Nordrhein-Westfalische Akademie der Wissenschaften Geisteswissenschaften Vortrage· G 361 Herausgegeben von der Nordrhein-Westfalischen Akademie der Wissenschaften JOSEF ISENSEE Vom Stil der Verfassung Eine typologische Studie zu Sprache, Thematik und Sinn des Verfassungsgesetzes Westdeutscher Verlag 415. Sitzung am 16. Dezember 1998 in Dusseldorf Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz fiir diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhaltlich. ISBN 978-3-531-07361-3 ISBN 978-3-322-88223-3 (eBook) DOl 10.1007/978-3-322-88223-3 Aile Rechte vorbehalten © Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen/Wiesbaden, 1999 Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Bertelsmann Fachinformation GmbH. Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschiitzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des U rheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulassig und strafbar. Das gilt insbe sondere fiir Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen System en. Gedruckt auf saurefreiem Papier. Herstellung: Westdeutscher Verlag ISSN 0944-8810 Inhalt A. Stil und Sache der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Inkarnation des Rechts in Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 II. Stilmerkmale der Gesetzessprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 III. Gemeinverstandlichkeit des Verfassungstextes? .............. 9 B. Regelungs- und Sprachduktus des Grundgesetzes - Bestandsaufnahme ....................................... 11 I. Notwendigkeit differenzierender Betrachtung ............... 11 II. Stilelemente der Stammfassung des Grundgesetzes von 1949 . . .. 12 1. Praambel .......................................... 12 2. Grundrechtsteil ..................................... 14 3. Organisationsteil .................................... 18 4. Dbergangs- und Schluabestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 21 III. Das Sprachbild zwischen rechtlicher Genauigkeit und "ansprechender" Form .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 23 IV, Stilwandel und Stilbruch durch Verfassungsanderungen ....... 25 1. Technizitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 26 2. Hypertrophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27 3. Symbolische Verfassungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 33 4. Mutation der Rechtsverfassung zur Integrationsverfassung ............................ 36 C. Das Wort - Ratio und Magie ................................ 37 D. Thematik und Normqualitat des Verfassungsgesetzes . . . . . . . . . . . .. 39 I. Typus der demokratischen Verfassung ..................... 39 II. Themenkanon......................................... 41 1. Staats-und Regierungsform ........................... 41 2. Regeln der Rechtserzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 43 3. Grundrechte........................................ 44 III. Rahmencharakter des Verfassungsgesetzes .................. 45 1. Unterscheidung zwischen formeller und materieller Verfassung ............................... , 45 2. Keine Kodifikation des Staatsrechts ..................... 46 3. Beschrankung auf grundlegende Normen ................ 47 6 Inhalt 4. Fragment nach Plan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 50 IV. Spezifische Eigenschaften des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . .. 51 1. Normativitat ....................................... 51 2. Positivitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 52 3. Urkundlichkeit ..................................... 52 4. Vorrang ........................................... 