Katja Jung Volk – Staat – (Welt-)Gesellschaft Katja Jung Volk – Staat – (Welt-)Gesellschaft Zur Konstruktion und Rekonstruktion von Kollektivität in einer globalisierten Welt Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. Zugl. Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2009 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohneZustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson - dere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Ein- speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17063-3 Danksagung Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um eine überarbeitete Version der Dissertation, die im Oktober 2008 im Rahmen des Promotionsverfahrens an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereicht wurde. Im Rückblick auf die Jahre des Verfassens der Arbeit erweist sich die Selbstzurechnung des Geleisteten als markanter Punkt in der bildungsbürgerlichen Biographie. Den es allerdings ebenso augenblicklich wieder einzuschränken gilt. Denn eine derartige Arbeit kann eigentlich nicht allein bewältigt werden. Sie ist auf Unterstützung angewiesen und so ist hier der Ort (auch dies fügt sich einer bildungsbürgerlichen Praxis, die ihre Emo- tionen auf die Widmung reduziert, um weiterhin allein wissenschaftliche Neutralität zu ihrem Recht kommen zu lassen), an dem ich mich für die vielseitige und vielfälti- ge Unterstützung der vergangenen Jahre bedanken möchte. Mein Dank gilt zunächst und zuvorderst Professor Armin Nassehi, dem an seinem Lehrstuhl zweierlei gelingt: Eine Atmosphäre der Wissenschaftlichkeit herzustellen, die sich nie aufdrängt, aber immer zur Verfügung steht, und ein enormes Vertrauen in die noch zu entwickelnden wissenschaftlichen Fähigkeiten seines Gegenübers, in diesem Fall die meinen, zu setzen. Ebenfalls bedanken möchte ich mich beim Col- loquium Sociologicum für anregende Diskussionen verschiedener Stadien meiner Arbeit. Meinem Vater danke ich für sehr vieles, von dem hier nur wenig genannt werden kann: Für die finanzielle Unterstützung, ohne die alles nicht möglich gewe- sen wäre, für das unaufgeregte Verstehen alltäglicher Sorgen, für Korrekturarbeiten und besonders für das unerschütterliche Interesse eines Naturwissenschaftlers an der Undurchsichtigkeit und Andersartigkeit soziologischer Fragestellungen. Bei Christoph, Christiane und Luisa für eine Familie, in der nichts erklärt werden muss und doch alles besprochen werden kann. Bei Barbara und Wolfgang für jede Menge Theater; bei Hannelore, Erich und Klaus für eine zweite Familie; bei Susanne und Klara für eine Heimat in der Fremde; bei Marion, Florian und Marc für „glo- bal/local sers“; bei Manola für ein Dach über dem Kopf, als es gebraucht wurde; bei Christine und Alexander für das promotionsbegleitende Kulturprogramm; bei Jutta, Andrea und Ingo für ein Leben jenseits des Schreibtischs; bei Julia und Judith für alles Mögliche; bei Michael für lebensrettende Dienste als IT-Helpdesk und schließlich bei Peter, ganz grundsätzlich, für die „schiefe“ sozialwissenschaftliche Bahn, für die er – nachdrücklich wie immer – jegliche Verantwortung abstreiten wird. Diese Arbeit ist meiner Mutter gewidmet. Katja Jung München, im Oktober 2009 Inhalt 1 Einleitung ............................................................................................... 13 2 Zur Genese des modernen Volksbegriffs .............................................. 29 2.1 Begriffsgeschichtliche Herleitung: Der mittelalterliche Volksbegriff .. 29 2.2 Theoriengeschichtliche Herleitung .......................................................... 34 2.2.1 Der Volksbegriff in der frühen Neuzeit .................................... 35 2.2.1.1 Niccolò Machiavelli: Staatsräson und das Politische als Bereich eigener Logik ........................................... 35 2.2.1.2 Jean Bodin: Staat, Souveränität und Recht .............. 43 2.2.2 Der Volksbegriff in der Vertragstheorie .................................... 