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Vincent van Gogh in der Krankheit: ein Beitrag zum Problem der Beziehung zwischen Kunstwerk und Krankheit PDF

38 Pages·1926·2.18 MB·German
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Preview Vincent van Gogh in der Krankheit: ein Beitrag zum Problem der Beziehung zwischen Kunstwerk und Krankheit

Grenzfragen des Nerven-= und Seelenlebens Begründet von Hofrat Dr. L. Löwenfeld und Dr. H. Kurella Herausgegeben von Prof. Dr. Kretschmer, Marburg a. L. =========== =========== Heft 12S Vincent van Gogh in der Krankheit ein Beitrag zum Problem der Beziehung zwischen Kunstwerk und Krankheit von Dr. W alther Riese Privatdozent an der Universität Frankfurt a. M. Mit 6 Abbildungen Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH · 1 9 2 6 Vincent van Gogh in der Krankheit ein Beitrag zum Problem der Beziehung zwischen Kunstwerk und Krankheit von Dr. W alther Riese Privatdozent an der Universität Frankfurt a. M. Mit 6 Abbildungen Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH 1926 ISBN 978-3-662-40492-8 ISBN 978-3-662-40969-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-662-40969-5 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen vorbehalten. Meiner Frau Inhalt. Seite 1. Versuch einer klinischen Analyse 9 2. Über die Möglichkeit eines Stilwandels 20 3. Versuch einer psychopathalogischen Analyse 34 Die Frage, an welcher Art geistiger Erkrankung Vincent van Gogh ge litten habe, hat mehr als nur rein pathographische Bedeutung. Jaspers1, welcher van Gogh für einen Schizophrenen hält, meint gerade hier jene neuen Kräfte zu spüren, die auf dem Boden der Krankheit gedeihen; es sei "nicht nur eine durch die Erregung vielleicht gesteigerte Produktivität, die auch zur Entdeckung neuer Mittel führt, welche dann der allgemeinen künst lerischen Sprache zufließen, sondern es treten auch neue Kräfte auf, die ihrerseits objektive Gestalt gewinnen." Wir haben in unserem ersten Versuch über Vincent van Gogh2 die Natur der Psychose nicht näher gewürdigt; kam es uns doch nur darauf an, das fragwürdige und zweifelhafte eines Unternehmens aufzuzeigen, welches den Stilwandel des Künstlers aus seiner geistigen Erkrankung herleiten will. Wir haben uns dabei - obwohl wir einige Zweifel an der Richtigkeit der von Jaspers gestellten Diagnose schon damals nicht unterdrücken konnten -auf den von Jaspers eingenommenen Standpunkt gestellt und an der schizo phrenen Natur der Erkrankung van Goghs festgehalten. Die längere Beschäfti gung mit dieser Materie und wiederhohes Studium des vorliegenden Akten materials, zumal der in den Briefen Vincents an seinen Bruder Theo3 enthaltenen Selbstberichte, ließ uns schließlich an der Richtigkeit der Jasperssehen An nahme einer Schizophrenie irre werden. Es ist aber klar, daß die von Jaspers gerade der Schizophrenie zuerkannte zentrale Bedeutung für das Auftreten eines neuen, durch Krankheit bedingten Stils fraglich werden muß, wenn diese Auffassung der Erkrankung des Vincent van Gogh nicht unbedingt aufrecht erhalten werden kann. Bevor wir aber die hieraus sich ergebenden Folgerungen betrachten, wollen wir uns nunmehr dem eigentlichen Krankheitsvorgang zuwenden: 1. Versuch einer klinischen Analyse. Über die dem Ausbruch der Erkrankung unmittelbar vorauf· gehende Zeit und den Ausbruch der Psychose selbst besitzen wir eine Schilderung von Gauguin4, der um diese Zeit einige Monate mit van Gogh in Arles zusammenlebte. Diese Aufzeichnungen Gauguins sind nicht ganz tendenzfrei: sie sollten insbesondere dem