Vom Gesichtspunkt der Phänomenologie PHAENOMENOLOGICA COLLECTION PUBLIEE SOUS LE PATRONAGE DES CENTRES D'ARCHIVES-HUSSERL 26 RUDOLF BOEHM Vom Gesichtspul1k.t der Phänomenologie Comite de redaction de la collection: President: H. L. Van Breda (Louvain); Membres: M. Farber (Buffalo), E. Fink (Fribourg en Brisgau), A. Gurwitsch (New York), J. Hyppolite (Paris), L. Landgrebe (Cologne), M. Merleau-Ponty (Paris)t, P. Ricreur (Paris), K. H. Volkmann-Schluck (Cologne), J. Wahl (Paris); Secretaire: J. Taminiaux (Louvain). RUDOLF BOEHM Vom Gesichtspunkt der Pb änomenologie HUSSERL-STUDIEN MARTINUS NIJHOFF / DEN HAAG / Ig68 © I968 by Martinus Nijhott, The Hague, Netherlands Softcover reprint ofthe hardcover Ist Edition 1968 All rights reserved, including the right to translate or to reproduce this book or parts thereoj in any form ISBN-13: 978-94-0 I 0-3439-5 e-ISBN-13: 978-94-0 I 0-3437-1 001: 10.1007/978-94-010-3437-1 H enri Dussort, dem Philosophen und Freund, zum Gedächtnis VORWORT Es ist nicht abzusehen, wozu Husserl-Studien dienen sollen, wenn nicht von der Phänomenologie im Sinne Husserls eine Hilfe zu erwarten ist, einen Einblick zu gewinnen in das, was ist. Ein Ver such, Einblick zu gewinnen in das, was ist: so jedenfalls wird die erste berechtigte Antwort auf die Frage "Was ist Phänomenolo gie?" lauten müssen, wenn die Beschäftigung mit Phänomenolo gie und insbesondere mit Husserl-Studien nicht eben eine bloße Beschäftigung sein soll. Ist die Phänomenologie nun ein Versuch, Einblick zu gewinnen in das, was ist, so heißt das: ein Versuch neben anderen mehr, unter diesen ein eigenartiger, gegenüber diesen ein neuer. Was ist das Eigentümliche dieses neuen Versuchs, des Versuchs, Einblick zu gewinnen in das, was ist, auf dem Wege einer Phänomenologie? Was wäre der neue und eigentümliche Gesichtspunkt, von dem aus diese einen Einblick in das, was ist, zu gewinnen sucht? Husserl gibt die klare Auskunft: "Der Gesichtspunkt der Funktion ist der zentrale der Phänomenologie, die von ihm ausstrahlenden Untersuchungen umspannen so ziemlich die ganze phänomeno logische Sphäre, und schließlich treten alle phänomenologischen Analysen irgendwie in ihren Dienst als Bestandstücke oder Unter stufen";1 denn "die allergrößten Probleme sind die funktionellen Probleme, bzw. die der 'Konstitution der Bewußtseinsgegenständ lichkeiten.'" 2 Der zentrale Gesichtspunkt der Phänomenologie, welcher ihr eigentümlich ist, ist derjenige, der die Probleme der Konstitution der Bewußtseinsgegenständlichkeiten sichtbar macht. Was sind das für Probleme? 1 Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, I, 1913, s. 176. 2 Ebenda. VIII VORWORT Ihre Entdeckung geht, nach Husserl, auf Locke, Berkeley und Hume zurück. Es sind zunächst erkenntnistheoretische Probleme. Es sind, genauer gesagt, Skeptikerprobleme. Sie entstehen aus der Beobachtung, daß unsere vermeintliche Erkenntnis gerade dessen, was uns als objektiv an sich seiende Realität gilt, von Grund auf den Charakter einer Deutung, einer Interpretation, einer bloßen Auffassung von etwas als etwas hat. Von Grund auf: Empfundenes mag schlechterdings Gegebenes sein, aber Emp findung ist noch nicht Erkenntnis. Schon die Wahrnehmung je doch unterscheidet sich von der Empfindung und löst sich vom Empfundenen. Was sie erfaßt, ist schon nicht mehr schlicht Ge gebenes. Verschiedene Empfindungen geben Anlaß zu ein und derselben Wahrnehmung, wie etwa, wenn wir ein und denselben Gegenstand wahrnehmen, indessen wir die Augen, den Kopf und uns selber bewegen. Ganz gleiche Empfindungen liegen ganz ver schiedenen Wahrnehmungen zugrunde, wie etwa, wenn wir eine Figur sehen, und zuerst einen Menschen, sodann aber das Bild eines Menschen wahrnehmen und erkennen. In jeder Wahrneh mung muß unterschieden werden zwischen den Empfindungs daten - als ihrem primären Inhalt - und dem intentionalen Moment ihrer Auffassung, ihrer Auffassung als das und das vor stellend. Diese Auffassung ist Deutung und Interpretation der Empfindungsdaten: sie geht über das