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»Vor dem Gesetz«: Einführung in Kafkas Welt PDF

294 Pages·1993·28.919 MB·German
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"Vor dem Gesetz« Hartmut Binder ))Vor dem Gesetz« Einführung in Kafkas Welt Verlag 1. B. Metzler Stuttgart . Weimar Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Binder, Hartmut: "Vor dem Gesetz" : Einführung in Kafkas Welt / Hartmut Binder. - Stuttgart ; Weimar: Metzler, 1993 ISBN 978-3-476-00904-3 ISBN 978-3-476-00904-3 ISBN 978-3-476-03471-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-03471-7 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Ur heberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfaltigungen, Über setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verar- beitung in elektronischen Systemen. © 1993 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei]. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1993 ~ EIN VERLAG DER" SPEKTRUM FACHVERLAGE GMBH INHALTSVERZEICHNIS Der Text: »Vor dem Gesetz« 1 Das Problem: Gesetzloses Lesen 3 I. Kapitel: Form 10 1. Tempus 11 2. Perspektive 13 3. Gestaltung 17 4. Parabel 33 11. Kapitel: Der Mann vom Lande 38 1. Am-ha'aretz 38 2. Schuld 47 III. Kapitel: Der Türhüter 70 1. Stellung 70 2. Aussehen 77 Iv. Kapitel: Das Gesetz 87 1. Untertanen 87 2. Gattungen 91 3. Glaubensinhalte 96 4. Leerformeln 101 5. Raumfolgen 108 6. Kontexte 124 V. Kapitel: Sinn 158 1. Methoden 158 2. Antinomien 166 3. Fallen 189 4. Exegesen 199 v VI. Kapitel: Hintergrund 224 1. Vater 225 2. Braut 238 3. Bilder 241 Die Handschrift: Ein Blick in die Werkstatt 247 Abkürzungsverzeichnis 260 Anmerkungen 261 VI Der Text »VOR DEM GESETZ« Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintre ten dürfen. »Es ist möglich,« sagt der Türhüter, »jetzt aber nicht.« Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor ins Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: "Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhü ter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.« Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel ge nauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwar zen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niederset zen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, einge lassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahms lose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schluß sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwen det alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu beste chen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: "Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.« Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununter brochen. Er vergißt die andern Türhüter und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er ver flucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er 1 »VOR DEM GESETZ« wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhü ters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließ lich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Kör per nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zu un gunsten des Mannes verändert. »Was willst du denn jetzt noch wissen?« fragt der Türhüter, »du bist unersättlich.« »Alle streben doch nach dem Gesetz,« sagt der Mann, »wieso kommt es, daß in den vielen lahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?« Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn. [1] 2 Das Problem GESETZLOSES LESEN Kafkas Erzählung Vor dem Gesetz ist häufig gedeutet, aber kaum jemals richtig verstanden worden. Dieses Mißverhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis liegt nur teilweise im Gegenstand und sei nen Schwierigkeiten begründet. Dafür verantwortlich ist auch, und mindestens im gleichen Ausmaß, die Zunft der Interpreten, die es bei ihrer Arbeit an der notwendigen Sorgfalt fehlen läßt und wich tige Grundsätze der Auslegungswissenschaft mißachtet. So steht beispielsweise vielen von vornherein fest, daß Vor dem Gesetz ein religiöses Problem behandle. Solche Vorerwartung leitet sich von einem verbreiteten Verständnis des Procif.?