50 2.2.2.1 Thomas Hobbes: Der Staat als Rechtsstaat ............. 50 2.2.2.2 John Locke: Der Schutz vorstaatlicher Eigentumsrechte ......................................................... 56 2.2.3 Der moderne Volksbegriff ........................................................... 61 2.2.3.1 Jean-Jacques Rousseau: Gemeinwille und Volkssouveränität ........................................................ 61 2.2.3.2 Emmanuel Sièyes: Nation und Verfassung ............. 66 Exkurs I: Nation – Bedeutungskontexte einer Begrifflichkeit ......................... 72 2.3 Fazit: Das Volk als Handlungssubjekt seiner selbst ............................... 76 3 Das Volk in Zeiten der Globalisierung .................................................. 81 Exkurs II: Die Singularität der Weltgesellschaft ................................................ 82 3.1 Die Hauptachsen gesellschaftlicher Selbstbeschreibung in der Globalisierung ............................................................................................. 85 3.1.1 Der epochale Wandel der Globalisierung .................................. 85 3.1.2 Der autonome, irreversible Status der Globalisierung ............. 87 8 Inhalt 3.1.3 Die soziostrukturelle (Selbst-)Verunsicherung der Globalisierung ............................................................................... 88 3.1.4 Die epistemologische (Selbst-)Verunsicherung der Globalisierung ............................................................................... 89 3.2 Globalisierung und Demokratie ............................................................... 90 3.2.1 Die Herausforderung des demokratischen Selbstverständnisses der Moderne .............................................. 90 3.2.1.1 Von der Handlungseinheit des Volks zur Pluralisierung der Akteure ......................................... 90 3.2.1.2 Von rechtlicher Selbstvermittlung zu dezentralen Verhandlungsnetzwerken ........................................... 91 3.2.1.3 Von der selbstbestimmten Gestaltung des Sozialen zur Steuerung funktionaler Sachzwänge .................. 93 3.2.1.4 Vom Gemeinwohl zur Fairness ................................ 94 3.2.2 Vom Gleichheitsideal zur Chancengleichheit ........................... 95 3.2.3 Vom Vertrauen in einen gestaltungsoffenen Zukunftshorizont zur vergegenwärtigten Zukunft .................. 96 3.3 Globalisierung und Verfassung ................................................................ 96 3.4 Fazit: Die Globalisierung als Verabschiedung von der Selbstkonstitution des Volks ..................................................................... 99 4 Die Perspektive von Materialismus und historischer Schule .............. 103 4.1 Von Status zu Eigentum: Zur politischen Brisanz der sozialen Frage im Zeitalter der Industrialisierung ............................................... 103 4.1.1 Eine neue Wissenschaft: Wissen der Praxis ............................ 107 4.1.2 Die Politisierung gesellschaftlicher Interessenlagen und die Radikalisierung politischer Gleichheitsansprüche ............ 113 4.1.2.1 Die revolutionäre Wiedereinholung ungleicher materieller Bedingungen ........................................... 113 4.1.2.2 Zur Auflösung politischer und sozialer Gegensätze in der menschlichen Gemeinschaft ... 118 4.1.3 Eigentum als individuelle Unfreiheit – Eigentum als individuelle Freiheit .................................................................... 125 4.1.4 Geschichte der Praxis und Praxis der Geschichte .................. 128 4.1.5 Zum Praxischarakter des Wissens: Wissenschaft zur Revolution und Wissenschaft zur Reform .............................. 133 Inhalt 9 4.2 Von Eigentum zu Wissen: Die Vorherrschaft kognitiver Erwartungen in der post-industriellen Gesellschaft ............................ 137 4.2.1 Zur soziostrukturellen Bedeutung von Wissen in der post-kapitalistischen Gesellschaft ............................................. 