in ihnen Gegebene hinaus und ist durch sie nicht zureichend begründet. Haftet ihr ein Zug der Willkür an? Kann sie sich jemals ausweisen als notwendige Interpretation, richtige Deutung und rechtmäßige Auffassung? Was den Gegenstand einer so gekennzeichneten Wahrnehmung und Erkenntnis überhaupt betrifft: Kann von ihm je mehr mit vollem Recht behauptet werden als allenfalls, daß er im Bewußt sein sich bekundet, ihm sich auf diese oder jene Weise darstellt? Sonach wäre, was wir zu erkennen vermeinen, zumal gerade, was wir zu erkennen vermeinen als an sich seiende Realität, in Wahr heit etwas, "was sich in Bewußtseinsgestaltungen nur 'bekundet', sich z.B. durch sinnliche Erscheinungen bewußtseinsmäßig 'kon stituiert'." Hieraus spricht Husserls erster Begriff der Konsti 1 tution, dies ist ihr Problem, und dies und nichts anderes bietet die Konstitution der Bewußtseinsgegenständlichkeiten zuerst: ein Problem, und zwar, wie man sieht, ein Skeptikerproblem. 1 Ebeuda, S. II7. VORWORT IX Der zentrale Gesichtspunkt der Phänomenologie, der hiermit angezeigt ist, derjenige, von dem her die Probleme der Konstitu tion der Bewußtseinsgegenständlichkeiten sichtbar werden, ver steht sich nicht von selbst. Er wird gewonnen erst durch eine Fundamentalbetrachtung, welche eine phänomenologische Re duktion motiviert, die dann aber die Stellung jener Probleme auch unausweichlich notwendig macht. Ganz genau entsprechen ein ander jenes Problem der Konstitution und diese Methode der Reduktion. Der Reduktion "verfällt" genau das, was sich uns eben an unserer vermeintlichen Erkenntnis als problematisch er wies: ihre Prätention, Erkenntnis einer objektiv an sich seienden Realität zu sein. Das bedeutet nicht etwa, daß von einer Erkennt nis objektiv an sich seiender Realität nun gar nicht mehr die Frage ist, sondern ganz im Gegenteil, daß gerade dies die Frage ist, wie uns Erkenntnis objektiv an sich seiender Realität über haupt soll möglich sein können oder vielmehr - aber damit greifen wir nun schon vor - welchen Sinn wir, wenn anders die phänome nologische Reduktion unausweichlich ist, unserer Erkenntnis ob jektiv an sich seiender Realität, so wie wir sie zu besitzen ver meinen, geben dürfen und müssen. Zunächst ist die Methode der Reduktion, so wie die Stellung des Problems der Konstitution, erkenntnistheoretisch motiviert; und wie das Konstitutionsproblem, das Husserl insbesondere auf Berkeley zurückführt, ein Skeptiker-Problem, so ist die Reduk tionsmethode, die Husserl zuerst von Locke vorgezeichnet sieht, das Verfahren eines Skeptikers. So sagt Husscrl: "Das Neue der Cartesianischen und damit der ganzen neuzeitlichen Philosophie besteht darin, daß sie den Kampf gegen den Skeptizismus, den in der allgemeinen Entwicklungslage noch immer unüberwundenen, von neuem und in einem völlig neuen Geist aufnimmt, daß sie ihn wirklich radikal bei seinen letzten prinzipiellen Wurzeln zu fassen und von daher endgültig zu überwinden sucht ... : der tiefste Sinn der neuzeitlichen Philosophie ist der, daß ihr innerlich die Aufgabe zugewachsen ist, deren Triebkraft, sei es auch ungeklärt, sie immerfort in Bewegung setzt: nämlich den radikalen Subjekti vismus der skeptischen Tradition in einem höheren Sinn wahr zumachen." 1 Es ist kein Zweifel, daß es Husserls Meinung ist, eben die Phänomenologie und eine phänomenologische Philoso- 1 Erste Philosophie (1923/24), I, WW., Bd. VII, S. 60 f. x VORWORT phie seien berufen, diesen tiefsten Sinn der neuzeitlichen Philoso phie aufs reinste zu erfüllen. Und noch in seiner letzten Schrift, in der er übrigens sich von allen Cartesianischen Motiven am weitesten entfernt zu haben scheint, hält Husserl fest an diesem einen "originalen Cartesianischen Motiv": "durch die Hölle einer nicht mehr zu übersteigernden quasi-skeptischen e7r:0X~ hindurch zum Eingangstor in den Himmel einer absolut rationalen Philo sophie vorzudringen und diese selbst systematisch aufzubauen." 