Frank Hillebrandt . Georg Kneer Klaus Kraemer (Hrsg.) Verlust der Sicherheit? Frank Hillebrandt· Georg Kneer Klaus Kraemer (Hrsg.) Verlust der Sicherheit? Lebensstile zwischen Multioptionalitat und Knappheit Westdeutscher Verlag Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Verlust der Sicherheit? : Lebensstile zwischen Multioptionalitat und Knappheit / Frank Hillebrandt ... (Hrsg.) - Opladen ; Wiesbaden : Westdt. VerI., 1998 ISBN-13: 978-3-531-13228-0 e-ISBN-13: 978-3-322-83316-7 DOl: 10.1007/978-3-322-83316-7 AIle Rechte vorbehalten © Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen/Wiesbaden, 1998 Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Bertelsmann Fachinformation GmbH. Das Werk einschliemich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urhe berrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfaltigungen, Dbersetzun gen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. http://www.westdeutschervlg.de H6chste inhaltliche und technische Qualitat unserer Produkte ist unser Ziel. Bei der Produktion und Verbreitung unserer Bucher wollen wir die Umwelt schonen: Dieses Buch ist auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die EinschweiB folie besteht aus Polyathylen und damit aus organischen Grundstoffen, die weder bei der Herstellung noch bei der Verbrennung Schadstoffe freisetzen. Umschlaggestaltung: Horst Dieter Burkle, Darmstadt Inhaltsverzeichnis Vorwort ...................................................................................................... 7 RolfE ickelpasch Struktur oder Kultur? Konzeptionelle Probleme der soziologischen Lebensstilanalyse ............... 9 Petra Buhr Verschwimmende Grenzen Wo fangt Armut an und wann hOrt sie auf? .................................................. 26 Armin Nassehi Multikulturalitat und Knappheit .............................................................. 52 Gerd Nollmann Lebensstile zwischen Interaktion, Gruppe und Organisation Wie werden informelle Gruppen in der modemen Gesellschaft integriert? ............................................................................ 64 Ronald HitzlerlMichaela Pfadenhauer Eine posttraditionale Gemeinschaft Integration und Distinktion in der Techno-Szene .................................... 83 Klaus Kraemer Entwertete Sicherheiten Kulturelles Kapital im Zeichen verlctirzter Halbwertszeiten .................. 103 Thomas Muller-Schneider Subjektivitat und innengerichtete Modemisierung Erlebniskultur in der Metamorphose ..................................................... 13 7 Georg Kneer Statuspassagen und Karriere Neue Unsicherheiten im Lebensverlauf? ............................................... 158 Michael Brinkschroder Schwule in der Erlebnisgesellschaft ...................................................... 174 Sighard Neckel Kriihwinkel und Kabylei Mit Pierre Bourdieu durch Deutschlands Kultursoziologie ................... 206 Harald Funke/Markus Schroer Lebensstilokonomie Von der Balance zwischen objektivem Zwang und subjektiver Wahl ... 219 Hinweise zu den Herausgebem, Autorinnen und Autoren ..................... 