Staat – Souveränität – Nation Massimo Mori Hrsg. Vom Naturzustand zur kosmopolitischen Gesellschaft Souveränität und Staat bei Kant Staat – Souveränität – Nation Beiträge zur aktuellen Staatsdiskussion Herausgegeben von R. Voigt Netphen, Deutschland S. Salzborn Göttingen, Deutschland Weitere Bände in dieser Reihe: http://www.springer.com/series/12756 Zu einem modernen Staat gehören Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staatsvolk (Georg Jellinek). In Gestalt des Nationalstaates gibt sich das Staatsvolk auf einem bestimmten Territorium eine institutionelle Form, die sich über die Jahrhunder te bewährt hat. Seit seiner Etablierung im Gefolge der Französischen Revolution hat der Nationalstaat Differenzen in der Gesellschaft auszugleichen vermocht, die andere Herrschaftsverbände gesprengt haben. Herzstück des Staates ist die Souve ränität (Jean Bodin), ein nicht souveräner Herrschaftsverband ist kein echter Staat (Hermann Heller). Umgekehrt ist der Weg von der eingeschränkten Souveränität bis zum Scheitern eines Staates nicht weit. Nur der Staat ist jedoch Garant für Si cherheit, Freiheit und Wohlstand der Menschen. Keine internationale Organisation könnte diese Garantie in ähnlicher Weise übernehmen. Bis vor wenigen Jahren schien das Ende des herkömmlichen souveränen Natio nalstaates gekommen zu sein. An seine Stelle sollten supranationale Institutionen wie die Europäische Union und – auf längere Sicht – der kosmopolitische Welt staat treten. Die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zu weiterer Integration schwindet jedoch, während gleichzeitig die Eurokratie immer mehr Macht anzu häufen versucht. Die demokratische Legitimation politischer Entscheidungen ist zweifelhaft geworden. Das Vertrauen in die Politik nimmt ab. Wichtige Orientierungspunkte (NATO, EU, USA) haben ihre Bedeutung für die Gestaltung der Politik verloren. In dieser Situation ist der souveräne Nationalstaat, jenes „Glanzstück occidentalen Rationalismus“ (Carl Schmitt), der letzte Anker, an dem sich die Nationen festhalten (können). Dabei spielt die Frage nur eine unter geordnete Rolle, ob die Nation „gemacht“ (Benedict Anderson) worden oder ur sprünglich bereits vorhanden ist, denn es geht nicht um eine ethnisch definierte Nation, sondern um das, was Cicero das „Vaterland des Rechts“ genannt hat. Die „Staatsabstinenz“ scheint sich auch in der Politikwissenschaft ihrem Ende zu nähern. Und wie soll der Staat der Zukunft gestaltet sein? Dieser Thematik will sich die interdisziplinäre Reihe Staat – Souveränität – Nation widmen, die Mono grafien und Sammelbände von Forschern und Forscherinnen aus unterschiedlichen Disziplinen einem interessierten Publikum vorstellen will. Das besondere Anlie gen der Herausgeber der Reihe ist es, einer neuen Generation von politisch interes sierten Studierenden den Staat in allen seinen Facetten vorzustellen. Rüdiger Voigt Samuel Salzborn Massimo Mori (Hrsg.) Vom Naturzustand zur kosmopolitischen Gesellschaft Souveränität und Staat bei Kant Herausgeber Massimo Mori Universität Turin, Italien Staat – Souveränität – Nation ISBN 9783658151492 ISBN 9783658151508 (eBook) DOI 10.1007/9783658151508 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2017 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 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Lektorat: Jan Treibel, Stefanie Loyal Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Anschrift der Gesellschaft ist: AbrahamLincolnStrasse 46, 65189 Wiesbaden, Germany Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Massimo Mori Teil I Recht. Der Weg zur Souveränität 2 „Wohlgeordnete Freiheit“ . Der Aufb au der Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . 9 Wolfgang Kersting 3 Vom Naturzustand zur bürgerlichen Gesellschaft . Das Erbe von Hobbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Christine Bratu 4 Vom Naturzustand zur bürgerlichen Gesellschaft . Das Erbe von Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Günter Zöller Teil II Souveränität. Bestimmungen und Ambivalenzen 5 Innere Staatssouveränität: zwischen souveräner Unzwingbarkeit und Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Massimo Mori 6 Äußere Staatssouveränität: zwischen Völkerstaat und Völkerbund . . . . . 