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Wahrnehmung des Anderen: Zur Didaktik interkulturen Lernens PDF

297 Pages·1997·10.353 MB·German
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Alfred Holzbrecher Wahrnehmung des Anderen Reihe Schule und Gesellschaft Herausgegeben von Franz Hamburger Marianne Horstkemper Wolfgang Melzer Klaus-Jürgen Tillmann Band 14 Alfred Holzbrecher Wahrnehmung des Anderen Zur Didaktik interkulturen Lemens Leske + Budrich, Opladen 1997 Gedruckt auf säurefreiem und altersbeständigem Papier. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Holzbrecher, Alfred Wahrnehmung des Anderen: Zur Didaktik interkulturellen Lernens I Alfred Holzbrecher. - Opladen: Leske und Budrich, 1997 ISBN 978-3-8100-1704-8 ISBN 978-3-322-95865-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-95865-5 © 1997 Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschlieSlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. lede Verwertung auSerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere ftir Vervielfá1tigungen, Übersetzungen, Mi kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhalt 1. Inhaltliche und methodische Einführung.................. 7 1.1 Anla6 und Problem der Untersuchung ........................ 7 1.2 Fragestellungen .......................................................... 10 1.3 Zur Abgrenzung des Materials .................................... 11 1.4 Zur Methode .............................................................. 12 1. 5 Zum Aufbau ............................................................... 14 1.6 Zu nicht behandelten angrenzenden Problemen .......... 16 2. Wabrnehmung des Anderen: Historische und systematische Zugänge ................... 17 2.1 Zur Dialektik von Selbstbewu6tsein, Fremdheitserfahrung und Weltbildkonstruktion in der Geschichte der Neuzeit ...................................... 17 2.1.1 Ängste, Krisenbewu6tsein und Verarbeitungsmuster der Renaissance ........................................................... 18 2.1.2 1492: Die Entdeckung des Anderen ....................... ...... 29 2.1.3 Das kopernikanische Weltbild: Muster der Krisenbewä1tigung .... .... ....... ............ ......... ...... .... ......... 36 2.1.4 Das Subjekt und sein Anderes. Der aufgeklärte Blick ... 41 2.1.5 Die AbgTÜllde des Automatenmenschen ................... .... 51 2.1.6 Aliens: Dämonen hinter dem Spiegel. ........... ............... 61 2.2. Wahmehmung und Erkenntnis. Sozio-und Psychogenese der Weltbildkonstruktion ..... 73 2.2.1 "Die Brille": Zum Konzept des "Weltbilds" ................. 73 2.2.1.1 "Die Fassung": Begriffsbestimmung ........................... 73 2.2.1.2 "Die Gläser": Konstruktion von Sinn ........................... 84 2.2.1.3 "Die Tönung der Gläser": Körperbild und Wahrnehrnungscode ..................................................... 90 2.2.2 Das Fremde als Beziehungsphantasie ........................... 95 2.2.2.1 Blick auf den Fremden ................................................. 95 2.2.2.2 Der kleine Grenzverkehr: Fremdheitserfahrung ........... 99 2.2.3 Identität: Die Figur auf dem Hintergrund ..................... 105 2.2.3.1 Selbstbild: Identisches und Widerständiges .................. 107 2.2.3.2 Zur politischen Dynamik des Identitätsdenkens ............ 116 5 2.2.4 Vom Fremden im Eigenen. Zur lebensgeschichtlichen Dynamik von Weltbildem ... . 122 2.2.4.1 Umbauarbeiten in der epistemischen Umwelt ............... . 123 2.2.4.2 Entwürfe: Fremdheit als Bedingung von Entwicklung .. . 128 2.2.4.3 Wahrnehmung von Grenzen und Zwischenräumen in der Adoleszenz ........................................................ . 137 2.3 Zwischenergebnisse ...................................................... . 146 3. Auf der Spur des Anderen. Interpretation der Ergebnisse in pädagogischer Absicht ................. . 150 3.1 Den Dschungel ins Wohnzimmer ................................ . 150 3.2 Von der notwendigen Zumutung des Fremden ............. . 154 3.2.1 Ambivalenz und Brüchigkeit des Selbst ....................... . 154 3.2.2 Das Andere als Risiko und Chance .............................. . 155 3.3 Verstehen zwischen Illusion und Bemächtigung .......... . 157 3.4 Lemen in Zwischenräumen ......................................... . 169 3.4.1 Zum Begriff des Interkulturellen Lemens .................... . 169 3.4.2 Dimensionen interkulturelIer Wahrnehmung ............... . 175 3.4.2.1 Politisch-ökonomische Dimension .............................. . 176 3.4.2.2 Kultur-und psychohistorische Dimension ................... . 184 3.4.2.3 Ethnopsychoanalytische Dimension ............................. . 192 3.4.2.4 Kommunikationspsychologische Dimension ................ . 203 3.4.2.5 Umbriiche als Herausforderung. Ein Begegnungsseminar in Minsk ................................ . 209 3.4.3 Wahrnehmung und Gestaltung des "Zwischen" ............ . 225 3.4.3.1 Subjektentwicklung und Beziehungsfáhigkeit ............... . 226 3.4.3.2 Formen der Realitätsaneignung .................................... . 228 3.5 Auf dem Weg zo einer heuristischen Praxis ................. . 244 3.5.1 Grenzgänger: Methoden und Medien ........................... . 244 3.5.2 Kreative Aneignung eines literarisehen Textes bei einem interkulturellen Schillerseminar. ................................... . 261 3.5.3 Ein didaktisches Konzept .............................................. 264 3.5.4 "Der Lehrer ist Politiker und Künstler" ......................... 267 4. Forschungsausblick ........ .... ... ....... .................. ..... .......... 271 Verzeichnis der Übungen und methodischen Bausteine............... 277 Literaturverzeichnis ................................................................... 278 Danksagung................................................................................ 300 6 1. Inhaltliche und methodische Einführung 1. 1 AnlaB und Problem der Untersuchung Im Horizont des AlltagsbewuBtseins neigen wir dazu, Menschen und Dinge entweder als vertraut und zugehörig oder als fremdartig und nicht der Sphä re des Eigenen zugehörig zu bewerten. Eindeutige Grenzziehungen vermit teln das Gefühl von Sicherheit und erleichtern Orientierung angesichts der verwirrenden Vielfalt gesellschaftlicher Realität. Die Trennung zwischen dem Bereich der Eigengruppe und der der Fremden scheint zu den grund legenden Wahrnehmungsmustern zu gehören. Alle Identitätsarbeit zielt auf Abgrenzung. Zahlreiche ethnologische Befunde bestätigen, dafi eine solche Ein-bzw. Ausgrenzung es ermögIicht, zwischen Ordnung und Chaos zu un terscheiden: Der Fremde ist der von jenseits der Grenze. Zum Problem wird der Fremde vor allem als Reisender: Kommt er in guter oder in böser Absicht? Formen von Nähe und Distanz mit dem Frem den zu finden, gehört zu den kulturellen Leistungen jeder Gesellschaft. An der Art und Weise, wie mit dem ambivalenten Nicht-Zugehörigen umgegan gen wird, Hilit sich das Selbstverständnis einer sozialen Gruppe ablesen. In der europäischen Geschichte wurden immer ausgedehntere R.