Zwecke dienen, die gänzliche Unschuld Gauguins an dem Ausbruch der Erregung des Freundes zu erweisen. Wir entnehmen ihnen daher nur das rein tatsächliche: "In der letzten Zeit meines Aufenthalts wurde Vincent außerordentlich aufbrausend und laut, dann still. Ich überraschte Vincent an einigen Abenden, als er aufstand und an mein Bett kam. 1 Stdndberg und van Gogh, Bd. 5 der Arbeiten zur angewandten Psychiatrie. Ernst Bircher Verlag Bern. 2 Über den Stilwandel des Vincent van Gogh, Zeitschr. f. d. ges. Neuro!. u. Psychiatrie Bd. 98, H. rj2. 1925. 8 Vincent van Gogh, Briefe an seinen Bruder. 2 Bde. Berlin, Paul Cassierer, 1914. ' Vincen t van Goghs Wahnsinn und Ende. Genius 1919. 10 Aufzeichnungen Gauguins. Welchem Umstand soll ich mein Aufwachen m diesem Augenblick zu schreiben? Immer genügte es, ihm sehr fest zu sagen: "Was fehlt Ihnen, Vinccnt?" Und er ging wieder wortlos zu Bett und fiel in bleiernen Schlaf. Während ich ein Stilleb~n - Sonnenblumen - das er so sehr liebte, malte, kam mir der Gedanke, ihn zu porträtieren. Als das Porträt fertig war, sagte er mir: "Ja, das bin ich, aber als Wahnsinniger." Wir gingen an demselben Abend ins Cafe. Er trank einen leichten Absinth. Plötzlich warf er mir Glas und Inhalt an den Kopf. Ich wich dem Wurfe aus, packte ihn unter den Arm, verließ das Cafe, kreuzte den Viktor-Hugo Platz, und wenige Minuten später lag Vincent in seinem Bett, WO er nach einigen Sekunden einschlief und erst am nächsten Morgen erwachte. Beim Aufwachen sagte er sehr ruhig: "Lieber Gauguin, ich erinnere mich dunkel, Sie gestern beleidigt zu haben." "Ich verzeihe Ihnen gern von Herzen, aber die Szt>ne von gestern könnte sich \Viederholen, und wenn ich getroffen würde, könnte ich die Herrschaft über mich verlieren und Ihnen an die Kehle gehen. Darum gestatten Sie mir, daß ich an ihren Bruder schreibe, um ihm meine Rückkehr anzuzeigen." Mein Gott, welch ein Tag! Gegen Abend hatte ich mein Essen gerichtet und spürte das Bedürfnis, mich allein ein wenig im Duft der blühenden Lorbeerbäume zu ergehen. Schon hatte ich fast den Viktor-Hugo-Platz ganz überschritten, als ich hinter mir einen wohlbekannten leichten, schnellen und hastigen Schritt hörte. Ich wandte mich gerade in dem Augenblick um, als Vincent sich, ein offenes Rasiermesser in der Hand, auf mich stürzte. Die Macht mt>ines Blickes muß in diesem Augen blick sehr stark gewesen sein, denn er hielt inne, und gesenkten Hauptes lief er in der Richtung nach Hause fort. War ich damals feige, hätte ich ihn nicht entwaffnen und zu berul>igen suchen sollen? Häufig hab::: ich mein Ge\Vissen befragt und habe mir keinen Vorwurf gemacht. Werfe, wer will, den ersten Stein auf mich. Kurz entschlossen ging ich in ein gutes Arier Gasthaus, fragte nach der Zeit, nahm ein Zimmer und legte mich zu Bett. Aufgeregt wie ich war, schlief ich erst gegen 3 Uhr morgens ein und er wachte ziemlich spät gegen halb acht. Als ich auf den Platz kam, sah ich einen großen Menschcnauflauf. Gendarmen standen vor unserem Haus und ein kleiner Herr in steifem Haut, der Polizei kommissar. Folgendes war geschehen. Van Gogh ging nach Hause und schnitt sich augenblicklich das Ohr un mittelbar am Kopfe ab. Er muß etliche Zeit damit verbracht haben, das Blut zu stillen, denn am andern Morgen lagen auf den Flicsen der beiden unteren Räume eine Menge von feuchten Tüchern. Das Blut hatte die beiden Zimmer und die Treppe, die zu unserem Schlafzimmer führte, besudelt. Als er fähig war, auszugehen, begab er sich, den Kopf tief in eine baskische Mütze gehüllt, gradwegs in ein Haus, wo man, wenn man auch niemand kennt, Bekanntschaften schließen kann, und gab dem Wächter sein Ohr, das er fein gesäubert und in einen Briefumschlag verschlossen hatte. "Hier, zur Er innerung", sagte er, eilte dann fort, ging nach Hause, legte sich zu Bett und Aufzeichnungen Gauguins. 