Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft Vortrage, gehalten auf Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und A.rzte (1822-1958) Herausgegeben von HANSjoCHEM AUTRUM Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York London Paris Tokyo Prof. Dr. Dr. h.c. HANSjOCHEM AUTRUM MaximilianstraBe 46 8000 Miinchen 22 lSBN-13:978-3-642-93368-4 e-lSBN-13:978-3-642-93367-7 DOl: 10.1007/978-3-642-93367-7 Das Werk ist urheberrechtlich geschiitzt. Die dadurch begriindeten Rechte, insbesondere die der Obersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ahnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergiitungsanspriiche des § 54, Abs. 2 UrhG werden durch die "Verwertungsgesellschaft Wort", M iinchen, wahrgenommen. © Springer-Verlag Berlin' Heidelberg 1987 Softcover reprint of the hardcover 1st edition 1987 Gesamtherstellung: Universitatsdruckerei H. StUrtz AG, Wiirzburg 3100/3114-54321 Inhaltsverzeichnis Vorwort IX CARL GUSTAV CARUS Von den Anforderungen an eine kunftige Bearbeitung der Naturwissenschaften ALEXANDER VON HUMBOLDT Uber die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und eine wissenschaftliche Ergrundung der Weltgesetze 12 HERMANN VON HELMHOLTZ Uber die Entwicklungsgeschichte der neueren N aturwissenschaften 32 FERDINAND VON RICHTHOFEN Die Gebirgsprovinz Sz'-tshwan in China 63 RUDOLF VIRCHOW UberWunder 91 AUGUST WEISMANN Uber die Bedeutung der geschlechtlichen Fortpflanzung fUr die Selektionstheorie lO9 V WERNER VON SIEMENS Das naturwissenschaftliche Zeitalter 143 OTTO BINSWANGER GeistesstOrung und Verbrechen 156 HEINRICH HERTZ Uber die Beziehungen zwischen Licht und Elektrizitat 187 LUDWIG BOLTZMANN Uber die Entwicklung der Methoden der theoretischen Physik in neuerer Zeit 204 THEODOR BOVERI Das Problem der Befruchtung 237 WILHELM ROUX Die Entwicklungsmechanik, ein neuer Zweig der biologischen Wissenschaft 265 WILHELM WIEN Uber Elektronen 287 HANS SPEMANN Uber embryonale Transplantation 309 ERWIN VON BALZ Die irrige Lehre vom natiirlichen Altern und Sterben derVolker 327 VI WALTHER NERNST Zur neueren Entwicklung der Thermodynamik 341 CARL CORRENS Vererbung und Bestimmung des Geschlechts 361 MAX VON LAUE Die Relativitatstheorie in der Physik 389 MORITZ SCHLICK Die Relativitatstheorie in der Philosophie 406 WALTHER STRAUB Ober GenuBgifte 422 FRIEDRICH PANETH Die Entwicklung und der heutige Stand unserer Kenntnisse iiber das natiirliche System der Elemente 448 WERNER HEISENBERG Wandlungen der Grundlagen der exakten Naturwissenschaften injiingster Zeit 483 GERHARD DOMAGK Chemotherapie der Streptokokkeninfektionen 502 OTTO HECKMANN Die Astronomie in der Geistesgeschichte der Neuzeit 520 VII KARL JASPERS Der Arzt im technischen Zeitalter 545 OTTO HAHN Zur Geschichte der Uranspaltung und den aus dieser Entwicklung entspringenden Konsequenzen 567 Biographische und bibliographische Hinweise 583 VIII Vorwort 1822 Iud Lorenz Oken (1779-1857) Naturforscher und Arzte zu einer Versammlung nach Leipzig ein. Das Ziel die ses und der folgenden Treffen an immer wechselnden Or ten sollte vor allem sein, sich uber die Grenzen der deut schen Kleinstaaten hinaus kennenzulernen, »sich zusam menzutun und zu besprechen« (Oken 1823). Kleinstaate rei: Den Deutschen fehlte ein geistiges Zentrum, wie es da mals Paris fur Frankreich, London fur England war. Wohl keine Institution hat die Entwicklung der Natur wissenschaften in Deutschland so beeinfluBt wie die »Ge sellschaft Deutscher Naturforscher und Arzte«. Den Auf bruch der Naturforschung im letzten Jahrhundert hat sie wesentlich stimuliert, und von ihr als Muttergesellschaft sind zahlreiche weitere wissenschaftliche Gesellschaften ausgegangen. Nahezu alle groBen Forscher fanden in die ser Vereinigung das Forum fUr die Darstellung ihrer Ideen. In den Berichten von ihren Versammlungen spiegelt sich die Entwicklung von der romantisch bestimmten Naturfor schung zur modernen Naturwissenschaft. Auf der ersten Versammlung hielt Carl Gustav Carus eine Rede >Non den Anforderungen an eine kunftige Bearbei tung der Naturwissenschaften«. Diese Anforderungen sind bestimmt durch den Geist der Romantik und Natur philosophie: »Nur das freie, geistige, zur