äume in den Horizont des subjektiven BewuBtseins gemckt. Eine immer stärkere Konfrontation mit dem Nicht-Vertrauten war nicht nur unvermeidlich, son dern zugleich Bedingung gesellschaftlicher und persönlicher Entwicklung. In der Figur des Fremden, so scheint es, verdichtet sich heutzutage die Er fahrung einer Zunahme von Risiken und Ungewillheit in allen Lebensberei chen. Das Gefühl fehlender Eindeutigkeit von Sachverhalten und Situatio nen verbreitet sich umso mehr, je stärker sich die Erkenntnis durchsetzt, dafi vertraute Muster der Realitätsdeutung nicht mehr greifen, geschweige denn zur Prognostizierung einer WÜllschenswerten Zukunft taugen. Die Auflösung der Ost-West-Grenze hatte eine Erosion von überkommenen, vermeintlich selbstverständlichen Deutungsmustern zur Folge. Diesseits wie jenseits der Grenze wurde man plötzIich mit einer nie zuvor gekannten Form von Fremdheit konfrontiert. Die gesellschaftlichen Erschütterungen in Europa 7 infolge des Zerfalls der politischen Blöcke lassen erkennen, daB das Verhält nis zwischen dem, was als Eigenes angesehen wird, und dem als fremd Wahrgenommenen im Wortsinn frag-würdig geworden ist. Schwieriger denn je erscheinen Antworten auf die Frage, was denn nun das Fremde sei: Was wint als Eigenes und als Fremdes wahrgenommen? Welche bewuBten und unbewu8ten Ordnungsschemata finden in diesen Konstruktionen ihren Ausdruck? Die Psychoanalytikerin Julia Kristeva geht davon aus, daB der Fremde "die verborgene Seite unserer ldentität list] , der Raum, der unsere Bleibe zunichte macht, die Zeit, in der das Einverständnis und die Sympathie zugrunde gehen" (Kristeva 1990, S.l1). Die Wahmeh mung des Anderen1 berührt demnach immer auch das, was Freud als "inne res Ausland" (1976, S.496) bezeichnet hat. Wie sollte es auch anders sein? Ist doch unser Wahrnehmungssystem vielfach ruckgekoppelt nicht nur mit bewu6ten Erfahrungen und Sinneswahrnehmungen, sondern auch mit un bewu6t gebliebenen Gefiihlsdimensionen. Eine Bestimmung des Eigenen erscheint undenkbar ohne die Folie des Fremden, des Anderen - wie auch umgekehrt. Somit gerät die Begeg nung mit dem Fremden zur Grenzerfahrung, - zur Erfahrung einer dynami schen Kontaktlinie zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich, zwischen der ei genen Gruppe und den anderen sowie zum Erlebnis der Grenze zwischen dem BewuBten und dem UnbewuBten. Im Umgang mit dem Anderen werden Bilder hervorgebracht, Wahr nehmungsmuster, die die Orientierung erleichtem und den Umgang mit die sem Anderen strukturieren. DaB diese Bilder besonders scharf konturiert er scheinen, wenn sie vom "Fremden in uns selbst" (Kristeva 1990, S.l1) Farbe und Struktur erhalten, kano als gesicherter Befund der psychoanalytischen Forschung betrachtet werden. In einer Zeit des Wahrnehmungschaos und erlebter Ohnmacht angesichts al ler weltweit wie innergesellschaftlich zu bearbeitenden Krisen und Konflikte kommt Sehnsucht nach allwnfassenden pädagogischen Strategien und Re zepten auf. Doch das Denken nach dem Muster "Hier das Problem, dort die Die vertraute Schreibweise des anderen ist die Kleinschreibung, sie galt bislang als die orthographisch richtige. A1lerdings hat sich in der Fachliteratur immer stärker die GroBschreibung eingebürgert, nach den künftigen Regeln wird der Andere groB geschrieben. In diesem "Zwischen raum" gilt rur die vorliegende Arbeit die Kleinschreibung, wenn eindeutig eine andere Person ge meint ist. GroB geschrieben wird der bzw. das Andere, wenn nicht nur von einem personalen Ge genüber, sondem verallgemeinemd von der Andersartigkeit des Anderen bzw. des Fremden die Rede ist. 8 Lösung" ist nicht nur im politischen, sondem auch im pädagogischen Hand lungsfeld obsolet geworden. Wenn hilflose Politiker und Publizisten nach wirksamen pädagogischen Strategien