ALFRED EBENBAUER Vom Begreifen der Bücher Festrede zur Eröffnung des neuen Verlagsgebäudes Springer-Verlag Wien GmbH 1991 Prof. Dr. ALFRED EBENBAUER o. Univ.-Professor ftir Ältere deutsche Sprache und Literatur am Institut ftir Germanistik Rektor der Universität Wien, Österreich In der Baskerville gesetzt und gedruckt bei Universitätsbuchdruckerei Adolf Holzhausens Nfg., Wien Buchbinderische Verarbeitung von G.G.Buchbinderei, Hollabrunn Textpapier: Zerkali-Bütten-Werkdruck raub, 125g/m2; geliefert von Papiergroßhandlung Josef Stiassny, Brunn am Gebirge © Springer-Verlag Wien 1991 Ursprünglich erschienen bei Springer-Verlag Wien N ew Yo rk 1991 ISBN 978-3-662-40712-7 ISBN 978-3-662-41194-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-662-41194-0 Alle Rechte vorbehalten Es war im Jahre 1854, als der 6gjährigejACOB GRIMM im Vorwort zum ersten Band des Deutschen Wörterbuches schrieb: im vorgerückten alter fühle ich, dasz diefaden meiner übrigen angifangenen oder mit mir umgetragenen bücher, die ich jetzt noch in der hand halte, darüber abbrechen. wie wenn tagelang feine, dichte flocken vomhimmelnieder fallen, bald die ganze gegend in umermesz lichem schnee zugedeckt liegt, werde ich von der masse aus allen ecken und ritzen auf mich andringender wörter gleichsam eingeschneit. zu weilen möchte ich mich erheben und alles wieder abschütteln [ ... ] . 1 Der Schnee der Wörter, poetischer als der greise GRIMM kann man nicht über die Poesie der Sprache reden. Doch Sprache ist nicht nur Wörter. Die Wörter gerinnen zu Texten, werden zu Mitteilungen und werden - seit es Schrift gibt - zu Büchern, immer wieder zu Büchern, tausenden und abertausend Büchern. Der "Lexikograph" GRIMM sitzt im Schnee der Wörter. Im Schnee der Bücher könnte er nicht gut sitzen. GRIMMs wunderbare Metapher funktioniert nicht, wenn es um Bücher geht, denn Bücher fallen nicht wie feine, dichte Flocken vom Himmel, sondern fallen uns auf den Kopf und erschlagen uns. Bei Büchern ist eher kriegerische Metaphorik am Platz. Als General Stumm in MusiLs Mann ohne Eigenschaften im Kapitel 100 in die Staatsbibliothek eindringt, um den bedeu tendsten Gedanken zu finden, sind ihm die Bücherreihen wie feindliche Linien, die freilich nicht schlimmer [sind] als eine Gar nisonsparade. Doch dann errechnet General Stumm, daß er zehntausend Jahre benötigen würde, um alle dreieinhalb Mil lionen Bücher der Bibliothek zu lesen, und da bleiben ihm die Beine auf der Stelle stecken. Auch lTALO CALVINO wählte, um den Gang eines (sei nes) potentiellen Buchkäufers in eine Buchhandlung zu be schreiben, kriegerische Bilder: Der Blickspur folgend bist du im Laden vorgedrungen, mitten durch die dichten Reihen der Bücher, Die Du Nicht Gelesen Hast, die dich finster anstarrten von Regalen und Tischen, um dich einzuschüchtern. Aber du weißt, daß du dich davon 5 nicht abschrecken lassen darfst, denn hektarweise erstrecken sich unter ihnen die Bücher, Von Deren Lektüre Du Absehen Kannst, die Bücher, Die Zu Anderen Zwecken Als dem der Lektüre Gemacht Sind ... So überwindest du rasch den ersten Verteidigungsring, und nun überfällt dich die Infanterie der Bücher, Die Du Bestimmt Gern Lesen Würdest Wenn Du Mehrere Leben Hättest Aber Leider Sind Deine Tage Eben Was Sie Sind. Mit einer raschen Bewegung schiebst du sie beiseite und stürzt dich auf die Phalanx der Bücher, Die Du Irgendwann Mal Zu Lesen Gedenkst ... Nach erfolgreicher Abwehr alt dieser Bücher dringst du vor bis unter die Türme der Festung, wo die Widerstand leisten: die Bücher, Die Du Schon Seit Langem Mal Lesen Wolltest, die Bücher, Die Du Seit Jahren Vergeblich Gesucht Hast, die Bücher, Die Etwas Behandeln Das Dich Gerade Beschäftigt [ ... ] Immerhin ist es dir gelungen, die endlose Zahl der aufgebotenen Streitkräfte auf eine zwar noch recht beachtliche, aber doch schon in endlichen Zahlen kalkulierbare Größe zu reduzieren ... 