11 schlief ein. Indessen war er achtsam genug, die Läden zu schließen und eme brennende Lampe nahe dem Fenster auf den Tisch zu stellen. Zehn Minuten später war die ganze den Freudenmädchen eingeräumte Straße in Bewegung und man klatschte über das Ereignis. Ich hatte keinerlei Ahnung von alledem, als ich die Schwelle unseres Hauses betrat und der Herr in steifem Hut mir in mehr als strengem Ton sagte: "Was haben Sie, Herr, aus Ihrem Freunde gemacht?" -"Ich weiß nicht." "Doch Sie wissen es sehr wohl . . . Er ist tot." Ich wünsche keinem Menschen einen solchen Augenblick, und ich brauchte Minuten, um wieder denken und mein Herzklopfen unterdrücken zu können. Wut, Empörung, Schmerz und auch die Schande all dieser Blicke, die mich ganz zerrissen, erdrückten mich, und nur stammelnd sagte ich: "Gut, mein Herr. Gehen wir nach oben und reden wir dort weiter." - Vincent lag gan2; in Decken verkrochen zusammengekauert wie ein Jagdhund im Bett. Er schien ohne Leben. Leise, ganz leise tastete ich seinen Körper ab, dessen Wärme zuverlässig sein Leben bewies. Dies bedeutete für mich das Wiedererwachen meines Verstandes und meiner Energie. Flüsternd sagte ich zum Polizeikommissar: "Wollen Sie, Herr Kommissar, bitte, diesen Menschen recht vorsichtig aufwecken, und ihm, fragt er nach mir, bedeuten, ich sei nach Paris gereist; mein Anblick könnte ihm vielleicht ver· hängnisvoll werden." Ich muß zugeben, daß der Polizeikommissar von nun an so zuvorkommend wie möglich sich benahm und verständigerweise einen Arzt und einen Wagen holen ließ. Nach seinem Erwachen verlangte Vincent nach seinem Freunde, seiner Pfeife und seinem Tabak, und dachte sogar daran, die untenbefindliche Kasse mit unserem Geld zu erbitten. Zweifelsohne ein Verdacht! Dieser aber be rührte mich kaum, der ich schon gegen alles Leid gefeit war. Vincent wurde ins Krankenhaus überführt, wo seine Gedanken alsbald nach seiner Ankunft sich wieder verwirrten . . . " Später hat dann van Gogh bekanntlich selber den Weg in die Irrenanstalt gesucht. Hier hoffte er, unbehelligt von den technischen Belastungen eines noch dazu wirtschaftlich unfreien und äußerst gedrückten Lebens und geborgen vor den ihn und andere gefährdenden Ausbrüchen seiner unberechenbaren Krisen seiner künstlerischen Sendung dienen zu können. Die Aufzeichnungen über den Krankheitsverlauf während der Dauer seines Aufenthaltes in a der Anstalt St. Remy (Asile d'Alienes de Saint-Paul de Mausole, Saint Remy de Provence) sind bis heute unbekannt und unveröffentlicht geblieben. Ich verdanke es der großen Liebenswürdigkeit des jetzigen ärztlichen Leiters dieser Anstalt, Herr Kollegen Edgar Leroy1, diese Aufzeichnungen hier erstmals 2 der Öffentlichkeit übergeben zu können. Sie mögen im Originaltext hier folgen: 1 Ich empfinde es als eine schöne Pflicht, Herrn Dr. Leroy an dieser Stelle meinen besonderen Dank auszusprechen; nicht nur für das warme Interesse, das er dieser, auch ihn fesselnden Materie entgegenbringt, sondern auch für die, aus dem Bedürfnis nach internationaler Zusammenarbeit bewußt erstrebte Förderung der Studien eines deutschen Kollegen. 1 Anmerkung bei der Korrektur: Die Aufzeichnungen sind während der Drucklegung unserer Untersuchung in einer Arbeit des sc4wedischen Irrenarztes Hans Even s en (Die Geisteskrank· heit Vincent van Goghs, Allgemeine Zeitschrift f. Psych. u. psych.