123 Massimo Mori V VI Inhalt Teil III Politik. Die Durchsetzung der Souveränität 7 Politik und Geschichte als Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Faustino Oncina Coves 8 Politik als Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Luca Fonnesu Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 BEMERKUNG Kant-Zitate werden im Text ausgewiesen . Zitiert wird nach der Akademie-Ausgabe der Gesammelten Schriften Kants, herausgegeben von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff . Die römische Zahl vor dem Komma bezeichnet den Band dieser Ausgabe; die Seitenangabe steht hinter dem Komma . Kants Werke werden nicht abgekürzt . Einzige Ausnahme: R = Reflexion/en Einleitung 1 Massimo Mori 1 Einleitung 1 Eine jüngere Geschichte Kants politische Philosophie blieb lange Zeit unberücksichtigt . Wie andere angren- zende Aspekte des kantischen Denkens, etwa die Rechts- und die Geschichtsphilo- sophie, wurde sie lange Zeit als ein marginaler, nicht vollständig in das transzen- dentale Denken eingebundener Bereich des Systems angesehen . Als Hermann Cohen, Karl Vorländer, Max Adler und andere zu Beginn des 20 . Jahrhunderts anfi ngen, Kants Denken im Rahmen politischer Überlegungen zu verwenden, bezogen sie sich auf seine moralischen, statt auf die historisch-politischen Werke . Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich das Bild Kants als eines theoretischen Vorbilds des Liberalismus zu festigen, das – wenngleich mit entgegengesetzter Bewertung – sowohl von liberaler als auch von marxistischer Seite geteilt wurde . Von liberaler Seite erblickte man in ihm einen Verteidiger des Rechtsstaats, der Lockes Denken fortsetzte und ergänzte, während die marxistische Strömung sein Denken auf das theoretische Paradigma des bürgerlichen Staates im Gegensatz zum wahrhaft demokratischen Modell Rousseaus zurückführte . Doch erst John Rawls Buch A theory of justice (1971) lenkte die Aufmerksamkeit endgültig auf die Potenzialitäten der kantischen Philosophie für die politische Forschung, obgleich es sich nicht unmittelbar mit Kants Staatslehre befasste . Dennoch wirkte Rawls Buch als Katalysator für das wachsende wissenschaft liche Interesse an Kants Staatsphilosophie in historischer wie in systematischer Hinsicht . Im Verlauf eines Jahrzehnts erschienen wichtige Monografi en zur politischen Th eorie (Reiss 1977; Riley 1983; Williams 1983), während der Weg für eine systematische Erforschung des kantischen Rechtsbegriff s in seinem Zusammenhang mit dem Staat und der Geschichte geebnet wurde (Kersting 1984) . Gleichzeitig führten diese Beiträge zu einer Aufwertung der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre – dem ersten Teil der Metaphysik der Sitten –, wo Kant sein rechtliches und politisches Denken 1 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2017 M. Mori (Hrsg.), Vom Naturzustand zur kosmopolitischen Gesellschaft, Staat - Souveränität – Nation, DOI 10.1007/978-3-658-15150-8_1 2 Massimo Mori am systematischsten dargestellt hat . Diese Schrift, die lange Zeit – genau wie die ganze Metaphysik – als ein lückenhaftes, verworrenes Alterswerk galt, rückte nicht nur in historischer und systematischer Perspektive, sondern auch mit Blick auf die philologische Rekonstruktion (Ludwig 1988) in den Mittelpunkt der Kantforschung . Um 1995, dem zweihundertjährigen Jubiläum des Erscheinens von Kants Schrift Zum ewigen Frieden, entstand schließlich eine umfängliche Forschungsliteratur, die zwar hauptsächlich um die Frage des Friedens und der internationalen Bezie- hungen kreiste, sich jedoch zwangsläufig auch auf das Problem der Staatphilosophie erstreckte . Bisweilen ging aus der Untersuchung des Ewigen Friedens die Erarbeitung einer systematischen Theorie der Politik hervor (Gerhardt 1995) . Insbesondere wurde dem Souveränitätsbegriff große Aufmerksamkeit geschenkt, was für die vorliegende Arbeit von besonderer Bedeutung ist . Die für die Definition der zwi- schenstaatlichen Beziehungen unabdingbare Anwendung dieses Begriffs auf den internationalen Bereich setzte offensichtlich zunächst eine Bedeutungsbestimmung der inneren Souveränität voraus . Diese Untersuchungen wirken bis heute nach . 