1 Die phänomenologische Fundamentalbetrachtung, auf Grund deren die Reduktion vollzogen wird, läßt sich leiten von dem ein fachsten Gedanken und Entschlusse, jederlei irgend anfechtbare Behauptung rückhaltlos und ohne Zögern preiszugeben, um eben dadurch sich zurückgeführt zu finden auf eine absolute Position, die preiszugeben schlechterdings nicht möglich ist. Insofern frei lich widerspricht Husserl Descartes - obschon selber in Carte sianischem Geist - mit Spinoza: "negando, nos liberum habere potestatem judicium suspendendi. Nam cum dicimus, aliquem judicium suspendere, nihil aliud dicimus, quam quod videt, se rem non adaequate percipere. Est igitur judicii suspensio revera perceptio, et non libera voluntas." 2 Hier auch findet die err:ox~ und Reduktion des Phänomenologen ihre Grenze und ihr Ziel: ange sichts einer apodiktischen Evidenz schlechthin adäquater Wahr nehmung steht es uns nicht mehr frei, uns des Urteils zu enthalten, die absolute Setzung des also Wahrgenommenen nicht zu voll ziehen, da hier in Wahrheit sogar von einem Aktvollzuge über haupt nicht mehr die Rede sein kann: der absoluten Evidenz sind wir notwendig passiv unterworfen - in wahrer "Subjektivität." 3 Absicht, Ziel und wirkliche Leistung der phänomenologischen Fundamentalbetrachtung, die zum voraus auf einen solchen Schritt zurück, Rückzug und Rückgang in eins, sich einläßt, aber doch zum voraus "im Dienste" der erst vom zentralen "Gesichts punkt der Funktion ausstrahlenden Untersuchungen" steht, ist eben die Gewinnung dieses Gesichtspunktes. Die Fundamental betrachtung der phänomenologischen Reduktion geht auf eine 1 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenolo gie, WW., Bd. VI, S. 78. 2 Ethica, I, Prop. 49, Schol. 3 Vgl. vom Verf.: Das Grundlegende und das Wesentliche, Den Haag, I965, S. 2I9 ff., sowie "Spinoza und die Metaphysik der Subjektivität," Zeitschrift für philosophische Forschung, 22 (I968), S. VORWORT XI absolute Gegebenheit zurück, deren adäquate Wahrnehmung veranschaulicht, was es wahrhaft heißt, den Forderungen eines Wissens und Erkennens im strengen Sinne zu genügen, um der gestalt und davon unsere vermeintliche Erkenntnis von objektiv an sich seiender Realität in ihrer Problematik sich abheben zu lassen, und somit, als "die allergrößten Probleme" "die funk tionellen Probleme, bzw. die der 'Konstitution der Bewußtseins gegenständlichkeiten'" erst zu Gesicht zu bringen. Als Gegenstand einer adäquaten Wahrnehmung, von dessen absoluter Setzung uns zu enthalten uns schlechterdings nicht freisteht, stellt Husserl im ersten Anhieb seines Hauptwerkes das "reine oder transzen dentale Bewußtseins" selbst in seiner Immanenz vor; von ihm hebt sich, als grundsätzlich nicht "wahrzunehmen in einer ad äquaten, das leibhaftige Selbst ohne jede Vermittlung durch 'Er scheinungen' gebenden Wahrnehmung," 1 alle transzendente Realität ab, bezüglich deren sich somit das Problem ihrer Kon stitution stellt. Von der phänomenologischen Fundamentalbetrachtung, welche den Rückgang auf das Immanente des absoluten Bewußtseins antritt, hängt alles ab, nämlich die Gewinnung des zentralen Gesichtspunktes der Phänomenologie durch Vollzug der phäno menologischen Reduktion. Aber sie ist bloß die Fundamental betrachtung. Der zentrale Gesichtspunkt der Phänomenologie "selbst" ist der der Konstitution der Bewußtseinsgegenständlich keilen, und das Problem ihrer Konstitution stellt sich bezüglich dieser als transzendenter. "Bloß phänomenales Sein des Tran szendenten, absolutes Sein des Immanenten" dieser Paragra 2 - phentitel aus der Fundamentalbetrachtung in Husserls Haupt werk bringt deren grundlegende These auf den Begriff. Aber wenn die Phänomenologie "Phänomenologie" heißt, so - ihrem zentralen Gesichtspunkt gemäß - im Hinblick auf das "bloß" phänomenale Sein des Transzendenten. Demgemäß heißen auch die Probleme der Konstitution der transzendenten Bewußtseins gegenständlichkeiten für Husserl die "im spezi/ischen Sinne transzendentalen Probleme." 3 So wäre es denn noch die Frage, ob nicht Heidegger irrte, als er 1 Ideen, a.a.O., S. 78. 2 Ebenda, S. 80. 3 Ebenda, S. 178.