdlich getroffen, auch wenn dies den Fach vertretern nieht oder nur langsam zu BewuBtsein kam. Ohne Schutz durch die staatliche Macht war er nieht lebensfiihig, im wissenschaftliehen Diskurs mit alternativen Wissenschaftsprogrammen und Theorien konnte er nicht beste hen bzw. war er iiberhaupt nieht in der Lage, dort einen Part zu iibernehmen. Waren es nicht handfeste auBerwissenschaftliche Interessen gewesen, der Wissenschaftliehe Kommunismus hatte sieh als Disziplin heimlich, still und leise selbst aufgelost. Dieses Bild muB korrigiert werden, wechselt man die Perspektive, wendet man den Blick von der Architektur des Faches zu den in ibm Tatigen. Hier sind so eindeutige und generalisierende Urteile schwieriger zu treffen, gerade dann, wenn man detailliert ins intellektuell Biographische geht. Der oben auf gezeigte Widerspruch zwischen ideologischer Bindung und wissenschaftli chem Anspruch manifestierte sich auch in einzelnen Personen und zwar in un terschiedlicher Starke. Hieraus resultieren unterschiedliche Wahrnehmungen iiber das, was der Wissenschaftliche Kommunisrnus gewesen ist. Die Autoren dieses Buches gehorten bis auf eine Ausnahme der Sektion Wissenschaftlieher Kommunisrnus der Karl-Marx-Universitat in Leipzig bis zu dessen "Abwicldung" an und haben eigene, aber zurn Teil recht unter schiedliche Erfahrungen mit der Entwicldung nach 1989 und dern bundesdeut schen Wissenschaftssystern gernacht. Die Summe dieser Erfahrungen und die Urnsetzung der Chancen zur eige nen wissenschaftlichen Qualifizierung bestimmen nicht unwesentlieh die re trospektive Sieht auf den Wissenschaftlichen Kommunisrnus: sein Wis senschafts- und Politikverstandnis, den fortwahrenden Versuch einer ex- 6 akten Gegenstandsbestimmung, die Anlehnung an ein historisches Vorbild, die Auseinandersetzung mit dem "biirgerlichen Pendant", den Aufbau eines Diplomstudienganges, seine Entwicldung als Lehr-und Forschungsdisziplin. Das anfangliche Bemiihen, die einzelnen Beitriige, in denen auch in unter schiedlicher Weise die "Abnabelung" yom Wissenschaftlichen Kommunis mus dokumentiert ist, zu vereinheitlichen, wurde sehr schnell fallengelassen, da es ihnen ein StUck Authentizitiit genommen hiitte. Als gemeinsame Per spektive wurde lediglich unterstellt, daB der Wissenschaftliche Kommunis mus! im Spannungsfeld zur Politikwissenschaft zu sehen ist, dies auch inso fern, da es Bestrebungen gab, ibn als marxistisch-leninistische Politikwissen schaft zu verwissenschaftlichen. Dieter Koop Holger Wartmann Anmerkung 1 Fiir die Teildisziplin des Marxismus-Leninismus waren in der DDR die beiden Bezeich nungen "Wissenschaftlicher Kommunismus" oder "Wissenschaftlicher Sozialismus" zu unterschiedlichen Zeiten iiblich; im Einzelnen siehe Anmerkung 1, S. 1:1 ff. 7 Inhalt Vorwort (D.K./H.W.) ................ ........ ........... ..... ........ .... ....... 5 Holger Wartmann War der "Wissenschaftliche Sozialismus" eine Politikwissenschaft? .... 11 Dieter Koop Das Wissenschafts- und Politikverstiindnis im Wissenschaftlichen Kommunismus ................................................................... 35 Dirk Schmeling und Harald Jentsch Der Studiengang Wissenschaftlicher Kommunismus ....................... 49 Birgit Chitralla Das Franz-Mehring-Institut - zentrale Institution der Weiterbildung fUr das "marxistisch-Ieninistische Grundlagenstudium" .................. 93 Fjodor Fink Das sowjetische "Vorbild" der Entwicklung des Wissenschaftlichen Kommunismus in der DDR .................................................... 117 Dieter Koop und Holger Wartmann Die Darstellung der "btirgerlichen" Politikwissenschaft in der gesellschaftswissenschaftlichen Literatur der DDR ................ 137 Michael Th. Greven Bericht tiber das Ende des Wissenschaftlichen Kommunismus und die Anfiinge der Politikwissenschaft an der Universitiit Leipzig 1989 bis 1991 165 Nachwort (M.Th.G.) ............................................................ 177 Uber die Autoren ................................................................ 