2 Problemstellung Der vorliegende Band konzentriert sich auf die Themen der kantischen Staats- und Souveränitätsauffassung und will die Gesamtergebnisse der oben genannten Untersuchungen widerspiegeln . Dies wird dadurch unterstrichen, dass einige der Beiträge von Autoren verfasst wurden, die selbst einen bedeutenden Anteil an der Wiederentdeckung des juristischen und politischen Denkens Kants hatten . Aus Gründen der Darstellung wurde ein relativ einheitlicher Weg für die Präsentation dieser Ergebnisse gewählt, der die Gründe, die Entstehung, die Entwicklung und die zum Teil problematischen Resultate von Kants politischem Denken beschreibt . Die erste Abteilung untersucht die rechtlichen Voraussetzungen der kantischen Staatsauffassung, denn die Definition des Rechts geht derjenigen der Politik und des Staates voraus . Kant begreift das Recht als „wohlgeordnete Freiheit“, also als ein System der Vereinbarkeit der individuellen Freiheiten . Muss dieses System auf idealer Ebene durch die Vernunft bzw . genauer: durch die transzendentale reine Vernunft definiert werden, so muss seine Wirksamkeit durch eine staatliche Ge- setzgebung garantiert sein . Hier stellt sich das Problem, das in der naturrechtlichen Tradition, der Kant zugehörte, als Problem des Übergangs vom Naturzustand zur bürgerlichen Gesellschaft darstellte . Um diesen Übergang zu skizzieren, der die Funktion des Staates gegenüber den Untertanen/Bürgern betrifft, nimmt Kant auf zwei Vorbilder Bezug: auf Hobbes und Rousseau . Hobbes bezieht sich bei der Be- 1 Einleitung 3 schreibung des Übergangs vom Naturzustand zur bürgerlichen Gesellschaft auf das Grundkriterium der Sicherheit: Der Staat muss den andauernden Krieg abschaffen, der – wenigstens potenziell – im Naturzustand herrscht und das Leben aller, die darin verbleiben, bedroht . Rousseau, der Kant viel weitreichender beeinflusste als Hobbes, setzt dagegen auf das Kriterium der Freiheit und der Teilnahme am Staat . Sein Problem besteht darin, einen Staat zu bilden, der zwar über die notwendige Zwangsgewalt verfügt, um die Sicherheit zu garantieren, dem Individuum jedoch dieselbe Freiheit lässt, die es im Naturzustand genoss, bzw . eine noch größere Freiheit verleiht, da sie durch die Teilnahme an der von allen Bürgern geteilten souveränen Macht gesteigert wird . Die zweite Abteilung kreist um den Staatsbegriff, insbesondere um die staat- liche Souveränität, und setzt genau bei den Folgen der sich kreuzenden Einflüsse Rousseaus und Hobbes auf Kant an . Die unterschiedlichen Forderungen, von denen diese Autoren ausgehen, spiegeln sich nämlich wider in einer grundlegend anderen Auffassung des Staates (bzw . der bürgerlichen Gesellschaft, denn vorerst fallen die beiden Begriffe in eins) . Aus dem Sicherheitsbedürfnis ergibt sich das Grundmerkmal des Hobbes’schen Staates, nämlich die absolute Unbezwingbarkeit der souveränen Macht, die eine unverzichtbare Bedingung für die Ausschaltung jeder Konfliktgefahr zwischen den Parteien darstellt . Dagegen beinhaltet das Kriterium der politischen Freiheit bei Rousseau die Forderung nach Teilhabe des Volkes an der Souveränität, auch wenn das Volk nicht als Zusammenleben autonomer Individuen verstanden werden kann, sondern als die Gesamtheit des politischen Körpers . In heutigen Worten könnte man sagen, dass Hobbes dem Staat eine autoritäre Funktion zuweist, um die staatliche Einheit und Regierbarkeit zu gewährleisten, während bei Rousseau die Forderung nach demokratischer Macht- beteiligung überwiegt . In Kants Staatsauffassung kommen beide Forderungen zum Tragen . Die Forderung nach Sicherheit – oder Regierbarkeit dank einer autoritären Macht – äußert sich in der radikalen Leugnung des Widerstandsrechts . Dagegen kommt die Forderung nach Teilhabe des Volkes an der Souveränität, also nach demokratischer Mitbeteiligung, in der republikanischen Verfassungslehre zum Ausdruck . Nicht zufällig zeugen die verschiedenen Interpretationen von Kants politischem Denken von der Möglichkeit, das Schwergewicht auf den einen oder auf den anderen der genannten Aspekte zu legen . Da die Verwirklichung des positiven Rechts nach Kant auch den Bereich der internationalen Beziehungen einbeziehen muss, stellt sich das Problem, das Ver- tragsmodell, das Kant genau wie Hobbes und Rousseau zur Lösung der Staatsgrün- dungsfrage heranzieht, von der zwischenmenschlichen auf die zwischenstaatliche Ebene auszuweiten . Auch hier würde die Vernunft es fordern, dass die internati- onalen Beziehungen durch ein „peremptorisches“ Recht geregelt würden, welches
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