138 4.2.2 Emanzipation durch Wissen und Wissen durch Emanzipation ................................................................... 143 4.2.3 Die wechselseitige Verschlungenheit der Zukunft des Wissens und des Wissens der Zukunft ............................. 144 4.2.4 Eine Soziologie der post-industriellen Gesellschaft: Das Ende gesellschaftswissenschaftlicher Großentwürfe ............. 146 4.3 Fazit: Die Allgemeinheit der materiellen und symbolischen Bedingungen .............................................................................................. 147 5 Die Perspektive des soziologischen Positivismus’ .............................. 153 5.1 Von Eigentum zu Moral: Zur Bedingungsmöglichkeit differenzierter Gesellschaften an der Schwelle zum modernen Wohlfahrtsstaat ...... 153 5.1.1 „Der Soziologe als Moralist“ ..................................................... 158 5.1.2 Die selbststabilisierende Wirkung moralisch integrierter Gesellschaften ............................................................................. 162 5.1.2.1 Individuum und Gesellschaft als gegenseitiger Bedingungs- und Steigerungszusammenhang ....... 162 5.1.2.2 Von mechanischer zu organischer Solidarität ....... 167 5.1.2.3 Solidarität durch Interaktion: Die integrative Wirkung professionalisierter Milieus ...................... 172 5.1.3 Sozialisation des Individuums und Internalisierung gesellschaftlicher Moralvorstellungen ...................................... 174 5.1.4 Zur evolutionären Steigerungsfähigkeit von Solidarität ......... 177 5.2 Von Moral zu Kultur: Ethisierung der Ästhetik in der postmodernen Gesellschaft ..................................................................... 180 5.2.1 Ethisierung von Anerkennung als Chance institutioneller Wiedereinholung entpolitisierter Verhältnisse ........................ 181 5.2.2 Die selbstvergessenen Protagonisten der Postmoderne: Der Tod des Selbst als Wiedergeburt im Anderen ................. 189 5.2.3 Die Zeit der Postmoderne: Zur emotionalen Wiedergewinnung einer verunsicherten Zukunft ................... 191 5.3 Fazit: Die Moralisierung des Sozialen und die Ethisierung der Kultur .................................................................................................. 192 10 Inhalt 6 Die Perspektive von Strukturfunktionalismus und Systemtheorie ..... 197 6.1 Von Moral zu Funktion: Zur Stabilität hochkomplexer Gesellschaften im 20. Jahrhundert ......................................................... 197 6.1.1 Eine voluntaristische Handlungstheorie: Zur rekursiven Stabilität von Normen, Sinn und Handlung ............................ 201 6.1.2 Zum Praxisaspekt normativer Integration als Konstitutionsbedingung differenzierter Gesellschaften ........ 206 6.1.2.1 Soziale Auseinandersetzungen als Bewährungs- und Steigerungshorizont von Integration .............. 206 6.1.2.2 Zur Schematisierung von Gesellschaften als selbstgenügsame Funktionskomplexe .................... 208 6.1.3 Sozialisation des Persönlichkeitssystems durch Internalisierung institutionalisierter Normhintergründe ........ 218 6.1.4 Die evolutionäre Selbsthervorbringung funktionaler Adaption an gesteigerte Komplexitätsbedingungen ............... 223 6.2 Die systemtheoretische Verabschiedung vom integrativen Fokus soziologischer Beschreibung ....................................................... 227 6.2.1 Der Bruch mit der soziologischen Tradition I: Die Gesellschaft als soziales System ......................................... 228 6.2.2 Der Bruch mit der soziologischen Tradition II: Funktionale Methode ................................................................. 232 6.2.3 Der Bruch mit der soziologischen Tradition III: Das Ende des Primats des Politischen ..................................... 234 Exkurs III: Zum Primat des Politischen bei Carl Schmitt ............................. 239 6.2.4 Zur Hartnäckigkeit nationaler Selbstbeschreibung ................ 