179 9 Bolger Wartmann War der "Wissenschaftliche Sozialismus" eine Politikwissenschaft? Die Frage, ob es in der DDR eine Politikwissenschaft gab, ist ersbnals auf dem 18. DVPW-Kongress, in der Diskussion der Ad-hoc-Gruppe "Ubergangs probleme und Neukonstituierung der Politikwissenschaft in den Universitaten der ehemaligen DDR", in adiiquater Weise, niimlich als wissenschaftstheore tisch und -historisch orientierte Problemstellung thematisiert worden. Bis da hin wurde sie aus rein rhetorischen Grunden gestellt. Die Positionen pro (vgl. Heinrich u.a. 1991; Segert 1991) und contra (vgl. Stellungnahme 1990; Beyme 1991) standen bereits fest. Sie resultierten aus den spezifischen Interessenla gen, die sich durch die Deinstitutionalisierung des DDR-Wissenschaftssy stems insgesamt, die "Abwicklung" der marxistisch-leninistischen Gesell schaftswissenschaften und die Evaluierung ihrer Vertreter in Sonderheit her ausgebildet hatten. So war das kategorische Verdikt iiber die Nichtexistenz einer Politikwissenschaft in der DDR in der "Stellungnahme der Deutschen Vereinigung fiir Politische Wissenschaft zur Entwicklung des Faches Politik wissenschaft in der DDR" yom Juli 1990 eine Reaktion auf die damals an den DDR-Universitaten zu beobachtenden Bestrebungen, "bestehende Fachrich tungen (wie Marxismus-Leninismus) urnzufirmieren und sie irrefiihrend als Politikwissenschaft auszugeben." (Stellungnahme 1990, S. 75) In ibm artiku lierte sich die korporative Befiirchtung, daB durch diese Entwicklung sowohl die miihsam erworbene akademische Reputation des Faches in der alten Bun desrepublik, als auch seine schnelle Implementierung im "Beitrittsgebiet" ge fiihrdet werden konnte. Ahnlich reaktiv formulierte Segert die Gegenthese: sein Aneinanderreihen von mehr oder weniger politikwissenschaftlich orien tierten Forschungssegmenten aus verschiedenen marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften war ein Pliidoyer dafiir, daB westdeutsche Fach vertreter bei der Evaluierung an den Universitaten der ehemaligen DDR nicht per definitionem selektive Kompetenzzuweisung ausschliefien sollten. "Abwicklung" und Evaluierung gehoren ebenso der Vergangenheit an, wie die Expansion der westdeutschen Politikwissenschaft in die neuen Lander. Die Betriige, urn die es geht, sind geringer, die Chance, zu ausgewogenen analyti schen Wertungen zu gelangen, ist grofier geworden. Wie diese Chance genutzt 11 wird, hangt u.a. davon ab, ob die ehemaligen Vertreter des "Wissenschaftli chen Kommunismus/Wissensehaftliehen Sozialismus (WK/WS) .. l zu einer kritisehen Reflexion fiber den Status dieser Disziplin in der Lage sind. Die "Suehe naeh der Politikwissenschaft in der DDR" hat sieh naeh 1989 sehr schnell auf den WS konzentriert. Meiner Meinung naeh gab es dafiir drei Grunde. Erstens: In verschiedenen Beitriigen der westdeutschen DDR-Forschung aus den 70er und 80er Jahren fiber Versuehe zur Etablierung einer Politikwissen sehaft in der DDR (vgl. Weber 1970a; ders. 1970b; Bruns 1976; Gransow 1976; Weber 1987a; ders. 1987b) wurde die Disziplin Dieht nur als Ideologiefaeh, sondem aueh als Sozialwissensehaft apperzipiert. Weber hatte zum Beispiel in seiner Mannheimer Antrittsvorlesung von 1970 formuliert: "Die bisherige AufgabensteHung, die Forschungsprogramme und der Forsehungsgegenstand des neuen Faehes zeigen, daB der wissenschaftliche Sozialismus nieht nur der Verbreitung und Kommentierung der Ideologie dienen soH, sondem aueh der wissensehaftliehen Untersuehung politiseher Probleme. In diesem Sinne fibemimmt das Faeh wissenschaftlicher Sozialismus in der DDR zunehmend Funktionen einer Politikwissensehaft, in Forsehung und Lehre dieser Diszi plin ist ein politikwissensehaftlieher Ansatz zu erkennen." (Weber 1970b, S. 1240) Diese Einsehiitzung hat den Verlauf der Diskussion in den vergangenen drei Jahren vor-und mitgepriigt: sie wurde von den Vertretem des WS als "Autori tiitsbeweis" benutzt, urn zu zeigen, da6 sieh eine emsthafte Auseinanderset