-gerichtl. Medizin, 84. Band, Festschrift Kraepelin) erschienen. Wir haben dennoch nicht davon abgesehen, sie hier im Origina.ltext mitzuteilen. 12 Aufzeichnungen der Irrenanstalt St. Rcmy. a Vincent sejourna l'Asile St. Paul du 8 mai I 889 au I6 mai I890. Dans le registre llO. 4 (des entrees et des Observations medicalcs) au folio 142 Oll lit dans la Iere colonne: "Nom, Prenoms, Age, Domicile et Profession de Ia Per sonne placee: Mieur V an Gogh - Vincent - age de 36 ans, Peintre, ne en a Hollande Groot Zandeel, habitant actuellement Arles (B. d. R.). Dans la 2e colonne: Nom, Prenoms, Age, domicile, profession et qualite de Ia personne qui fait le placement: M. van Gogh, Theodore, age de 32 ans, a ne en Hollande, habitant Paris (Seine), frere du malade. a Dans la 3• wlonne: Transcription du certificat du Medicin joint Ia demancte: Je soussigne, Medicin en chef de l'Höpital d'Arlcs, cert:ifie quc le nomme Van Gogh, Vincent, age dc 35 ans, a ete atteint il y a six mois dc Manie aigue avec Deiire generalise. A cette epoque, il s'cst coupe l'oreille. Actuellement, SOll etat s'cst beaucoup ameliore, mais cependant, il lui parait utilc d'etre soigne dans un Asilc d'alienes. Arles 7 Mai I 889 signe Dr. Urpar "Dans Ia quatrieme colonne il y a deux certificats: en haut de Ia page" Trans cription du Certificat de Vingt Quatre heures: Je soussigne, Dr. en medecine, Directeur de Ia Maison de Sante de Saint Remy certifie que le nomme V an Gogh, Vincent, age de 36 ans natif de Hollandc, a a et actuellement domicilie Arlcs (B. d. R.) en traitement l'hospice de cettc ville a ete atteint dc Manie Aigue avec hallucinations dc Ia vuc ct de a l'ouie qui l'ont porte se mutiler en se coupant l'oreille. Aujourd'hui, il paralt a revenu Ia raison, mais il ne se sent pas Ia forcc ct lc couragc dc vivre en libcrte et a demande lui-meme SOll admission dans Ia maison. J'estimc, en consequence a de tout ce qui precede que M. Van Gogh est sujet des attaqucs d'Epilepsie a fort eloignees [es UllCS des autres et qu'i[ y a [ieU de [e SOUmcttre Uile Obser Vation prolongee dans l'etablissemcnt. St. Remy le 9 mai I 889 Signe Dr. Peyron. Au milieu de Ia page, toujours dans Ia 4• colonnc: Ccrtificat dc quinzaine Je soussigne Dr. en medecine, Directeur de Ia Maisou de Sante de St. Remy certifie que le nomme Van Gogh, Vincent, age de 36 ans, natif de Hollande, entre le 8 Mai I889, attcint de manie aigue avec hallucinations de Ia vue et de ['ouie a eprouve une ame[ioration Sensible dans SOll etat, mais qu'i[ y a [ieu de le maintenir dans l'etablissement pour continuer son traitement. St. Remy 2 5 Mai I 889 Signe Dr. Peyron - 5° colonne: Date de !'Entree: Entre le 8 mai I 889 6• colonne: Notes mensuelles du Medicin de l'Asile: lc malade arrive dc l'Höpita.l a d 'Arles Oll il etait en traitement dcpuis plusieurs mois: il y etait entre Ia suite d'un acces de Manie Aigue qui etait survcnue brusquement, accompagnee d'hallucinations de la vue et de l'ouie qui le terrifiaient. Pendant cet acces, il se coupa l'oreille gauche, mais il ne conscrve de tout cela qu'un souvenir tres vague et ne peut s'en rendrc compte. Il nous raconte qu'une soeur de sa mere etait Epileptique et qu'on compte plusieurs cas dans sa famillc. Ce qui s'est passe chez ce .malade ne serait que la continuation dc ce qui c'est passe chez plusieurs membres de la famille. 11 a voulu reprendrc sa vie habituelle

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