Einheit aufschau ende Auge der Spekulation, gleichzeitig mit treuer einfa cher geordneter Beobachtung wesentlicher Sinneserschei nungen« kann als Naturforschung gelten. Welch ein Wan del seitdem: Das Wort »Spekulation« hat heute abwerten- IX den Unterton, ist oft ein Verdammungsurteil. GewiB for dert Carus, es soli »treu, einfach und geordnet« beobachtet werden, aber er betont ebenso, daB es schon »eine fast uniibersehbare Masse einzelner Beschreibungen und Be obachtungen« gibt, »weit weniger aber sieht man ein ruhiges und klares Bestreben, ... in der Mannigfaltigkeit der Phanomene die einfachsten, die Urphanomene zu erkennen und aus diesen kombinatorisch die Vielheit ab zuleiten«. Wenige Jahre spater, 1829, spricht Alexander von Hum boldt, gerade aus Paris zuriickgekehrt, von dem »wahren und tiefen Gefiihle der Einheit der Natur, aIle Zweige des physikalischen Wissens (des beschreibenden, messenden und experimentierenden) innigst miteinander vereinigt« zu sehen - physikalisch hier von ihm im Sinne der »Physis«, der Natur iiberhaupt zu verstehen. Das ist ein Programm, das in nuce bereits den Umschwung von der romantischen Naturphilosophie und Naturforschung zur Wissenschaft von der Natur vorwegnimmt. GewiB hauften sich die Kenntnisse von Einzelheiten, und 1840 ist dann die Rede von dem »inneren MiBbehagen, welches uns bei dem Wuste dieser Auswiichse der Erfah rungswissenschaft iiberfallt« (E.Ph. Peipers, 18. Vers.). Mit dem »Wust« und den »Auswiichsen« ist die Flut von Einzel fakten gemeint, die damals - und heute - viele solcher Tref fen und Symposien belasten. Deutlich wurde 1864 von Rudolf Virchow gesagt: »Wir wollen die Interpreten von Tatsachen sein«. Schon 1858 war er fiir konsequente mechanische Naturerklarung ein getreten (» Uber die mechanische Auffassung der Lebens vorgange«, 34. Vers.) und hatte betont, daB »Grenzen des Wissens« anerkannt werden miissen. Fiir einen >>Vitalis mus« - so Virchow - »gibt es keinen empirischen Beleg«. Freilich wurde ein >>Vitalismus« in der Biologie bis ins 20. Jahrhundert vertreten, vor allem von Hans Driesch (1861- 1941). »Manche Theorien sterben erst mit ihren Vertretern aus« (Max Planck). x Aus den Vortragen wird weiterhin deutlich, wie sich die Sprache des Wissenschaftlers gewandelt hat. Prazis ist sie immer, aber sie wird nuchterner, kaum eine Metapher wird in den spateren Vortragen verwendet. Dies darzustellen war aber nicht der einzige, nicht ein mal der wesentliche Gesichtspunkt bei der Auswahl aus den mehr als 1000 Vortragen, die auf den Versammlungen der Gesellschaft in den Jahren 1822 bis 1958 gehalten wurden. Auch sollte nicht der bedeutende Name maBgebend sein, sondern die uberzeugende Meisterschaft der Darstellung. Es uberrascht nicht, daB als Folge davon vorwiegend, wenn auch nicht ausschlieBlich, groBe und bedeutende Forscher zu Wort kommen. Sie verstanden es, Fragen an die Natur zu stellen, die sie beantworten konnte. Ihnen lag nicht daran, enzyklopadisches Wissen zu vermehren und zu vermitteln, sondern in einer uber die Fachsprache hinaus verstandli chen Weise die Gesetze darzustellen, die allem Naturge schehen zugrunde lie gen. All das allein reicht aber als Begrundung nicht aus, diese vor vielen J ahrzehnten, ja vor uber 100 J ahren gehal tenen Vortrage wieder auszugraben. Fur den Herausgeber steht im Vordergrund das intellektuelle Vergnugen an ei ner solchen Lekttire. Er hofft, auch dem Leser werden diese Vortrage in ihrer sprachlichen Klarheit und ihren weitgespannten Gedanken ein GenuB sein. »Eine wissen schaftliche Arbeit muB ein Kunstwerk sein« - mit diesen Worten gab Theodor Boveri seinem Schuler Hans Spe mann einmal eine geplante VerOffentlichung zur Oberar beitung zuruck. Die Vortrage sind - auch - Kunstwerke. Die Ergebnisse der Wissenschaft - auch das demonstrie ren diese Vortrage -lassen sich ohne Zwang zur Ungenau igkeit auch fur den verstandlich darstellen, der nicht vom Fach ist. Freilich erfordert das Disziplin in der Sprache und bewuBtes Vermeiden nicht erlauterter Fachworter. Zuwei len, leider nur selten, ist auch der Humor nicht vergessen. Wenn wissenschaftliche Darstellung eine Kunst ist, dann darf sie auch heiter sein. XI