2 Der kühne Käufer wird Erfolg haben und nach Erobe rung aller Bücher-Verteidigungsringe sein Buch erwerben - selbstverständlich CALVINOs Wenn ein Reisender in einer Winter nacht. Die einzigen Waffen des Lesers sind Zielstrebigkeit, Ent scheidungsfreudigkeit und vor allem Entsagung. Er muß ge schlossenen Auges durch den Ansturm der Bücherheere, er muß der Gefahr durch Scheuklappen, wenn nicht gar durch selbstgewählte Blindheit trotzen. Die Fülle der Bücher erzeugt Angst, die Angst nämlich, falsch zu wählen. Die Fee, die Lebenszeit heißt, gibt uns zwar mehr als drei Lesewünsche frei, aber es sind doch nur einige wenige Wünsche angesichts des Universums, das wir Biblio thek nennen. joRGE LUis BoRGEs3 ist in seiner unendlichen, aus sechseckigen Galerien und sechseckigen Sälen gebauten Bibliothek von Babel im Begriff, nur ein paar Meilen von dem Sechseck, wo ich geboren ward, zu sterben. Der Mensch, so sagt BoRGES, ist der unvollkommene Bibliothekar ... Die universale Bibliothek aller 6 Bücher erweckte zunächst ein überwältigendes Glücksgeftihl: Alle Menschen wußten sich Herren über einen unversehrten und geheimen Schatz (S. 52). Aber auf die überschwengliche Hoffnungfolgte ganz natürliche Verzagtheit (S. 53). Was Wunder, wenn wir in unserer Verzagtheit nach Auswegen suchen und die Flucht ergreifen wollen? Es gibt nichts Schändlicheres als Bücherverbrennungen, und der Brand einer Bibliothek trifft uns ins Mark. Doch - Hand aufs Herz - hat sich nicht mancher von uns schon insgeheim gewünscht, daß alle die Bücher, die je geschrieben und gedruckt wurden, nicht da wären, daß wir die Chance hätten, alles noch einmal zu schreiben. Sind wir nicht alle bereits Absichtstäter von Bücherverbrennungen gewesen? Statt Bücherverbrennungen zu phantastieren, kann und konnte man auch über Bücherverbote sinnieren: PLATON wollte keine Büchervernichtung, er wollte Bücher erst gar nicht zulassen. Die Konservierung von Erinnerung erzeuge, so sagt er im Phaidros - ein Geschlecht von Scheinweisen, ein Geschlecht, das kein wahres Wissen mehr hat. 4 Und Faust wollte den Büchern entfliehen; er sehnt sich aus seinem Bücherhauj, aus seinem Kerker, um sich auf Bergeshöhn und Wiesen von allem Wissensqualm entladen gesund zu baden. Eine gemäßigtere Form der Bücherflucht ist die Bü cherbeschränkung. KARL PHILIP MoRITZ wollte noch eine "Bibliothek ftir den Menschen" einrichten, die mit fünfWer ken auskommen sollte (HoRAZ, HAMANN, MENDELSSOHN, LESSING, WIELAND). BoRGEs' wiederum phantasiert über den Sukkus aller Bücher, das Buch der Bücher. Es befindet sich in der Bibliothek von Babel, in diesem unendlichen Bücherkosmos: In irgendeinem Regal irgendeines Sechsecks ... mr#J es ein Buch geben, das Inbegriff und Auszug aller ist (S. 54) - die Summe all dessen, was je als Buch in die Welt trat. Es muß dieses Buch geben, aber keiner hat es noch gefunden, so wie auch MusiLS General Stumm 7 in der Riesenschar der dreieinhalb Millionen Bände der Staats bibliothek den einen bedeutendsten Gedanken der Menschheit nicht finden wird. Vielfach proklamiert man gegen die Bücherheere, gegen die Bücherinfantrien, gegen die Büchermassen das eine Kult buch - oder einige wenige Kultbücher: Motto: Was würde man auf die einsame Insel mitnehmen? GoETHEs Werther hat sich so entschieden: Du fragst, ob du mir meine Bücher schicken sollst? Lieber, ich bitte dich um Gotteswillen, laß sie mir vom Halse! Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angifeuret sein; braust dieses Her;: doch genug aus sich selbst; ich brauche Wiegengesang und den habe ich in seiner Fülle gifunden in meinem Homer. Für das Wissen mag es viele Bücher brauchen, für das Leben kann viel weniger genügen: Werther hat ein Buchfür sein Glück, Homer, dann eines für sein Unglück, Ossian, und schließlich einesfür seinen Tod, Emilia Galotti.5 Aber freilich, da ist viel Attitude dabei; der Antithese Buch - Leben, Bücherstaub - freier Atem haftet etwas Künstliches an, die Katze beißt sich immer wieder in den Schwanz. Zwar schreibt der große RoussEAU in seinem Emile: Ich hasse die Bücher, aus ihnen lernt man nur, über das ;::u reden, was man nicht kennt, und er preist den Schiflbrüchigen Robinson Crusoe, der auf seiner Insel mit der Erkenntnis der Welt von vorne beginnt und durch Erfahrung, nicht durch Bücher klug wird6 - aber DEFOES Robinson ist dann doch wieder ein Buch und Werthers HoMER ist ein Buch und RoussEAUS Emile ist ein Buch und der Werther GoETHEs selbst ist schließlich auch ein Buch. Und auch GRIMMS Schneeflockenwörterwurden in über roojahren gelehrter Sammelarbeit zu einer großen Reihe dicker Wälzer. Jedenfalls: Mit RoussEAU beginnt die Geschichte der prifanen Kultbücher .... Es ist kein Zrifall, daß sie gerade zu der Zeit entstehen, da sich die Zahl der gedruckten und gelesenen Bücher exponentiell erhöht. Die Verehrung des einen Buches begleitet den Überdruß an den vielen Büchern. 