245 Vorwort Der Begriff des Lebensstils hat gegenwiirtig Konjunktur. Aus Zeitgeist magazinen, Szene-Joumalen und Werbeanzeigen ist er seit langerem nicht mehr wegzudenken. Die kommerzielle Freizeit-, Konsurn- und Marketing Forschung verwendet ibn als einen ihrer Schltisselbegriffe. Zudem hat die Lebensstildebatte Eingang in die unterschiedlichsten Teildisziplinen der Soziologie gefunden, insbesondere in die Ungleichheitsforschung und die Kultursoziologie. Mehrfach ist bereits darauf hingewiesen worden, daB es sich bei dem Begriff nicht urn eine NeuschOpfung, sondem urn eine wiederentdeckte soziologische Kategorie handelt - bereits Anfang des Jahrhunderts haben sich etwa Max Weber, Georg Simmel und Thorstein Veblen fUr die unterscbiedlichen Stile des Lebens interessiert. Die Wiederaneignung des Lebensstilkonzepts in den letzten Jahren erfolgte jedoch keineswegs bruchlos. Vielmehr lassen sich eine Reihe von theoretischen Neuerungen und Innovationen ausrnachen. Moglicherweise liegt bier eine der Ursachen fUr den Aufschwung, den die soziologische Lebensstilforschung erlebt hat. Die haufige Verwendung des Lebensstilbegriffs hat nicht zu einer eindeutigen Definition gefiihrt. Sein theoretischer Stellenwert ist nach wie vor ungeklart. Sind multiple Lebensstile Indikator oder gar Ursache flir die Auflosung traditioneller Sozialstrukturen? Oder sind sie bloBe Folgeerschei nungen sozialer Ungleichheiten, die sich nach wie vor am pragnantesten mit Begriffen wie Klasse und Schicht beschreiben lassen? Stellen Lebensstile autonome, von okonomischen Verteilungsstrukturen unabhangige soziokul turelle Tatsachen dar oder stehen sie in engem Zusammenhang mit "harten" sozialstrukturellen Merkmalen? Diese und weitere Fragen weden in der Lebensstilforschung kontrovers diskutiert. Der Vi elfalt an Moglichkeiten, das individuelle Leben zu gestalten und zu stilisieren, steht angesichts von Massenarbeitslosigkeit, Armut und sozialer Deklassierung eine zumindest par tielle Verknappung dieser Moglichkeiten gegentiber. Damit stellt sich gerade flir die soziologische Gegenwartsanalyse das Problem, wie der Zusammenhang von sozialer Lage und individuellem Stil des Lebens zu konzeptionalisieren ist. Wahrend die einen behaupten, daB wir in einer Erlebnisgesellschaft oder Multioptionsgesellschaft leben, in der jeder jenseits von Klasse und Schicht 7 seinen Lebensstil mehr oder weniger frei wiihlen kann, halten andere derartige Diagnosen fUr obert1achliche Zeitgeistbliiten, die allenfalls fUr wohlfahrts staatliche Gesellschaften der 1980er Jahre eine gewisse Berechtigung haben. Die Beitrage des vorliegenden Bandes nehmen diese Kontroverse auf und fiihren sie fort. Dabei dokumentieren sie das breite Spektrum der Lebens stildebatte und tragen zugleich dazu bei, den Lebensstilbegriff als sozio logischen und gesellschaftstheoretischen Grundbegriff zu profilieren. Den AnstoJ3 zur vorliegenden Samrnlung von Aufsatzen gab eine Tagung, die yom Miinsteraner Forschungskolloquiurn Gesellschaftstheorie und Zeit diagnose am Institut fUr Soziologie und Sozialpadagogik der Universitiit Miinster veranstaltet wurde. Auf der Tagung wurde bei aller Heterogenitiit der dort vertretenen Ansatze deutlich, daB eine am Lebensstilbegriff ansetzende Sozialforschung einen bedeutenden Beitrag zur Erklarung des in den letzten Jahren zu beobachtenden gesellschaftlichen Wandels leisten kann. Die urn einige Beitrage erweiterte Aufsatzsamrnlung schlieJ3t an diese Diskussion an. Wir danken neben den Autorinnen und Autoren auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Forschungskolloquiums Gesellschaftstheorie und Zeit diagnose, die keinen eigenen Beitrag verfaJ3t, durch ihre rege Diskussions bereitschaft jedoch zorn Gelingen des vorliegenden Bandes beigetragen haben. Zudem danken wir dem Institut fUr Soziologie und Sozialpadagogik der Universitiit Miinster fUr den Druckkostenzuschu13 und Annette Pietsch fUr das Erstellen der Druckvorlage ganz herzlich. MiinsterlLeipzig, im Dezember 1997 Die Herausgeber 8 RolfE ickelpasch Struktur oder Kultur? Konzeptionelle Probleme der soziologischen Lebensstilanalyse Wohl kaum ein anderer Begriffhat seit Beginn der 80er Jahre