zur Verringerung von Ausländerfeind lichkeit rufen, leisten sie der Vorstellung Vorschub, es gäbe irgendwo "rich tige" didaktische und methodische Arrangements, urn garantiert politisch wirksame Einstellungsveränderungen bei den Lemenden zu bewirken. Ei nen solchen pädagogischen Zauberstab der Problemlösung gibt es nicht und wird es auch nicht geben. Zu desillusionierend bleibt die Erkenntnis, daB Verstehen und Lemen kein Ergebnis von Belehrung, sondem ein vom Sub jekt selbst organisierter Prozefi ist, der von aufien und von Dritten nicht er zwingbar ist. Als Lehrer/innen sind wir dem Druck gesellschaftlicher Erwartungen ausgesetzt und müssen Gefuhle der Verunsicherung auf seiten der Schü Ier/innen zu einem Bestandteil pädagogischer Arbeit machen. In Krisensi tuationen entsteht verstärkt das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung. Dies ist der subjektive Anlafi der vorliegenden Arbeit. Nach vielen Jahren der Ar beit als Lehrer an einem Gymnasium wuchs der Wunsch nach einer Insel der Reflexion, nach einer reflektierten Verknüpfung der Praxis mit der Ebe ne pädagogischer Theorie. Zielsetzung und Fragestellungen der Arbeit erwuchsen vor allem aus der praktischen Arbeit an einem Arbeits- und Lesebuch, das im Rahmen des Projekts "Lemen fur Europa" (Landesinstitut fur Schule und Weiterbildung NW / Soest) herausgegeben wurde (HolzbrecherlKrüger 1993; vgl. Kap. 3.4.2». Die Diskussionen in der Projektgruppe "Gesellschaftslehre" boten Gelegenheit, die für das Arbeits- und Lesebuch entwickelten Lemelemente zu einem immer konsistenter erscheinenden didaktischen Gesamtkonzept zu verknüpfen. Was die methodische Seite des Konzepts betrifft, konnten Er fahrungen aus der aufierschulischen Jugend- und Seminararbeit genutzt wer den, vor allem aber solche, die beim Ausloten der Zwischenräume in den Lehrplänen meiner Unterrichtsfàcher (Pädagogik, Deutsch, Literatur, Reli gion) gewonnen wurden. 9 1.2 Fragestellungen Erkenntnisleitend ist die Annahme, daB die Wahrnehmung des Fremden ei ne historisch bedingte Konstruktion ist. Aus dieser Grundannahme lassen sich folgende Fragen ableiten: -Was worde in der europäischen Geschichte seit dem Beginn der Neuzeit als fremd wahrgenommen? - Welche Muster der Wahrnehmung des Anderen verfestigten sich beim Kontakt mit ihm? Wie worden die Diskrepanzen zwischen der Wider sprüchlichkeit der Realitätserfahrung und der Konstruktion der Bilder vom Anderen verarbeitet? -Lassen sich Wahrnehmungsmuster identifizieren, die in ihrer Grundform bis heute wirksam sind? -Inwiefem lä6t sich -systematisch betrachtet -ein Zusammenhang begründen zwischen dem Bild vom Anderen (dem Weltbild) und dem Bild von der eigenen Person bzw. Gruppe? -Welche Formen der Wechselwirkung zwischen soziogenetischen und psychogenetischen Dimensionen der Welt- und Selbstbildkonstruktion können identifiziert werden? -In welcher Beziehung erscheint das Konstrukt des Eigenen ("Identität") zu dem des Fremden? Wie entwickelt sich dieses Ordnungs schema im Verlauf der Adoleszenz? Auf der Grundlage der Untersuchungsergebnisse soli gefragt werden: -Welche SchluBfolgerungen können aus den Erkenntnissen über die historische und biographische Dimension der Welt-/Selbstbildkonstruktion fiir das schulische Lemen im allgemeinen und fiir das Interkulturelle Lemen im besonderen gezogen werden? -Welche didaktischen und methodischen Lemelemente können dazu beitragen, mit dem Fremden bzw. mit Ambivalenzerfahrungen produktiv umzugehen und den Kontakt mit dem Anderen als Gelegenheit zur Subjekt entwicklung zu begreifen? 10

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