53 5. Stabilitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 54 6. Einzigkeit der Verfassungsurkunde ..................... 55 7. Manko der Sanktion ................................. 56 E. Verfassung im Dienst rechtlicher und auBerrechtlicher Zwecke ..... 57 I. Klassische Muster - Rechtsinstrument, Volkskatechismus, politische Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 57 II. Zivilreligiose, volkserbauliche, staatsdidaktische Tendenzen deutscher Tradition .................................... 60 IV. Mutation des Grundgesetzes ............................. 64 1. Von der Rechtsverfassung zur Wertetafel . . . . . . . . . . . . . . . .. 64 2. Yom Programm der Integration zur Tagesordnung des Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 68 F. Verfassung als Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 71 G. Deformation der Verfassungsurkunde - unausweichlich? . . . . . . . . .. 74 A. Stil und Sache der Verfassung l. Inkarnation des Rechts in Sprache "Le style est l'homme meme" - wie der Sti!, so der Mensch selbst. Der Satz des Grafen de Buffon aus seiner Antrittsrede in der Academie Fran~aise 1753,1 zum geflugelten Wort geworden in der Fassung "Le style c'est l'homme", ver fuhrt geradezu zu einer Abwandlung auf unser Thema: Le style est la consti tution meme - der Sti!, das ist die Verfassung selbst. Damit ist schon die These vorgestellt, die nun zu begriinden und zu entfalten ist. Die Anwendung auf die Verfassung bricht freilich dem ehrwiirdigen Bon mot die elegante Spitze. Es verliert seinen BiB, seinen Witz - eben seinen Stil. Wenn der Aphorismus der letzte Ring einer langen Gedankenkette ist,2 so reicht die Gedankenkette nicht weit. Die Verfassung ist ein Text, und daB der Sti! zu erkennen gibt, wes Geistes Kind der Text ist, das ist eine Binsenwahr heit. Die Gedankenkette gerat sogar besonders kurz, wenn man bedenkt, daB es sich nicht urn einen literarischen Text handelt, sondern urn einen Gesetzes text. Die Differenz, die in der literarischen, desgleichen in der Umgangs- und in der Wissenschaftssprache klafft zwischen dem Wort als Zeichen und der Sache, die es reprasentiert, ist in der Gesetzessprache aufgehoben. Diese bezieht sich nicht auf einen Gegenstand, der auBerhalb ihrer selbst liegt. Viel mehr hat ihr Gegenstand, die Rechtsnorm, sich in ihr inkarniert. Die Rechts norm existiert nur im Wort. Das Wort spiegelt nicht eine auBere, vorgegebene Welt. Vielmehr konstituiert es eine eigene Welt: die des Sollens. Daher erlangt das Wort des Gesetzes spezifische Qualitat. Es steht fur die Sache des Rechts, ist somit authentisch und unverriickbar. In ihm verkorpert sich Autoritat, mutatis mutandis, vergleichbar jener Autoritat, die kanonische Schriften in einer Buchreligion besitzen. Das Gesetzeswort ist kraft des Inhalts, der sich in ihm verkorpert, verbindlich fur jeden, an den es sich rich- I Georges-Louis Leclerc Cornte de Buffon, Discours sur Ie style, prononce ai' Academie fran~aise, Ie jour de sa reception, Ie 25 aout 1753, zitiert nach Dictionnaire de citations fran~aises, Paris 1978, S. 520. 2 Marie von Ebner-Eschenbach, Aphorismen, in: Werke Bd. 3, Winkler-Ausgabe, Das Gemeinde kind, Novellen, Aphorismen, Miinchen 1978, S. 865. 