in der bundesre publikanischen Offentlichkeit einen ahnlichen Boom erlebt wie der des Lebens stils. Ablesen Hillt sich dies an seiner Verwendung in den Medien, in Szene Joumalen und Werbeanzeigen, aber auch im sozial- und kulturwissenschaftli chen Diskurs. Das Zauberwort 'Lebensstil' -in dem Kunst und Dasein zu einem Wort verschmelzen - bezieht, wie mir scheint, seine Faszinationskraft aus der Suggestion einer freien Machbarkeit der eigenen Lebensumstande und einer Moglichkeit des Aussteigens aus gesellschaftlichen Zwlingen, frei nach dem Punk-Motto "Hau weg den alten ScheiB!" In einer Welt, in der die kollektiven und gruppenspezifischen Sinnquellen (Religion, Klasse, Schicht, Familie) zunehmend versiegt und entzaubert sind, scheint die vollstandige Autonomisierung des Subjekts ein greitbares Ziel zu sein. An die Stelle kulturell vordefinierter Identitatsmuster tritt in der indivi dualisierten und enttraditionalisierten Industriegesellschaft die "freie Setz barkeit im Existenzdesign, der genuJ3volle Einsatz von Mitteln der Lebensge staltung" (KellnerlHeuberger 1988: 335), vorwiegend vermittelt fiber Mode, Medien, Musik und Outfit. V orreiter dieses Trends zur Selbst-Stilisierung sind die "altemativen" Milieus, die manieristischen und postmodemen Ju gendkulturen in den GroJ3stadten. Die hier kreierten Stiltypen werden jedoch in der Regel schnell von den bilderfixierten Massenmedien aufgegriffen und - losgelost von den lokalen Entstehungskontexten -bis in die letzte Dorfdis kothek weitergereicht, bis sie schlie13lich von etablierten Kreisen entdeckt und als modisches Accessoire oder wohlfeiles Distinktionsmerkmal einge setzt werden. Der Anspruch auf personliche Autarkie und Selbststilisierung in der ent traditionalisierten Gesellschaft hat, wie Gerhard Schulze (1992) in Kritik an der Individualisierungsthese Ulrich Becks plausibel aufgezeigt hat, weder ei ne Auflosung des sozialen Bandes noch ein "standardisierte(s) Kollektivda sein der vereinzelten Massen-Eremiten" (Beck 1986: 213) zur Folge. Viel- 9 mehr erzeugen die umfassenden Wahl- und Handlungsfreiheiten bei den aus allen kulturellen Verbindlichkeiten freigesetzten Individuen ein Ordnungs und Orientierungsbedfufnis, das sie in der bereitwilligen Ubemahme von in tersubjektiven Erlebnismustem, Stiltypen und milieuspezifischen Existenz formen befriedigen. Das Bediirfnis nach Orientierungssicherheit stellt dem nach das Einfallstor flir kollektive Schematisierungen dar. Ein Blick auf Pro duktwerbung und Marketingstrategien mag dies verdeutlichen. Auf dem Pla kat einer Bettenfirma wird in Bild und Text gezielt der Lebensstil einer ju gendlichen Fun-Gesellschaft angesprochen. "1m Bett ist aIles erlaubt", hei13t es. "AuBer Langeweile". Die in einem Rahmen von Erlebnishaftem offerierte "Lifestyle-Bettwasche", so wird suggeriert, garantiert Fun, indem sie ihren Besitzer als Mitglied der Fun-GeseIlschaft ausweist. "Fun entsteht", so Ulrich Oevermann, "durch Subsumtion unter einen vorgezeichneten Lebensstil." (Zit. in: Voigt 1994: 67) Eine Einrichtungsfmna prasentiert in ihrem Katalog acht Lebensstiltypen, die sie mit ihrem Mobelprogramm bedienen will: von den "weltoffenen As theten" iiber die "jugendlichen Zeitgeistlichen" und die "verwohnten Repra sentativen" bis zu den "modemen Klassischen". Den einzelnen Lebensstilty pen sind dabei abgebildete W ohnungseinrichtungen zugeordnet. Auch hier gilt die Subsumtionsregel: Beirn Kaufer wie bei kiinftigen Besuchem soIl kein Zweifel iiber die Zugehorigkeit zu einem vordefinierten, identitatsstif tenden Lebensstil aufkommen: Zeige mir deine Wohnung, und ich sage dir, wer du bist! Lebensstilsuggestionen