[2]-Fragments her, dem der Text zugehört. Aber die Rezeptionsgeschichte dieses Werks ist äußerst verworren, so daß nicht einzusehen ist, inwiefern von diesem schwankenden Grund aus ein archimedischer Punkt gefunden werden könnte, der eine angemessene Erfassung des Prosastücks erlaubte. Außerdem bestehen so beträchtliche Unter schiede zum Romankontext, daß sogar die These entwickelt wurde, Vor dem Gesetz passe besser zu den im Schlo/J dargestellten Sachver halten als zum Procif.? Schließlich sollte bedacht werden, daß Kafka die Erzählung für sich veröffentlicht hat, es also für möglich hielt, sie allein aus sich selbst zu verstehen. Demgegenüber scheinen theologisch orientierte Literaturwis senschaftler ihre Aufgabe vor allem darin zu sehen, Belege beizu bringen, die ihre eigenen Vorurteile bestätigen. Sie stellen sich gar nicht erst die Frage, ob eine Betrachtung auf anderer Ebene viel leicht überzeugendere Ergebnisse hervorbringen könnte. Unter solcher Beleuchtung muß dann der Mann vom Lande, dem es nicht gelingt, in das Gesetz einzutreten, zwangsläufig als seines eigenen Unglücks Schmied erscheinen. Man versucht, ihm eine Schuld an zuhängen oder in seinem Verhalten wenigstens eine sittliche Ver fehlung zu erkennen. Für einen unvoreingenommenen Betrachter bleibt dieses Vorgehen unbegreiflich, denn in der Erzählung fin den sich keine Aussagen, die es nahelegten, den Mann vom Lande allein für sein Scheitern verantwortlich zu machen. Hätte ihm Kafka eine Schuld unterstellen wollen, hätte er das sicherlich zum 3 GESETZLOSES LESEN Ausdruck gebracht. So gibt es zum Beispiel im Procf!ß - selbstver ständlich bei einer Anklage vor einem Gericht - eine Diskussion über diese Frage, wobei deutlich zu erkennen ist, daß losef K. als Schuldiger gezeichnet werden soll, auch wenn er diese Schuld bis zuletzt in Abrede stellt. [3] Zur Verwirrung hat überdies beigetragen, daß Vor dem Gesetz in aller Regel als Parabel aufgefaßt wird. Denn eine solche Bezeich nung suggeriert aufgrund der Geschichte dieser Gattung, daß hier Transzendentes verhandelt werde. In jedem Fall aber scheint sie in sich zu schließen, daß die dargestellten Vorgänge auf eine andere Ebene übertragen werden müßten, damit sich ihr Sinn enthülle. Die Interpreten verfahren entsprechend, ohne vorher untersucht zu haben, ob die Erzählung überhaupt die Bedingungen einer Pa rabel erfüllt, wobei es zuweilen so aussieht, als hätten sie diese Form uneigentlicher Rede als Freibrief mißverstanden, der es ihnen erlaubte, eigene Spekulationen und produktive Anverwand lungen des Textes als legitime Erläuterungen auszugeben. Zu diesem beklagenswerten Zustand hat freilich nicht nur das Unvermögen der Deuter beigetragen, sondern auch deren Abhän gigkeit von Moden des Zeitgeistes sowie Kafkas Heiligsprechung als Prophet der Moderne: Alles, wofür man, aus welchen Gründen auch immer, einzutreten bereit war, hatte sich im Werk dieses Pra ger Autors zu spiegeln. War man Existentialist, Pazifist, Katholik, lude oder Materialist - Kafka war es natürlich immer ebenso und sogar in stärkerem Maße. Keiner in der unzähligen Schar seiner Interpreten, der die Aussage gewagt hätte, Kafka sei aufgrund die ser oder jener Besonderheiten zwar ein bedeutender Autor, lasse es aber, beispielsweise, an der rechten Überzeugung oder an be stimmten Tugenden fehlen. Dabei hatte er selbst vorexerziert, wie er den Umgang mit seinesgleichen behandelt wissen wollte, sah er doch, was er vom Schriftsteller dachte, von Mörike blendend-ge heimnisvoll zusammengefaßt, der einmal über den von ihm be wunderten Heine sagte: »Er ist ein Dichter ganz und gar [ ... ] aber nit eine Viertelstund' könnt ich mit ihm leben, wegen der Lüge seines ganzen Wesens.« [4] Nüchternheit ist also angebracht, besonders im Blick auf die neuerdings aufkommenden Deutungen, die Hauptwerke Kafkas aus einem kabbalistischen Hintergrund erwachsen sehen. Es handelt sich dabei um eine Erfindung von Interpreten, die sich zu ihrer Profilierung einen immer mehr um sich greifenden Esoterik-Boom 4

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