8 Josef Isensee tet, daher notwendig offentlich und allgemein. Das Wort ist unentbehrlich. Recht, das sich nicht sprechen, schreiben und lesen laBt, kann auch nicht gelten. Der Text des Gesetzes lost sich ab von seinem Urheber und gewinnt eigen standige Bedeutung. Die politischen Absichten der Beteiligten am Gesetz gebungsverfahren gehen in diese Bedeutung nur ein, wenn und soweit sie sich im Wort hinlanglich deutlich zu erkennen geben und sich somit objektiviert haben. Heimliche Vorbehalte werden zunichte am Selbstand, den das Gesetzeswort gewinnt. Das Gesetz wird von seinen Anwendern beim Wort genommen. Damit kommt der objektive Gehalt des Textes zur Geltung, wie er sich dem Interpreten darstellt, der sich von der Vermutung der Vernunftigkeit leiten laBt. II. Stilmerkmale der Gesetzessprache Das moderne Gesetz hat seinen eigenen Stil.3 In semer idealtypischen sprachlichen Fassung ist es - sachlich, nuchtern, unrhetorisch; - abgezogen von der Wirklichkeit, die es ordnen will, und gegen sie ab- gesetzt: abstrakt also, und zwar so abstrakt, wie es die Natur des Rege lungssubstrats gestattet, urn den Preis der Unanschaulichkeit und der Bildlosigkeit; pragnant, befehlsklar, knapp, schmucklos; kategorisch, ohne Begriindung; folgerichtig in der Wortwahl; formelhaft, unter Verzicht auf Vielfalt und Abwechslung im Ausdruck (variatio non delectat); - gespeist aus dem Fachvokabular der Jurisprudenz; bezogen auf den Verstandnishorizont des Juristen als des letztlich maB gebenden Interpreten. Wenn der Stil nach Schopenhauer die »Physiognomie des Geistes" ist,4 so stellt sich der Geist des Gesetzes dem juris tisch ungeschulten Burger unver standlich, kalt, abweisend, abschreckend dar. Schon im 16. Jahrhundert tadelt 3 Zur Sprache des Gesetzes und zur Rechtssprache allgemein Hans Doile, Yom Scil der Rechts sprache, Tiibingen 1949, S. 32 ff.; Hans Schneider, Gesetzgebung, Heidelberg 21991, S. 247 ff. (Nachw.); Paul Kirchhof, Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, BeriinlNew York 1987. 4 Arthur Schopenhauer, Parerga und Paraligomena (1851), in: ders., Werke (hg. von Ludger Liitkehaus), Bd. V, Ziirich 1988, S. 455. Yom Sti! der Verfassung 9 Johann Fischart das "Tintendeutsch" der Rechtssprache. Die Sprache, die eigentlich verbinden und offnen sollte, sperrt dem Burger den Zugang zum Recht. Wie in Kafkas Parabel postiert sie sich als Turhuter vor das Gesetz. Just dieses Gesetz aber beansprucht, den Willen der Allgemeinheit zu verkorpern. Hier wird das Sprachdilemma der rechtsstaatlichen Demokratie deutlich, daB der Burger das Gesetz nicht versteht, das ihm Rechtssicherheit verheiBt und das sich aus dem Willen des Volkes legitimiert, dem er angehort. III. Gemeinverstandlichkeit des VerJassungstextes? Das Dilemma, so scheint es, greift nicht uber auf das hochste aller staatlichen Gesetze, die Verfassung. Kein abweisender Turhuter ist vor ihr postiert. Ihre Tore stehen weit offen und laden jedermann zum Eintreten ein. Die Eingangs passagen sind eingangig formuliert, gemeinverstandlich und einpragsam. Ihr Duktus, grundverschieden von dem des gewohnlichen Gesetzes, ist rhetorisch, feierlich, suggestiv. Das Grundgesetz wirbt geradezu urn Aufmerksamkeit und urn Zustimmung, wenn es seinen Geltungsanspruch proklamiert, wenn es die Rechte des Menschen und Burgers verkundet und die Grundlagen des Staates aufweist. Liegt im Stil vielleicht das Erfolgsgeheimnis des Grundgesetzes? Die Ver fassung der Bundesrepublik Deutschland genieBt Popularitat, wie sie kein son stiges Gesetz, aber auch keine andere Verfassung bisher erreicht hat. Freilich ist der Stil nicht sonderlich originell. Die sprachliche Form halt sich in den Traditionsbahnen der Verfassungsgesetze des 18. Jahrhunderts. Die beispiel lose Akzeptanz des Grundgesetzes griindet sicher nicht in seiner sprachlichen Form, sondern in der Sache, die es vertritt, in den Institutionen, die es gewahr leistet, und in der Wirksamkeit, die seine Institutionen in der Rechtspraxis erlangt haben, in seiner juridischen VerIaBlichkeit, nicht zuletzt aber in der eigentumlichen, postlapsarischen Gemutslage