7 Die sogenannten Kultbücher wollen uns weisma- 8 chen, daß man sie - und nur sie - unter den Arm nehmen kann, um sie in der Laube, in der Landschaft zu lesen. Sie verkünden von RoussEAU bis zu RESSEs ,Steppenwolf den Ausbruch aus der bürgerlichen Ordnung. Das Zurück zur Natur und zum lebendigen Leben bedeutet auch ein Zurück zum lebendigen Wort.8 In Wahrheit sind das alles nur Fluchttendenzen und Fluchtphantasien eines schlechten Gewissens des Zuwenig-Le sen-Könnens. Aber es gibt kein Entkommen. Wir können nicht zurück in ein Goldenes Zeitalter des mündlichen Erzählens, als die Autorität eines Erzählers sich aus der Erfahrung des Lebens speiste, als Geschichtenerzähler und Gesellschaft eins waren, als sich der Erzähler seine Autorität von der Erfahrung des Todes lieh und Mensch und Welt noch zusammenge hörten.9 Wir fUrchten die Menge und Fülle der Bücher, aber wir lieben das Buch. Der Bücherangst korreliert die Liebe zum Buch, die Bibliophilie, die sich - eine nicht seltene Krankheit - zur Bibliomanie steigern kann. Es ist keine ungefährliche Krankheit, denn: Finden sich nicht alle Scheußlichkeiten und Erbärmlichkeiten dieser Welt auch in jenen Büchern, von denen wir nicht lassen können? Stehen nicht alle Anleitungen zu Verbrechen und Völkermord auch in Büchern? 10 Dennoch fallt es uns unendlich schwer, auch nur das minderwertigste oder gefährlichste Buch in den Müll werfen. Wir nehmen die geheimnisvolle Möglichkeit unorganischer Vermehrung von Büchern, ihre oft widerliche Fruchtbarkeit, ihre Tendenz, Wohnungen zu überwuchern/' in der Regel als etwas Posi tives, ja Wünschenswertes. Die Büchersucht wird kaum ge scholten, obwohl sich schon der hl. Augustinus gegen diese Variante der concupiscentia oculorum, der Augenlust, ausgespro chen hat. Warum das so ist? Vielleicht weil man sich selbst in den Mittelpunkt seiner Bibliothek und ihrer Ordnung brin gen will, vielleicht weil man die Begegnung mit sich selbst 9 fürchtet und zwischen sich und sich möglichst viele Bücher aufschlichten möchte, vielleicht auch weil man auf der ma nischen Suche nach wiederkehrender kindlicher Leseerfah rung ist oder einfach einer Unterart der Sammelwut erliegt. Wie dem auch sei: Büchersucht und Bücherflucht be gleiten die Geschichte unserer auf Büchern aufruhenden Kul tur und Zivilisation. Eine jahrhundertelange Buchkultur hat uns die Ehrfurcht vor dem Buch und die Angst vor den Bü chern gelehrt. Was ist es aber, das wir süchtig sammeln oder wovor wir fliehen, damit es uns nicht auf den Kopf fällt? Was ist das Medium Buch? * Menschliche Rede - individueller Ausdruck und Kom munikation, Poesie und Mitteilung - ist menschliches Denken und Fühlen, das Klang und Geräusch wird. Im Buch wird menschliche Rede gegenständlich und wird in eine sinnlich materielle Form gebracht. Das Buch ist in gewissem Sinn ma terialisierte menschliche Rede, es ist somit Gegenstand und Inhalt zugleich, Materielles und Geistiges, äußere Form und innerer Sinn. Unsere Sprache drückt das vortrefllich aus. Bücher kann und soll man begreifen und erfassen. Das heißt natürlich, man soll sie verstehen. Aber das Wort begreifen meint primär eine sinnliche Tätigkeit: ,berühren, betasten, befühlen, in die Hand nehmen'.12 Erst im Laufe der Sprachgeschichte ist aus einem sinnlichen Verbum des Tastens und Greifens das metaphorische Verstehen geworden (- das im Abstraktum der Begriffnurmehr aufGeistiges weist). Und nicht anders funk tioniert das Verbum fassen, erfassen: ich erfasse deine Hand, aber GoETHE möchte gern was auf der Erden und im Himmel ist erfassen. Beim Buch und beim Ergreifen und Erfassen von Büchern werden die beiden Bedeutungen von begreifen und erfassen, wird sinnliches und geistiges Begreifen/Erfassen eins. Das Buch ist 10