werden, wie Schulze aufzeigt, bei immer mehr Produkten als asthetische Gebrauchsanleitung mitgeliefert, urn im Dickicht des Erlebnismarktes das Chaos abzuwehren. In der UberfluB- und Erlebnis gesellschaft dient der Lebensstil als "Software flir die emotionale Selbstpro grammierung" (Schulze 1992: 543), als "Drehbuch fUr die Inzenierung von Gliick" (Schulze 1993: 353). Dauerhafte Orientierung kann nun freilich auch die Subsumtion unter einen vorgezeichneten Lebensstil nicht vermitteln. Dies hat seinen Grund in einer inneren Widerspruchlichkeit von Lebensstilen in der Modeme. Sie befriedigen gleichzeitig zwei gegenlaufige Bediirfnisse der Menschen in individualisierten und hochdifferenzierten GeseIlschaften: den Anspruch auf personliche Autarkie und - kompensatorisch dazu - das Be diirfnis nach sozialer Einbindung. Ahnlich hatte schon Georg Simmel flir die Mode konstatiert, daB sie zugleich das "Bediirfnis nach sozialer Anlehnung" und das "Unterschiedsbediirfnis" des modemen Menschen befriedigt (vgl. 10 Simmel 1986: 181). In dieser intemen Paradoxie liegt der Grund flir die im mer kiirzeren Halbwertzeiten der Lebensstile. Der unablassige Strom von Moden und Trends ist, wie Simmel am Beispiel groBstadtischer Lebenswei sen gezeigt hat, Ausdruck der "spezifisch modemen Treulosigkeit auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen, der Beziehun gen"( ebd.). Eben diese biographische und sozialstrukturelle Fragilitat und Unstetig keit der 'neuen', posttraditionalen Vergemeinschaftungsformen war das Aus gangsproblem flir die soziologische Milieu- und Lebensstilforschung in den 80er Jahren. Marketingstrategen, Wahlkampfer, Sozialplaner erwarteten, nachdem die "lebensfemen Raster" des Klassen- und Schichtenmodells an Erklarungskraft eingebill3t hatten, von soziologischen Milieu- und Lebens stilansatzen Informationen tiber relativ stabile Verhaltens-, Einstellungs- und Praferenzmuster mit groBerer prognostischer Gtiltigkeit als Grundlage flir ei ne verlaBliche Zielgruppenplanung. Der Boom an Milieu- und Lebensstilstu dien verdankt sich also, wie Hradil (1992: 33) zu Recht feststellt, "nicht so sehr akademischen, als meist recht handfesten praktischen Interessen". Vor allem die konsumsoziologischen Studien des SINUS-Instituts aus den 80er Jahren (BeckerlNowak 1982, 1984, 1985) und die im Kontext der Wahlforschung entstandene Lebensstilstudie von Gluchowski (1987) sind deutlich von diesem direkten Verwendungsinteresse gepragt. Beide Konzepte gehen von einem Bedeutungsverlust sozialstruktureller Faktoren und einer zunehmenden Wichtigkeit soziokultureller Orientierungen (Lebensziele, Werthaltungen, Einstellungen, Lebensweisen) flir die individuellen Kauf und Wahlentscheidungen aus. Die traditionellen Schichtenmodelle werden daher in beiden Ansatzen durch eine Klassifikation von "Milieus" (Becker/ Nowak) bzw. "Lebensstilen" ersetzt, zu deren Konstruktion neben sozial strukturellen Merkmalen eine bunte Vielfalt soziokultureller Dimensionen herangezogen wird. Das Manko derartiger Milieu- bzw. Lebensstilmodelle liegt darin, daB "der groBe Umfang der Definitionskriterien ... zu einem er heblichen Verlust an theoretischer Substanz" (Konietzka 1995: 29) flihrt. Aufgrund ihrer "nichts ausschlieBenden Komplexitat" (Mtiller 1992: 48) mo gen derartige Konzepte die alltagsnahe Deskription komplexer Lebenswelten erlauben, die "beliebige Mischung an Kategorien" (Konietzka 1995: 31) schlieBt jedoch Aussagen tiber die Beziehung zwischen den Komponenten, vor allem tiber die komplexen Bedingungszusammenhange zwischen sozial strukturellen und soziokulturellen Merkmalen, zwischen Merkmalen der "so- 11