zung mit dem Faeh lobot (vgl. Berg u.a. 1991, S. 10); sie ist - unreflektiert - auch im Berieht von Bleek fiber seine Tiitigkeit als Gastprofessor an der Berli ner Humboldt-Universitiit im Sommersemester 1990 wiedergegeben worden (vgl. Bleek 1990, S. 1679f.). Zweitens: 1m Unterschied zu Weber, der seine Argumentation fiber den poli tikwissensehaftliehen Charakter des WS aus der These abgeleitet hatte, da6 sich die SED-Ffihrung "vom Ausbau einer solchen Wissenschaft Forschungs ergebnisse [versprach], die sie flir ihre Politik verwerten konnte" (Weber 1987b, S. 1297), hat Segert konstatiert, dafi ein solches Interesse bezogen auf den WS zwar nieht bestand, behauptete aber, da6 es auch in dieser Disziplin gelungen sei, "das von der SED-Fiihrung gegeniiber einer empirisch begrun deten Politikwissenschaft verhiingte Tabu" zu durchbrechen: "An einigen Stellen wurde im Wissenschaftlichen Sozialismus versucht, die Rolle zu iiber nehmen, die ibm vorher von Soziologen wohl vor allem deshalb zugewiesen worden war, damit sie sich selbst am heillen Eisen nieht zu verbrennen brauch ten: die Analyse der politischen Organisation. Es wurde begonnen, auf diesem Feld Daten zu sammeln. Betriebliche Mitbestimmung und einzelne Vereine und Parteien waren Gegenstand der Betrachtung." (Segert 1991, S. 113) 12 Berg u.a. kamen in ihrer Darstellung der Arbeit des "Instituts fUr Wissen schaftlichen Kommunismus" an der Akademie fUr Gesellschaftswissenschaf ten beim ZK der SED zu dem Schlufi, daJ3 dort seit Mitte der 80er Jahre "in ei nem sehr komplizierten und alles andere als widerspruchsfreien Proze8 theo retische Niiherungen und Beitriige zur Politikwissenschaft in vier Richtungen [entstanden): 1. Intemationale Politik, Friedens- und Konfliktforschung, 2. Ansiitze der Systemvergleichsforschung und zivilisierter politischer Streitkul tur, 3. Demokratieforschung, 4. Theoriediskussion um Politikwissenschaft." (Berg u.a. 1991, S. 13) Heinrich u.a. gingen in einem Bericht des Blast uber die Osteuropa Forschung in der DDR noch weiter und sprachen von einer "generellen Zu nahme politikwissenschaftlicher Forschungen im Rahmen der Disziplin Wis senschaftlicher Sozialismus im Verlaufe der 80er Jahre" (Heinrich u.a. 1991, S.22). Drittens: Die fast 30jiihrige Debatte uber den Gegenstand, die Gesetze, Ka tegorien, Prinzipien, uber die Methode und die Funktionen des WS mundete Mitte der 80er Jahre in den Versuch einer politiktheoretischen Grundlegung der Disziplin durch Gro6er, Muller, Weill u.a .. Auf der 39. Tagung des "Rates fUr Wissenschaftlichen Kommunismus"2 Ende Miirz 1989 forderte der Rats vorsitzende und Direktor des "Instituts fUr Wissenschaftlichen Kommunis mus" Reillig - ausgehend von den Arbeiten Gro6ers, Mullers u.a. - die poli tikwissenschaftliche Profilierung der Forschungen in den 90er Jahren (vgl. Bericht uber die 39. Thgung 1989). In diesem Zusammenhang tauchte nach 1989 das Argument von der "Politikwissenschaft in statu nascendi" auf. In Auseinandersetzung mit den hier skizzierten Argumentationslinien und Interpretationsmustem versucht der nachfolgende Diskurs eine Antwort auf die Frage zu tinden, ob und wenn ja, welche extemen Moglichkeiten und im manenten Ansiitze es zur politikwissenschaftlichen Protilierung des WS gab. Er soIl einen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion leisten. Nur Tei/bereich der Ideologie oder auch SozialwissenschaJt? In Anlehnung an das von Lenin initiierte Dekret ,;Uber die Festlegung eines allgemeinen Minimums des zu vermittelnden Wissensstoffes, das an allen Hochschulen der RSFSR obligatorisch gelehrt werden mufi" yom 5. Miirz 1921, verkiindete das ZK der SED am 19. Januar 1951 mit dem Beschlufi "Die niichsten Aufgaben in den Universitiiten und Hochschulen" die EinfUhrung ei nes "gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudiums" fUr Studierende aller Fachrichtungen an siimtlichen Universitiiten, Hoch- und Fachschulen der DDR (vgl. Muller I Muller 1953, S. 238 - 244; Richert 1967; Handel 1981). In 13