Meister Eckehart Vom Wunder der Seele Eine Auswahl aus den Traktaten und Predigten eingeleitet, neu durchgesehen und herausgegeben von Friedrich Alfred Schmid Noerr Philipp Reclam Jun. Stuttgart Universal-Bibliothek Nr. 7319 Alle Rechte vorbehalten. © 1951 Philipp Reclam jun., Stuttgart Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 1981 ISBN 3-15-007319-7 Inhalt Einführung Von der Selbsterkenntnis oder: Von der Vollendung der Seele (Traktat II) Von der Abgeschiedenheit (Traktat IX) Vom tätigen und schauenden Leben (Predigt IX) Von der wahren Armut (Predigt LXXXVII) Vom wahren Reichtum (Predigt LXXXVI) Von unsagbaren Dingen (Predigt LVI) Vom Tod (Predigt LXXXII) Ich und der Vater sind eins (Predigt LXXXVIII) Von den Händlern im Tempel der Seele (Predigt VI) Von Gott und Mensch (Predigt LXVI) Vom Reich Gottes (Predigt LXIX) Merksprüche und Weisungen Auszüge aus der Bulle Johannes’ XXII. ›In agro dominico‹ Nachwort Zählung der Traktate und Predigten nach: Meister Eckhart (Bd. II der ›Deutschen Mystiker‹) ed. Franz Pfeiffer. 1857. (Nach dieser Zählung sind die entsprechenden Texte bei Quint, Büttner und Schulze-Maizier leicht auffindbar.) Einführung Um das Jahr 1260 wurde dem dominus Hecehardus miles de Hochheim ein Sohn geboren, auf den des Vaters Rufname »E- cehardus« überkam. Jener ritterliche Herr saß als Vogt auf der landgräflich-thüringischen Sperrburg Waldenfels ob Tambach, nahe dem Nordrande des Gebirges, wo eine alte Straße vom Fränkischen herüber gegen Gotha zu ausläuft. Der Ortsname Hochheim begegnet im Thüringischen mehrfach. Ein Dorf die- ses Namens, nördlich von Gotha, darf als Stammsitz des land- gräflichen Dienstmannes gelten. Der junge Ecehardus trat ein in eine Welt ärgster geistiger wie staatlicher Wirren. Sie beunruhigten ebenso sehr seine en- gere Heimat, wie sie Gesamtdeutschland, ja das ganze Abend- land in Gärung und ausbrechenden Zerfall versetzten. Eine Weltwende kündigte sich an: Der thüringische Dynastenstreit, der im Teilungsvertrag von 1265 den Wettiner Albrecht II. den Entarteten zum liederlichen Landesherrn machte, war eines der vielen Anzeichen des Reichsverfalls. Als 1268 Konradin, der letzte Staufer, zu Neapel durch Henkershand fiel, hatte das deutsche Interregnum tatsächlich schon lange begonnen. Frankreich wie England entfalteten und befestigten damals ihr nationalstaatliches Bewusstsein: das Heilige Römische Reich ward zerrissen vom Hausmachthunger seiner großen und klei- nen Fürsten. Gleichzeitig geht durch die christlich-abendländische wie durch die morgenländisch-islamitische Welt eine gemeinsame Welle religiöser Erschütterungen, die man unter dem Namen der Mystik zusammenzufassen pflegt. Als ortsbedingte Zeit- erscheinung mag sie, damals wie immer, begriffen werden als notwendiger Gegenschlag eines nach Verinnerlichung stre- benden Menschentumes gegenüber einem politisch wie ge- sellschaftlich lärmerfüllten, kulturell und religiös krisenhaft ge- fährdeten Zeitalter. Um das Bild jener Jahrzehnte flüchtig abzu- runden, sei erinnert: Rund dreißig Jahre vor der Geburt des Junkers Ecehardus stirbt »der erste Nachahmer des armen Le- bens Christi«, Franziskus, der nur durch aufgezwungene Or- densregeln kirchlich noch abgefangene Revolutionär, während die piemontisische Waldenserbewegung die abendländische Kirche zu sprengen droht. Kaum hundert Jahre vor dessen Ge- burt, um 1182, starb in Hochtibet der »Große Guru Gampopa«, Begründer der Kargyüpta-Schule spätbuddhistischer Mystik, der in entscheidenden Lehren verblüffende Verwandtschaft mit der Mystik des Meisters Eckehart aufweist. Fast zugleich mit dem heiligen Franz stirbt Walther von der Vogelweide und mit ihm die Hochblüte höfischer Dichtung in Deutschland. Nahezu gleichaltrig aber mit dem Sohn des thüringischen Burgvogtes wächst in Florenz der junge Dante heran, der Dichter des mit- telalterlich-kirchlichen Weltbildes in dessen abschließender Vollendung. Und indessen hinter Junker Ecehardus sich um 1276 die Pforte des Predigerordens zu Erfurt schließt, stirbt im fernen Konia in Persien soeben der größte Mystiker des Ostens, Dschelal ud-din ar-Rûmi, der Stifter des Mystikerordens der Mewlewi. In den Jahren aber, in denen jener Jungmönch Ece- hardus zum Pariser Magister und zum Professor der Theologie an der Universität Köln sowie zum weitberühmten Prediger herangereift ist, wird in Schiras der große mystische Dichter Hafis geboren: auch er, wie Dschelal ud-din ar-Rûmi und Meis- ter Eckehart, »Professor der Theologie«. Goethes Beginnworte zum »West-östlichen Diwan« gelten voll auch für die Welt von 1260 und ihre Bereitschaft zur weltüberwindenden Verinnerli- chung: Nord und West und Süd zersplittern, Throne bersten, Reiche zittern … Der Dominikanermönch Ecehardus, den wir in richtigem Deutsch »Eckehart« nennen, durchläuft in raschem Aufstieg die Ämter und Würden, die sein Orden auszuteilen hat: Schon als Dreißiger ist er Prior seines Erfurter Klosters und Vikar von Thü- ringen. Mit ungefähr vierzig Jahren bezieht er als »Doktorand mit Lehrauftrag« die Universität Paris und kommt von dort als Magister, als »Meister«, 1303 zurück, um alsbald die Leitung der Ordensprovinz Sachsen zu übernehmen. 