243 6.3 Von Funktion zu Risiken: Die subpolitische Wiedereinholung einer riskanten Gegenwart ....................................................................... 257 6.3.1 Die Subpolitisierung des Politischen ........................................ 258 6.3.2 Das globalisierte Individuum: Der Einbruch des Subpolitischen in die privaten Lebensbahnen ......................... 262 6.3.3 Riskante Zukunft: Nebenfolgen und ihre Nebenfolgen ........ 264 6.3.4 Eine „Soziologie der Globalisierung“: Die Rekonstruktion der Gesellschaftswissenschaft als kritisches Projekt ............. 266 6.4 Fazit: Das integrierende Moment gesellschaftlicher Komplexitätssteigerung und globaler Risikolagen ............................... 268 Inhalt 11 7 Zur Rekonstruktion von Kollektivität in einer globalisierten Welt .... 273 7.1 Post-, reflexiv, vielfältig, verwoben, vor- oder modern? ..................... 273 7.2 Wandel der Gesellschaftsstruktur oder Wandel gesellschaftlicher Selbstbeschreibung? ................................................................................. 280 Bibliographie ............................................................................................... 293 1 Einleitung Begriffe wie Volk, Nation oder kollektive Identität sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu neuer Prominenz gekommen. Zerfalls- und Unabhängigkeitsprozes- se im Zuge der Auflösung des Ostblocks, ethnische bzw. ethnisch-religiöse Konflik- te auf dem afrikanischen Kontinent und dem Balkan, Multikulturalismus- und Staatsbürgerschaftsdebatten in Europa und den USA und nicht zuletzt die Frage nach der Finalität der Europäischen Union führten in den 1990er Jahren zu einem erneuten Aufflammen der Begrifflichkeiten in Wissenschaft, Politik, Recht und Medien. So unterschiedlich diese Auseinandersetzungen auch ausfielen und deren Konsequenzen zu erdulden waren bzw. bis heute sind, so ähnlich der gemeinsame Problembezugspunkt, was es denn mit Nation und Volk, mit Demokratie und Selbstbestimmung grundsätzlich auf sich habe. Während sich die Beantwortung dieser Frage in der modernen Geschichtsschreibung in der Regel als Verweis auf Säkularisations-, Rationalisierungs- und Individualisierungsprozesse modelliert, die in der Herauslösung einer spezifischen Logik des Politischen aus dem Universal- zugriff des Religiösen die Geburtsstunde einer sich selbst aufklärenden Gesellschaft sieht, scheint exakt das im Kontext von Entwicklungen, die heute unter dem Begriff der „Globalisierung“ zusammengefasst werden, zusehends an Bedeutung zu verlie- ren. Diese Aussage gilt es insofern zu qualifizieren, als damit nicht gemeint ist, dass die genannten Semantiken keine Verwendung mehr finden oder gänzlich unver- ständlich geworden sind – im Gegenteil. Gemeint ist damit jedoch jene diffuse Endzeitstimmung, die sich stets breitmacht, sobald die Sprache auf Demokratie, Nation, Volk, Staat, kollektive Identität, Verfassung oder nationalökonomische Ordnungsmodelle kommt. Mag sich die Reflexion in Wissenschaft, Politik, Öko- nomie, Recht oder Medien auch bei weitem nicht darüber einig sein, ob es sich dabei um soziale Ordnungskonzepte und Beschreibungskategorien einer längst vergangenen Ära handelt oder ob deren Bedeutung und Wirksamkeit nach wie vor ungebrochen ist, so fällt doch auf, dass sich Debatten kaum mehr jenseits dieser Fragestellung thematisieren lassen. Die Welt scheint unaufhaltsam auf einen Epo- chenwandel zuzusteuern, der die althergebrachte Ordnung des Sozialen zumindest fragwürdig, wenn nicht ganz und gar überflüssig zu machen droht. Die Gegenwart verliert darin ebenso rapide das Vertrauen in die effektive Gestaltbarkeit und Steue- rungsfähigkeit ihrer politischen, ökonomischen, rechtlichen, kulturellen, wissen- schaftlichen oder pädagogischen Belange wie mit dem Nationalstaat ihre zentrale Institution. Oder wie Armin Nassehi so treffend formuliert hat, „(...) scheint sich