der Deutschen, die in der Ver fassung jene Identitat zu finden hoffen, die gliicklicheren Nationen in Geschichte, Religion, Kultur, Lebensstil geschenkt wird.5 Immerhin tragt der sprachliche Duktus das Seine bei zur Popularitat des Grundgesetzes. Jedermann meint, er verstehe von selbst, was im Grund gesetz stehe, ohne daB er eines juristischen Helfers bedurfe. Mag der unge schulte Leser auch nicht auf Anhieb jeden einzelnen Satz begreifen, so findet er doch genugend Stell en, die ihm sogleich einleuchten und ihm den Eindruck DazuJosef Isensee, Die Verfassung als Vaterland - Zur Staatsverdrangung der Deutschen, in: Armin Mohler (Hg.), Wirklichkeit als Tabu, Miinchen 1986, S. 11 ff. 10 Josef Isensee vermitteln, das Weitere werde sich auch noch auft un, wenn er sich nur etwas Miihe gebe. Wer niemals wagen wiirde, sich in einer zivil- oder steuerrecht lichen Frage zu Wort zu melden, redet in verfassungsrechtlichen Fragen mit. Wenn es sein muB, urteilt auch der Rechtslaie dariiber, ohne zuvor einen Kom mentar zu konsultieren, ob das Parlament "demokratisch" oder eine Behorde "rechtsstaatlich" prozediere und ob die Gewahr oder die Vorenthaltung staat licher Leistungen dem Gleichheitsgebot entspreche. Das Bundesverfassungs gericht sieht sich nicht nur der Kritik der juristischen Fachwelt ausgesetzt, sondern auch der Kritik der politischen Parteien, der Interessenverbande, der Massenmedien, der Normalbiirger in ihrer jeweiligen Lebenswelt, wenn es sich autoritativ auBert zu verfassungsrechtlichen Aspekten des Ehrenschutzes, der Abtreibung, der Sitzblockaden, der Bundeswehreinsatze, der Familienbe steuerung, des Kreuzes im Schulzimmer. Die Zunft der Juristen reagiert zwie spaltig auf diese Breitenwirkung der Verfassung. Die einen begriiBen die "offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" als Ausdruck lebendiger Demokratie,6 die anderen halten die "Demokratisierung der Verfassungsinter pretation", die allen Zugang gewahre, den Theologen, Philosophen, Soziolo gen, Politologen und Journalisten, fiir eine Dekadenzerscheinung: "Auflosung klarer Begriffe im Gerede."7 Dennoch ist das allgemeine, diffuse "Gerede" iiber die Verfassung vitaler Ausdruck ihrer Wirksamkeit. Die gesellschaftliche Verstandigung iiber den Inhalt der Verfassung ist ein konkludentes Verfahren ihrer Annahme und bestatigt ihre Geltung. Darin liegt eine anarchische Ten denz. Doch diese kann aufgefangen werden durch das staatliche Reprasen tationssystem, das letztverbindlich iiber die Auslegung der Verfassung ent scheidet. Droht die Sinnidentitat der Verfassung zu zerflieBen im Gewoge der Meinungen, so ist es Aufgabe der amtlichen Interpreten, sie zu festigen oder wiederherzustellen. Die Klarheit des Verfassungstextes besteht nur vordergrundig.8 Der Ein druck der Allgemeinverstandlichkeit verliert sich bei genauerer Betrachtung des ganzen Textes. Der naive Leser, der sich von der Praambel anziehen und yom Grundrechtsteil fesseln laBt, hat Miihe, die Aufmerksamkeit auch im Organisationsteil durchzuhalten. Wenn seine Aufnahmefahigkeit nicht schon im VII. Abschnitt bei den Gesetzgebungskatalogen nachlaBt und im VIII. bei 6 Peter Haberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: J2 1975, S. 297 ff.; ders., Verfassungsinterpretation als offentlicher ProzeB - ein Pluralismuskonzept, in: ders., Verfas sung als offentlicher ProzeB, Berlin 1978, S. 121 ff. 7 Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, Miinchen 21971, S. 69. 8 Vgl. Andreas Vofikuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion. Ein Beitrag zum Verfas sungshandwerk, in: AoR 119 (1994), S. 35 ff. (42): »vordergriindige Verstandlichkeit".