1307 kommt dazu noch das Vikariat in Böhmen. 1309 soll er die alemannisch- oberdeutsche Provinz mitübernehmen, ward aber vom Gene- ralkapitel für das Pariser Lehramt bestimmt. In Paris bleibt er auch zum zweiten Mal nicht lange. Seit 1313 ist er Prior in Straßburg, wohin ihn, wohl vorzüglich als Prediger, sich die der mystischen Haltung besonders zugewandten Konventualen am Oberrhein ausgebeten haben mögen. Im empfänglichen Kreise seiner Straßburger Zuhörer mag sich damals auch der hohe Ruf, der dem Seelsorger und Prediger Eckehart längst schon voraus- lief, verdichtet haben zu jenem Ruhm, der die feurige Einzigar- tigkeit des Mannes, die religiöse Unbedingtheit und den frohen Bekennermut dieses »Lebemeisters« bei Zeitgenossen und spä- ten Enkeln unvergesslich machte. Der Deutschprediger Ecke- hart begann mit seinem in solcher Inbrunst noch nie erhörten seelenaufreißenden Gotteserlebnis ins Volk zu dringen. Dass daneben der Theologe Eckehart, als solcher durch die Vielzahl seiner lateinischen expositiones, sermones, collationes et cetera, in unvermindert hohem Ansehen stand und blieb, beweist seine endliche Berufung auf den Kölner Lehrstuhl des Ordens, den wichtigsten in dem Deutschland seiner Zeit. Er trat dies Amt an zu Beginn der zwanziger Jahre des neuen Jahrhun- derts. Er verwaltete es nicht lange mehr unangefochten. 1325 beginnt sich gegen ihn Geraune und Verdacht ketzerischer Leh- re zu verdichten. Der vom Orden bestellte Inquisitor Nikolaus von Straßburg sucht vergebens den Beklagten zu schützen, zu retten. Der Erzbischof von Köln, Heinrich von Virneburg, hält, im Bunde mit den eifersüchtigen Franziskanern, die Anzeige gegen den Meister bei Papst Johannes XXII. aufrecht. Franziska- nische Inquisitoren werden bestellt; sie verwerfen Meister Eckeharts Rechtfertigungsschrift von 1326. Sie lassen, planmä- ßig unversöhnlich, sein Treuebekenntnis zur Kirche vom Jahr 1327 nicht gelten. Der Prozess vor dem erzbischöflichen Ge- richt wird eingeleitet, der Meister protestiert, beruft sich auf sein Ordensrecht der unmittelbaren Verantwortung vor dem Papst. Aber wer ist Papst? Johannes, der in Avignon residiert, oder der soeben erwählte römische Gegenpapst Nikolaus V.? Vermutlich zu Beginn der innerkirchlichen Wirren und in deren Gefolge zögert sich der Prozess hin. 1329 trifft endlich die Ver- dammungsbulle aus Avignon ein. Aber den Betroffenen trifft sie nicht mehr. Meister Eckehart ist inzwischen gestorben. Die Auswirkungen seines Prozesses und seiner Verurteilung wen- den sich hinfort gegen seine hinterlassenen Schriften und deren Abschriften sowie gegen seine zum Teil wohl übertrotzigen An- hänger. Das Waldenserverhängnis zieht über Deutschland her- ein: Schriften wie Schriftenbesitzer, Bücher und Menschen, die von Glauben und Leben eckehartischer Artung zeugen, werden ausgerottet. Von Meister Eckehart sind uns, außer der Rechtfertigungs- schrift von 1326, meist nur ungenaue, wohl auch zweckhaft verfärbte Werkabschriften erhalten. Seit Beginn der Ecke- hartforschung vor über hundert Jahren steigerten sich eher noch die Klagen um den trostlosen Zustand der Überlieferung mit jedem neuen Fund, als dass sie zum Verstummen gekom- men wären. Dem nicht geringen Haufen der dem Meister da- mals zugeschriebenen Stücke das »Echte« und diesem wieder das »Richtige« abzugewinnen, blieb treuestes Bemühen. Es blieb nicht unbelohnt. Zusammen mit der wieder ans Licht ge- zogenen Rechtfertigungsschrift erlaubt die 1886 von dem Do- minikaner Denifle erstmals mitgeteilte Bulle Johannes’ XXII. von 1329 zuverlässige Echtheitsnachweise, jene überlieferten Schrif- ten anlangend, in welchen sich mehr oder minder wörtlich die beanstandeten oder verteidigten Sätze vorfinden. Heute sehen wir der kritischen Gesamtausgabe des erhalten gebliebenen Werkes, veranstaltet von der deutschen Forschungsgemein- schaft, mit berechtigten Erwartungen entgegen. Aber auch bis- her schon bestand Schulze-Maiziers Urteil zu Recht: »Wer sich hindurcharbeitet, erlebt die Unverwischbarkeit des schöpferi-